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Der Aufbau des Buches
ОглавлениеSchon diese fünf exemplarischen Punkte, die allesamt in der Geschichte von Franz Müller zusammenlaufen, verweisen auf die zentrale Bedeutung von Mobilität und Kommunikation in der Geschichte der Moderne und auf den tiefgreifenden Wandel, der diese Lebensbereiche in jener Zeit erfasste. Hier setzt auch dieses Buch an. Es will die gesellschaftliche Prägekraft mobiler und kommunikativer Praktiken verdeutlichen und die vielschichtigen technischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen dahinter beleuchten. Die Struktur des Buches spiegelt diesen Anspruch wider. Auf diese Einleitung folgt zunächst ein theoretischer Abschnitt, der verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven auf menschliche Mobilität und Kommunikation aufzeigen und anhand dessen auch Fragestellungen und Erkenntnisinteressen, die eine historiografische Untersuchung dieser Lebensbereiche betreffen, entwickeln will. Im Kern beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Frage, warum man sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht überhaupt mit Mobilität und Kommunikation beschäftigen sollte und wie eine solche Beschäftigung aussehen könnte.
Die folgenden acht Kapitel widmen sich dann dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Anstatt sich chronologisch oder entlang technologischer Entwicklungen durch das Thema zu arbeiten, folgen die einzelnen Abschnitte acht transformativen – teilweise disruptiven – Großprozessen, die die Geschichte menschlicher Mobilität und Kommunikation im Untersuchungszeitraum und darüber hinaus entscheidend geprägt haben. Diese übergreifenden Prozesse hängen zumeist nicht an einzelnen Medien, Praktiken oder technologischen Errungenschaften, sondern verweisen auf die tieferen qualitativen Veränderungen im Bereich von Mobilität und Kommunikation und damit letztlich im Kontext menschlichen Zusammenlebens.
Einen ersten solchem Prozess stellt die zunehmende Verregelmäßigung und die damit einhergehende bessere Planbarkeit von vielen Kommunikations- und Transportabläufen dar. Verkehrsmittel wie die Kutsche oder später das Dampfschiff und die Eisenbahn operierten immer stärker auf festen Routen und zu festgelegten Zeiten. Sie verkehrten nach Fahrplan, wurden dadurch berechenbarer und fügten sich in logistische Ketten ein. Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte die Nutzbarmachung der Dampfkraft für das Verkehrswesen.
Der folgende Abschnitt beleuchtet den Prozess der Dematerialisierung von Informationsflüssen und die damit verbundene Entkoppelung von Kommunikation und Transport. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fand man effiziente Wege, um Informationen in optische oder elektrische Signale zu encodieren und zu verschicken. Diese Inhalte konnten sich frei von den Beschränkungen materiellen Transports bewegen und waren daher zumeist schneller als dieser. Das eröffnete unter anderem neue Möglichkeiten zur Kontrolle von Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn oder dem Dampfschiff.
Einen dritten zentralen Prozess der modernen Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte stellt die zunehmende Kommodifizierung von Informationen dar. Nachrichten wurden mehr und mehr zu Waren, mit denen man handeln konnte. Gleichzeitig wurde dieser Nachrichtenhandel, der seinen Anfang bereits in der Frühen Neuzeit genommen hatte, immer globaler. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang nicht nur das Zeitungswesen, sondern auch die im 19. Jahrhundert entstehenden Nachrichtenagenturen, die bald den weltweiten Nachrichtenhandel dominieren sollten.
Solche überregionalen, oft globalen Austauschprozesse machten eine zunehmende Standardisierung ihrer Normen und Grundlagen notwendig. Was Ende des 18. Jahrhunderts im revolutionären Frankreich mit der Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten begann, ergriff bald auch die Bereiche Kommunikation und Transport, die durch ihren verbindenden Charakter ganz besonders auf geteilte Standards angewiesen sind. Unter anderem die im ersten Abschnitt besprochene Verregelmäßigung von Transportprozessen machte zudem auch eine Vereinheitlichung der Zeitmessung wünschenswert.
Ein fünfter Abschnitt untersucht Prozesse der Kanalisierung von Mobilität und Kommunikation. Um immer größere Ströme von Personen und Waren überblicken und effektiv kontrollieren zu können, mussten diese entlang bestimmter Routen und Kontrollpunkte geleitet werden. So ermöglichte ein Bauwerk wie etwa der Sueskanal einerseits höhere Mobilität, erlaubte gleichzeitig aber auch einen verbesserten Zugriff auf die sich bewegenden Waren und Menschen. Die Kontrollen dienten unter anderem dem Schutz und der Selbstvergewisserung der in dieser Zeit entstehenden Nationalstaaten.
Schwerer in einen einzigen prozessualen Begriff zu fassen sind die Entwicklungen, die im darauffolgenden Abschnitt behandelt werden. Es geht um die scheinbar gegenläufigen und doch eng miteinander verzahnten Prozesse von Kollektivierung und Individualisierung,um Masse und Individuum. Sowohl Mobilitäts- wie auch Kommunikationspraktiken waren im Untersuchungszeitraum geprägt von beiden Phänomenen: Massenverkehr und Massenkommunikation auf der einen Seite, Individualverkehr und Einzelkommunikation auf der anderen.
Der siebente Abschnitt spürt der Visualisierung nach. Neben Texten spielten im Untersuchungszeitraum vermehrt auch bildliche Inhalte in Kommunikationsprozessen eine wichtige Rolle. Fortschritte in der Drucktechnik und das Aufkommen der Fotografie machten das technisch möglich. Bilder wirkten anders als Worte und erfüllten gänzlich andere Kommunikationsbedürfnisse. Sie konnten über große Distanzen hinweg eine gefühlte Nähe herstellen und vermittelten Authentizität und Glaubhaftigkeit.
Ein letzter Abschnitt widmet sich dem hochaktuellen Prozess der Digitalisierung und versucht dieses gegenwärtige Phänomen historisch zu verorten. Digitalisierung ist im Kern nichts anderes als die Überführung von Informationen in zählbare Werte und deren rechnerische Weiterverarbeitung. Nach bescheidenen Anfängen im 19. Jahrhundert, erlangte dieser Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Dynamik und begann eine ungeahnte gesellschaftliche Prägekraft zu entfalten, die im Wesentlichen von der Entwicklung leistungsfähiger Rechenmaschinen und deren sukzessiver Vernetzung getragen wurde und auch heute noch wird.
Ein solcher Fokus auf transformative Prozesse hat natürlich auch blinde Flecken. Wichtige Inhalte und Themen der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte haben in diesem Zugang nicht den ihnen vielleicht zustehenden prominenten Platz gefunden und hinterlassen unbefriedigende Leerstellen. Beispielsweise konnten Migrationsbewegungen, die eine so prägende Rolle in der Geschichte der Moderne einnehmen, nicht wirklich systematisch erörtert werden. Sie tauchen an vielen Stellen im Buch auf, nehmen analytisch aber keine zentrale Position ein. Zudem wird kaum einmal gezielt über den sich im 19. Jahrhundert intensivierenden Tourismus gesprochen oder über die damit oft in Verbindung stehende Praxis des Reiseberichts, der auch in seiner Funktion als historische Quelle Beachtung verdient hätte. Überhaupt kommen Reiseerfahrungen, die unter anderem in kulturhistorischen Zugängen zur Mobilität zentral sind,[6] in diesem Buch zu kurz. Und auch zu einzelnen Trägertechnologien oder Mobilitätserscheinungen hätte man viel mehr sagen können: über die Bedeutung des Straßenbaues, über das nordenglische Kanalsystem[7] oder vielleicht über das Grand Hotel.[8] Zusätzlich dazu werden jeder Leserin und jedem Leser entlang der eigenen Interessen weitere Leerstellen auffallen. All diese Auslassungen sind schmerzlich, ließen sich aber aus dem prozessualen Zugang des Buches heraus schwerlich vermeiden. Umso weniger kann und will diese Einführung einen Anspruch auf eine vollständige Abbildung der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte der Moderne erheben.