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Mobilität und Kommunikation
ОглавлениеSchauen wir zunächst einmal auf Franz Müller selbst. Er wurde im Jahr 1840 in einem kleinen Ort im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach geboren. Müller lernte das Schneiderhandwerk und war als Geselle hochgradig mobil. Im Mai 1859 kam er nach München, zog 1861 aber weiter nach Köln. Im März des Jahres 1862 machte er sich nach London auf, wohl schon mit der Absicht, von dort nach Amerika auszuwandern, sobald er die notwendigen finanziellen Mittel zusammen haben würde. Franz Müller steht damit stellvertretend nicht nur für unzählige Wandergesellen, die sich nach ihren Lehrjahren oft für einige Jahre auf Wanderschaft in fremde Länder und Regionen aufmachten. Er war zugleich einer von mehreren Millionen Deutschen und anderen Europäern, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit oder einfach einem besseren Leben verließen und anderswo – häufig in Nordamerika – ihr Glück suchten.[3]
Dann ist da natürlich der besondere Tatort, an dem Thomas Briggs angegriffen und ausgeraubt wurde. Sowohl das Mordopfer wie auch die beiden Bankangestellten, die das Blut entdeckten, waren Berufspendler. Sie arbeiteten in der Londoner Innenstadt, wohnten aber wie viele andere am Stadtrand oder in den Vororten. Dieses tägliche Pendeln über vergleichsweise lange Strecken wurde in größerem Maßstab überhaupt erst durch die Verfügbarkeit eines verlässlichen, regelmäßigen und bezahlbaren Verkehrsmittels wie der Eisenbahn möglich (siehe Kapitel III.1 und III.6). Seit den 1840er-Jahren entstanden in großen Teilen Europas und Nordamerikas Eisenbahnnetze, die den Personen- und Warenverkehr auf eine gänzlich neue logistische Basis stellten. In Großbritannien vollzog sich dieser Wandel besonders schnell und tiefgreifend. Die Eisenbahn wurde für viele Menschen schnell zu einem festen Bestandteil ihres Alltags – hinsichtlich ihres Berufslebens ebenso wie im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung. Die gesellschaftliche Bedeutung des Zugverkehrs wird auch an der öffentlichen Beunruhigung über den so genannten Eisenbahnmord und die Diskussion über die Sicherheit von Eisenbahnreisen deutlich. Der Fall hatte am Ende sogar unmittelbare Auswirkungen auf die staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens. Der 1868 verabschiedete Regulation of Railways Act sah neben vielen anderen Punkten auch vor, dass Passagiere an Bord eines Zuges die Möglichkeit haben mussten, in einem Notfall das Zugpersonal zu kontaktieren.[4]
Nicht zu vergessen ist zudem die Verfolgungsjagd über den Atlantik, die eines der narrativen Kernelemente der medialen Begleitung des Falles darstellte. Franz Müller schiffte sich für die Überfahrt nach New York auf dem Segelschiff Victoria ein. Bis die Polizei ihm auf die Spur kam, hatte er bereits mehrere Tage Vorsprung und wäre mit einem anderen regulären Transatlantiksegler wohl kaum einzuholen gewesen. Müller wäre in New York von Bord gegangen, und wenn er sich geschickt angestellt hätte, wäre es sehr schwer geworden, seiner habhaft zu werden. Inspector Tanner und seine Begleiter aber nahmen mit der City of Manchester einen Dampfer nach New York. Seit den 1840er-Jahren fanden immer mehr Dampfschiffe Verwendung im transatlantischen Linienverkehr (siehe Kapitel III.1). Diese waren unabhängiger von Wind und Strömung und konnten daher oft kürze Routen zwischen ihren Anlegeorten fahren. Mitte der 1860er-Jahre war die Dampfschifftechnik soweit fortgeschritten, dass die City of Manchester trotz späterer Abfahrt etwa drei Wochen vor der Victoria ihr Ziel erreichte und die Polizisten dort in aller Ruhe Vorbereitungen für Müllers Verhaftung treffen konnten. Trotz ihres gut funktionierenden Dampfantriebs war aber auch die City of Manchester wie praktisch alle Dampfschiffe dieser Zeit zusätzlich mit Segeln ausgestattet. Gegen Ende ihres Dienstes wurde der Dampfantrieb ausgebaut und das Schiff noch einige Jahre unter Segeln betrieben.[5] Die City of Manchester ist damit ein typisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit verschiedener Mobilitätsformen.
Nur zwei Jahre später wäre die Verfolgung über den Atlantik nicht mehr nötig gewesen und wohl in dieser Form auch nicht mehr durchgeführt worden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen seit den späten 1850er-Jahren ging 1866 eine dauerhafte telegrafische Verbindung über den Atlantik in Betrieb. Scotland Yard hätte ab dieser Zeit die amerikanischen Kollegen relativ einfach per Telegramm über die bevorstehende Ankunft eines Mordverdächtigen informieren können. Aber auch im tatsächlichen Geschehen ist der Telegraf als Kommunikationsmittel präsent. So wird die Ankunft der Victoria vom Leuchtturm in Sandy Hook telegrafisch nach New York weitergegeben. Eine solche Vorankündigung ankommender Schiffe war im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Praxis, für die in anderen Fällen auch optische Telegrafensysteme oder Boten eingesetzt wurden. Aber auch die oben bereits erwähnte Intervention des preußischen Königs bei der royalen Verwandtschaft in London, mit der Wilhelm einen Aufschub von Müllers Hinrichtung erwirken wollte, erfolgte per Telegramm. Bereits in diesen beiden Zusammenhängen offenbaren sich die Kernqualitäten dieses damals noch jungen Mediums (siehe Kapitel III.2 und Kapitel III.8). Eine telegrafische Nachricht erreichte New York von Sandy Hook aus schneller als das Schiff, von dessen Ankunft berichtet wurde. Und mit einem Telegramm ließ sich angesichts einer drohenden Hinrichtung rasch zwischen Berlin und London kommunizieren.
Schließlich ist da noch die ausführliche Berichterstattung über den Mordfall, der über viele Monate nicht nur die britischen, sondern auch viele amerikanische und kontinentaleuropäische Zeitungen und ihre Leserschaft beschäftigte. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa und Nordamerika nicht nur eine dichte, ausdifferenzierte Zeitungslandschaft, die sich schrittweise immer neue Leserschichten erschloss, sondern auch neue Formen der Berichterstattung und des Journalismus, die unter anderem auch auf Sensationen und Spektakel setzten (siehe Kapitel III.3). Gleichzeitig erreichte mit dem Aufkommen von professionellen Nachrichtenagenturen der weltweite Handel mit Neuigkeiten bisher unerreichte Höhen. Nachrichten waren endgültig zur Ware geworden. Der Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen sollte gute Absatzmärkte für diese Ware schaffen.