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I. Einleitung Mord in der Eisenbahn

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Franz Müller hatte sich seine Ankunft in New York wahrscheinlich anders vorgestellt. Er hatte sich am 15. Juli 1864 in London auf der Victoria eingeschifft. Am Abend des 25. August erreichte der Segler schließlich die Lower Bay vor New York. Während der Fahrt durch die Bucht in Richtung Staten Island begegnete die Victoria einem Ausflugsschiff, dessen Passagiere sich im Vorbeifahren lautstark nach dem „Mörder "Müller“ erkundigten.[1] Dieser bekam das aber wohl nicht mit. Genauso wenig schien sich Franz Müller über die tausenden Schaulustigen zu wundern, die den Strand von Staten Island säumten und die Victoria begrüßten. Umso erstaunter war der junge Mann, als er schließlich noch an Bord des Segelschiffs von zwei Polizisten – einem Sergeant von Scotland Yard und einem Beamten der New Yorker Polizei – festgenommen wurde. Als Müller fragte, was ihm vorgeworfen werde, hörte er, dass man ihn in London des Mordes an dem Bankangestellten Thomas Briggs verdächtigen würde.

Der Fall hatte Anfang Juli in London und weit darüber hinaus für großes Aufsehen gesorgt.[2] Am Abend des 9. Juli 1864 hatte der 69-jährige Thomas Briggs am Bahnhof Fenchurch in der City of London einen Zug der North London Railway Richtung Hackney genommen. Nur wenige Minuten später stiegen in Hackney Wick zwei jüngere Bankangestellte zu und fanden Blut am Boden des Abteils, an den Fenstern und der Tür vor. Sie informierten den Schaffner. Das Abteil wurde abgesperrt, der Wagon abgehängt und in den Hauptbahnhof der North London Railway in Bow geschickt, während der Rest des Zuges schließlich weiter nach Hackney fuhr. Die Polizei stellte im Abteil Briggs Gehstock und seine leere Ledertasche sowie einen Hut sicher, der offensichtlich nicht ihm gehört hatte. Den schwer verletzten, nicht ansprechbaren Thomas Briggs fand man neben den Gleisen zwischen den Bahnhöfen Bow und Hackney Wick. Briggs war auf den Kopf geschlagen worden. Danach hatte man ihn einfach aus dem Zugfenster geworfen. Er verstarb, kurz nachdem man ihn gefunden hatte.

Schon früher hatte es immer wieder Verbrechen in der Eisenbahn gegeben. Reisende waren bestohlen, in manchen Fällen auch ausgeraubt, bedroht oder belästigt worden. Nun aber war das erste Mal in der britischen Eisenbahngeschichte ein Mord in einem Zug passiert. Viele Reisende und Pendler waren entsprechend beunruhigt. Unter anderem auch deshalb setzte Scotland Yard viel daran, das Verbrechen schnell aufzuklären. Inspektor Richard Tanner wurde mit dem Fall betraut. Der Täter hatte Briggs goldene Taschenuhr und – wohl versehentlich – auch Briggs Hut mitgenommen. Die eigene Kopfbedeckung hatte er am Tatort zurückgelassen. Die Polizei konnte die Uhr bald bei einem Juwelier mit dem klingenden Namen John Death sicherstellen. Death hatte sie nach eigener Aussage von einem bleichen jungen Mann gekauft, den er für einen Deutschen hielt. Wohl auch angespornt durch die ausgeschriebene Belohnung von £300 meldete sich bald ein Kutscher namens Jonathan Matthews, der den auffälligen Hut des Täters wiedererkannt haben wollte. Durch seine Aussage fand die Polizei Namen und Adresse des Verdächtigen heraus. In seiner Unterkunft fand sie ihn aber nicht vor. Nach Auskunft seiner Vermieterin hatte sich Franz Müller bereits auf dem Segelschiff Victoria nach Amerika aufgemacht.

Eine funktionierende Telegrafenverbindung über den Atlantik sollte erst zwei Jahre später in Betrieb genommen werden. Wollte er den Verdächtigen nicht entkommen lassen, so hatte Inspektor Tanner nur die Möglichkeit, sich auf einem schnelleren Schiff nach New York aufzumachen. Gemeinsam mit dem Sergeant, der später auch die Verhaftung vornehmen sollte, und den beiden Zeugen Death und Matthews bestieg der Inspektor am 20. Juli – also fünf Tage nach Abfahrt der Victoria – das Dampfschiff City of Manchester und kam in New York sogar drei Wochen vor Müller an. Während der Wartezeit verbreitete sich in Nordamerika die Kunde über den spektakulären Mordfall in London, die transatlantische Verfolgungsjagd und die bevorstehende Ankunft des Mordverdächtigen in New York. Der Kapitän der Victoria wurde bei Einfahrt in die Lower Bay von einem Lotsen über seinen Passagier informiert. Gleichzeitig telegrafierte man vom Leuchtturm in Sandy Hook nach New York, dass die Ankunft des Seglers kurz bevorstehe – daher die Rufe vom Ausflugsschiff und die Schaulustigen am Strand von Staten Island. Franz Müller wurde schließlich von den USA an das Vereinigte Königreich ausgeliefert, zurück nach London gebracht und dort im Old Bailey vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung übernahm ein Anwalt, der von der German Legal Protection Society gestellt wurde. Dennoch wurde Müller des Mordes für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und schließlich am 14. November 1864 öffentlich erhängt.

Die britischen Medien berichten zwischen Juli und Oktober 1864 ausführlich über den Fall, der aus Sicht der Zeitgenossen sicherlich zu den aufsehenerregendsten Mordfällen im Großbritannien der 1860er-Jahre gezählt werden darf. Der Fall hatte alles, was es für eine spektakuläre Berichterstattung brauchte: einen brutalen Mord an einem ungewöhnlichen Ort, einen ausländischen Tatverdächtigen, eine transatlantische Verfolgungsjagd und jede Menge diplomatischer Verwirrungen – sowohl im Rahmen des Auslieferungsgesuchs an die Vereinigten Staaten wie auch hinsichtlich des Interventionsversuchs von Seiten des preußischen Königs Wilhelm, der mittels Telegramm an Königin Victoria erfolglos versuchte, die Hinrichtung Müllers verschieben zu lassen. Jenseits des zeitgenössischen Sensationalismus, der später in Kapitel III.3 im Zusammenhang mit der penny press nochmals kurz aufgegriffen wird, bietet diese ungewöhnliche Episode aber auch einen guten Einstieg für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Mobilität und Kommunikation im langen 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Der Fall führt viele zentrale Aspekte der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte zusammen und macht sie in ihrer Bedeutung und Prägekraft für die zeitgenössischen Gesellschaften spürbar.

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