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5. Globalgeschichtliche Perspektiven

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Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich zentral mit dem Menschen als sozialem Wesen, das sich in den verschiedensten Formen von Gemeinschaften organisiert. Solche sozialen Gebilde gehen aus den Verbindungen bzw. aus den Austauschprozessen hervor, die Menschen untereinander unterhalten. Diese Verbindungen zwischen Individuen und Gruppen sowie ihre Entwicklung durch die Zeit sind Grundbeobachtungselemente einer Geschichtswissenschaft, die das Denken und Handeln historischer Akteure erklären und verstehen will. Allerdings ist dieses Interesse an sozialen Verbindungen für jede Wissenschaft vom Menschen so grundlegend, dass es kaum einmal explizit gemacht wird. Die Verbindungen, die Menschen bewusst und unbewusst zueinander unterhalten, können ganz unterschiedlicher Natur sein – emotional oder pragmatisch, freiwillig oder erzwungen, bereichernd oder belastend. Und sie können unterschiedlichste Distanzen überbrücken. Angeregt auch durch die Globalisierungserfahrungen, die viele Menschen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in ganz intensiver Form machen, interessieren sich die Geistes- und Sozialwissenschaften mittlerweile zunehmend für Verbindungen, die sich über weite Entfernungen erstrecken und dabei räumliche, nationale oder kulturelle Grenzen überwinden. In der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten der Forschungsbereich der Globalgeschichte entwickelt, der sich spezifisch mit solchen globalen oder transregionalen Verbindungen und ihrer Rolle in der Geschichte auseinandersetzt.

Christopher Baylys grundlegendes Werk über die Geburt der modernen Welt trägt im englischen Original den Untertitel „Global connections and comparisons“.[40] Daran direkt oder indirekt anschließend ist in der Folge häufig der historiografischer Zugang der Globalgeschichte beschrieben worden, in dessen „Mittelpunkt […] grenzüberschreitende Prozesse, Austauschbeziehungen, aber auch Vergleiche im Rahmen globaler Zusammenhänge“[41] stehen würden, wie Sebastian Conrad es in seiner deutschsprachigen Einführung in die Globalgeschichte zusammenfasst. Patrick O’Brien hat dieselbe Definition in seinem Prolegomenon zur ersten Ausgabe des Journal of Global History im Jahr 2006 unternommen.[42] Versteht man den Vergleich als wissenschaftliche Methode und damit als ein Untersuchungsinstrument, so bleiben globale Verbindungen als grundlegende Untersuchungseinheiten der Globalgeschichte übrig. Sie sind die Bausteine für jede Form von transregionalem Kontakt, Austausch und Vernetzung. Ein zentrales Interesse der globalhistorischen Forschung gilt dabei Fragen nach der Entstehung solcher Verbindungen und nach ihrer Bedeutung für die historischen Akteure. Sie werden als geschichtsmächtig identifiziert und hinsichtlich ihrer Bedeutung innerhalb der wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Entwicklungszusammenhänge einer bestimmten Region oder Zeit untersucht. Im Zentrum eines solchen Zugangs steht die Überzeugung, dass wir das Denken und Handeln historischer Akteure – und damit die Geschichte selbst – nicht verstehen und erklären können, wenn wir nicht auch die überregionalen Verbindungen, ihre lokalen Manifestationen und deren Zusammenspiel untersuchen.

Transregionale Verbindungen sind somit die Grundbeobachtungselemente der Globalgeschichte. Dass die Mobilität von Menschen, Waren und Informationen in diesem Zusammenhang ganz entscheidend ist, bedarf kaum einer weiteren Erklärung. Transport- und Kommunikationsmittel sind die Träger globaler Verbindungen. Sie etablieren und unterhalten globale Konnektivität. Das Studium von Transport- und Kommunikationstechnologien, ihrer Entwicklung und ihrer Nutzung spielt daher für die Globalgeschichte eine grundlegende, kaum zu hintergehende Rolle. Das Interesse der Globalgeschichte beschränkt sich dabei nicht auf Mobilitätspraktiken von potentiell weltumspannendem Charakter wie zum Beispiel der Dampfschifffahrt oder der Telegrafie. Sie blickt genauso auf Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die in regionalen oder nationalen Kontexten zur Anwendung kamen, insgesamt aber in größere Mobilitätszusammenhänge und globale logistische Ketten eingebettet waren. Die Eisenbahngeschichte hält diesbezüglich besonders viele anschauliche Beispiele bereit, wie etwa in Kapitel III.1 zu sehen sein wird.

Die globalhistorische Beschäftigung mit Mobilität und ihren Trägermedien ist dabei von einem Verständnis globaler Verbindungen geprägt, das zunehmend analytischer und differenzierter wird. Lange wurden auch in der Globalgeschichte Verbindungen hauptsächlich von ihren Enden her gedacht. Untersuchungen fokussierten auf die Menschen, Orte oder Dinge, die in Verbindung miteinander standen oder in Verbindung gebracht wurden. Dort suchte man nach den Effekten von Kontakt und Austausch und studierte selbige als Faktoren menschlichen Denken und Handelns. Der Schwerpunkt solcher Arbeiten lag hauptsächlich auf dem Verbundenen, nicht auf der Verbindung selbst. Verbindungen wurden oft als quasi neutrale Zwischenglieder gesehen. Zudem war die globalgeschichtliche Forschung lange vor allem auf den Nachweis einer Verbindung zwischen Gegenständen konzentriert, die man bisher als nicht verbunden wahrgenommen hatte. Das hieß in der Praxis häufig, dass globale Verbindungen binär gedacht wurden, als existent oder nicht existent. Mittlerweile hat sich der Blick der Globalgeschichte auf ihre hauptsächlichen Untersuchungseinheiten aber verfeinert. Aktuelle Studien nehmen globale Verbindungen als eigenständige historische Phänomene ernst, die einen eigenen Raum und eine eigene Zeit aufweisen. Sie sind bemüht, Verbindungen als Mediatoren zu betrachten, die selbst einen prägenden Einfluss auf die jeweiligen Austauschprozesse und damit auf das Verbundene haben. Außerdem hat die globalhistorische Forschung erkannt, dass ein binäres Verständnis von Verbindungen der Komplexität historischer Sachverhalte nicht gerecht werden kann. Verbindungen treten immer im Plural auf und verhalten sich zueinander. Beziehungen zwischen einzelnen Akteuren und deren Gemeinschaften basieren immer auf einem ganzen Bündel verschiedener Verbindungsformen.

Die Globalgeschichte fragt daher nicht bloß, welche Transport- und Kommunikationssysteme globale Vernetzung ermöglichen, sondern sie interessiert sich für die verschiedenen Formen von Mobilität, die sich daraus ergeben. Die Art und Weise, wie Verbindungen als Mediatoren wirken, speist sich zu einem großen Teil aus den Mobilitätsformen, die diese Verbindungen stützen. Dampfschiffpassagen können hier als Beispiel dienen. Im späten 19. Jahrhundert dauerte eine Atlantiküberfahrt auf einem Dampfer zwischen sieben und zehn Tage. Zwischen Europa und Asien war man mehrere Wochen unterwegs, nach Australien gerne zwei Monate und mehr. Während dieser Zeit lebten Passagier und Crew auf dem engen Raum des Schiffes zusammen und waren in ein besonderes soziales Gewebe eingebunden. Die Schiffspassage war für viele ein entsprechend prägendes, einschneidendes Erlebnis, das ihre Sicht auf Abfahrts- und Ankunftsort veränderte. Der Schiffsverbindung fiel damit die Qualität eines Mediators zu. In abgeänderter Form lässt sich das für jede mediatisierte Verbindung festhalten. Ähnlich ist es hinsichtlich der Pluralität von Verbindungen, die sich ebenfalls in unterschiedlichen Mobilitäten widerspiegelt. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann man sagen, dass eine Dampfschiffpassage ihren besonderen Charakter erst in der Zusammenschau mit anderen Formen von Transport und Kommunikation bekommt. Sie war eingebettet in ein Ensemble von Segelschiffüberfahrten, weltweiten Telegrafenkabeln oder auch der Unmöglichkeit anderer Verbindungen, die Wasserflächen nicht überqueren können. Die Dampferpassage hat eine bestimmte Rolle in diesen vielfältigen Verbindungsbündeln. Die Globalgeschichte will auch dieser spezifischen Bedeutung in der Pluralität von Verbindungen nachspüren.

Die Fragen, die sich daraus für die Globalgeschichte ergeben, sind vielschichtig. Die Freilegung historischer Transport- und Kommunikationsstrukturen von globaler Bedeutung und die Frage nach ihrer Funktionsweise und ihrer Leistungsfähigkeit spielen eine grundlegende Rolle. Vor allem aber interessiert sich die Globalgeschichte dafür, welches Potential als Mediatoren bestimmte Mobilitätstechnologien und -praktiken entfalten konnten. Wie haben sie den Charakter einer Verbindung mitgeformt? Welche Inhalte wurden hauptsächlich transportiert bzw. gegenüber anderen Inhalten privilegiert? In welche technologisch-sozialen Ensembles waren bestimmte Transport- und Kommunikationssysteme eingebettet? Gerade diese letzte Frage ist beispielsweise auch in Valeska Hubers anschaulicher Studie zur Geschichte des Sueskanals von entscheidender Bedeutung. Darin findet Hubers zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähntes Konzept der multiple mobilities konkrete Anwendung im Rahmen einer klar umrissenen Fallstudie. Die Historikerin untersucht den 1869 eröffneten Sueskanal, der gemeinhin als verkehrstechnische Entwicklung von größter Bedeutung gilt, aus einer weniger fortschrittsorientierten, differenzierten Perspektive. Sie zeigt, wie der Kanal durch die Verkürzung der Route zwischen Europa und Asien Transport- und Kommunikation beschleunigte, gleichzeitig aber selbst zu einer Zone der Entschleunigung oder teilweise sogar des Stillstands wurde. Huber zeichnet die Beziehungen der Dampfschifffahrt durch den Kanal zu anderen Formen des Transports wie zum Beispiel Kamelkarawanen oder einheimischen Dhaus nach. Dadurch ebenso wie durch die Betonung verschiedenster Reisearten und -erfahrungen durch den Kanal bringt sie Leben in ihre Idee multipler Mobilitäten und kann eindrucksvoll zeigen, dass der Sueskanal den Schiffsverkehr eben nicht nur vereinfacht und beschleunigt, sondern auf viel komplexere Weise geprägt hat.[43]

Ein anderes Beispiel für eine globalgeschichtliche Auseinandersetzung mit Transport und Kommunikation findet sich in meiner eigenen Arbeit zur Entstehung eines globalen Telegrafennetzwerks im 19. Jahrhundert. Darin habe ich zum einen versucht, die Struktur dieses Netzes nachzuzeichnen und herauszuarbeiten, was es hieß, telegrafisch angebunden zu sein oder nicht. Darüber hinaus wollte ich aber vor allem wissen, was globale telegrafische Kommunikation verbindungsgeschichtlich bedeutet hat, welche Informationen eigentlich telegrafisch übermittelt wurden und welche nicht, welche unmittelbaren Auswirkungen eine solche Auswahl und die damit verbundene Komprimierung der versendeten Inhalte hatte. Es hat sich im Verlauf der Untersuchung herausgestellt, dass telegrafische Verbindungen einen ganz deutlichen Charakter als Mediatoren hatten und durch ihre spezifische Funktionsweise nachhaltig auf die übermittelten Inhalte und deren Wahrnehmung durch die Korrespondenten wirkten.[44]

Es versteht sich von selbst, dass keine der vier hier vorgestellten Perspektiven auf die Geschichte der Mobilität die eine richtige ist; dass keine Forschungsrichtung wichtigere oder relevantere Fragen stellt als ein andere. Die Liste der bestenfalls kursorisch vorgestellten Ansätze und der Versuch, deren Zugang zur Mobilitätsgeschichte aus ihren breiteren Erkenntnisinteressen herzuleiten, müssen exemplarisch bleiben. Es geht nicht darum, einen vollständigen Überblick darüber zu geben, aus welchen Winkeln man auf die Geschichte von Transport und Kommunikation blicken kann, um am Ende dann ein möglichst komplettes Bild zu haben. Viel wichtiger ist es nachzuzeichnen, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen ein analytisches Verständnis der menschlichen Mobilität, ihrer historischen Entwicklung, der technischen Grundlagen und der verwobenen kulturellen Praktiken für das Verständnis menschlicher Gesellschaften grundlegend ist. In diesem Zusammenhang wurden hier nur vier exemplarische Zugänge vorgestellt. Jenseits dieser Auswahl sind aber viele andere Fragenkomplexe aktuell und hochrelevant. Die Umweltgeschichte interessiert sich für den historischen Zusammenhang zwischen Mobilität, Natur und Umwelt. Fragen der Nutzbarmachung von Energiequellen sind hier beispielsweise von zentraler Bedeutung. Die Emotionsgeschichte wiederum untersucht die emotionalen und psychopathologischen Auswirkungen von Mobilität und greift damit ein für das frühe 21. Jahrhundert hochaktuelles Thema auf. All diese und viele andere Zugänge zur Geschichte der Mobilität seit dem 18. Jahrhundert werden in den folgenden Kapiteln immer wieder in miteinander verwobener Form auftauchen. Sie zeugen von der Prägekraft und historischen Wirkmächtigkeit des Gegenstands.

Mobilität und Kommunikation in der Moderne

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