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ОглавлениеVorwort
Rolf Kamm
1415?
Viele meinen, im Schweizer Jubiläumsjahr 2015 hätte man weniger über Morgarten (1315) oder Marignano (1515) und mehr über die Eroberung des Aargaus (1415) oder den Wiener Kongress (1815) reden sollen. Je nachdem, ob einen die «Befreiung», die «Neutralität», der Aargau oder die Grenzen der heutigen Schweiz mehr interessieren, fallen die Präferenzen für die eine oder andere Jahreszahl ganz unterschiedlich aus. Unterschiedlich sind auch der Bekanntheitsgrad und die Tradition dieser wichtigen Ereignisse: Die beiden Schlachten kennt heute noch fast jeder, «1415» ist dagegen ausserhalb des Aargaus kaum ein Begriff, und der Wiener Kongress wird nicht primär mit der Schweizer Geschichte in Verbindung gebracht.
Dieses Buch hat «1415» zum Thema, das meistunterschätzte der genannten Jahre. Die Eidgenossen eroberten den Aargau im Auftrag oder mit Erlaubnis des damaligen Oberhauptes des Heiligen Römischen Reichs: König Sigismund belohnte die eidgenössischen Orte dafür mit einer Vielzahl von Privilegien und Rechten. Das wichtigste davon ist die Reichsfreiheit, die er allen Orten erneut oder in einigen Fällen auch erstmals verlieh, so zum Beispiel dem Land Glarus. Nicht nur eidgenössische Orte, auch zahlreiche Kleinstädte oder adlige Herrschaften kamen 1415 in den Genuss der Reichsfreiheit, darunter Schaffhausen, Rheinfelden, Diessenhofen, Stein am Rhein, Rapperswil oder Winterthur. Von den genannten Städten blieb bekanntlich nur Schaffhausen dauerhaft reichsfrei und wurde 1501 einer der 13 eidgenössischen Orte.1
Freiheit?
Das Wort «Reichsfreiheit» enthält den Begriff der «Freiheit». Mit Freiheit ist im spätmittelalterlichen Kontext «die Freiheit, etwas zu tun», gemeint und weniger «die Freiheit von etwas». Wer reichsfrei wird, ist 1415 nicht frei vom Reich, sondern erhält vom Reich das Recht, etwas zu tun; zum Beispiel selbst Todesurteile zu fällen. Wenn einem diese Freiheit etwas bedeutet, wird man sich also nicht vom Reich distanzieren, sondern wird sich im Gegenteil, wenn immer nötig, auf das Reich berufen, das einem ja diese Freiheit verliehen hat. Reich und Kaiser werden so zu Garanten der eigenen Freiheiten.
Die Reichsfreiheit hat mit den Freiheiten des Einzelnen nichts zu tun: Reichsfrei sind im Falle von Glarus oder der anderen genannten Orte und Städte nicht die Individuen innerhalb dieser Gebiete, sondern das Kollektiv: in unserem Beispiel das Land Glarus. Glarus wird 1415 reichsfrei, nicht seine Einwohner. Da ein «Land», eine «Stadt» oder ein «Ort» etwas Abstraktes ist, werden die Freiheiten dieser Gebilde von Personen wahrgenommen, die dazu auf irgendeine Art und Weise berufen sind: die Obrigkeit. Die Kriterien, wer warum zu dieser Obrigkeit gehörte, und die Art, wie sich diese legitimierte, änderten sich im Laufe der Zeit: An die Spitze des Gemeinwesens konnte man zum Beispiel wegen seiner Herkunft, eines Losentscheides, einer Wahl oder auch dank ökonomischer Macht gelangen.
Auch die Reichsfreiheit selbst war einem Wandel unterworfen: Sie hatte im 15. Jahrhundert eine andere Bedeutung als im 16. oder 17. Jahrhundert. In den Köpfen überstand sie den Westfälischen Frieden von 1648, und in gewissen Traditionen rettete sich die «Reichsidee» über das Ende des Heiligen Römischen Reichs 1806 hinaus sogar ins 19. Jahrhundert.
In gewissem Masse bedeutet die Reichsfreiheit von 1415 dennoch eine «Freiheit von etwas», nämlich die «Befreiung» von den Institutionen des Reichs, den Hofgerichten zum Beispiel. Deshalb spricht man anstatt von der Reichsfreiheit mitunter auch von der Reichsunmittelbarkeit oder Reichsunabhängigkeit. Beides betont, dass sich zwischen dem reichsfreien Kollektiv und dem König oder Kaiser keine Hierarchiestufe mehr befindet, kein Reichsvogt und kein Reichstag: Das Land Glarus untersteht einzig und direkt dem Reichsoberhaupt. So ist die Reichsfreiheit ein Teil dessen, was wir ganz allgemein als staatliche Unabhängigkeit, Selbstbestimmung oder – vor allem in der Schweiz – als Souveränität bezeichnen. Während aber die Reichsfreiheit nach 1415 langsam an Bedeutung verlor, blieb die Frage der staatlichen Unabhängigkeit oder der Souveränität bestehen oder gewann sogar an Bedeutung.
Glarus?
Die Auswirkungen von «1415» auf die verschiedenen Orte, Städte und Herrschaften sind unterschiedlich: Der Aargau wurde wegen der Eroberung durch die Eidgenossen ein Teil der heutigen Schweiz, während die «Freie Reichsstadt Winterthur» eine Episode blieb. Die Entwicklung in Glarus verlief dagegen in vielen Bereichen, wie in der Gesamteidgenossenschaft, typisch schweizerisch: Das Glarnerland liegt geografisch peripher, doch die Walenseeroute und Zürich sind nicht weit. Es war zuerst eine habsburgisch dominierte Reichsvogtei, wurde 1415 erstmals reichsfrei und blieb es auch. Glarus war eine eher unbedeutende Macht in der heutigen Ostschweiz, wurde aber einer der acht alten Orte. Nach der Reformation behielt Glarus eine zuerst starke, dann schwindende katholische Minderheit, zerbrach deswegen aber nicht und wurde stattdessen ab dem 17. Jahrhundert nach Konfessionen paritätisch regiert. Nach dem Ende des alten Landes Glarus 1798 entwickelte sich der Bergkanton zur meistindustrialisierten Region der Schweiz und gab sich 1836 eine liberale Verfassung. Die Gründung des Bundesstaates 1848 fand in Glarus breite Unterstützung.
Das tönt nach einer 600-jährigen Erfolgsgeschichte. Markiert «1415» den Anfang staatlicher Unabhängigkeit? Welche Bedeutung hatte die Reichsfreiheit in späteren Jahrhunderten? Und wie frei, unabhängig und souverän konnte und wollte ein eidgenössischer Ort vom 15. bis ins 19. Jahrhundert wirklich sein? Am Beispiel Glarus soll diesen Fragen nachgegangen werden.
Am Anfang dieses Bandes steht die Urkunde, mit der die glarnerische Reichsfreiheit am 22. April 1415 begann. Peter Niederhäuser richtet den Fokus dann auf das Konstanzer Konzil, an dem die Glarner Reichsfreiheit ausgestellt wurde und die Interessen des Königs, der Habsburger und der Eidgenossen aufeinandertrafen. Der Schreibende stellt «1415» in den glarnergeschichtlichen Zusammenhang und nimmt Bezug auf die traditionellen Glarner «Schicksalsjahre» 1352 und 1388. Ausgehend vom Glarner Chronisten und Staatsmann Aegidius Tschudi betrachtet Christian Sieber anschliessend die Beziehungen zwischen Glarus und dem Reich im 16. Jahrhundert. Thomas Maissen spürt den Ursprüngen glarnerischer Souveränität vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit nach, und André Holenstein erzählt die Geschichte der Glarner Unabhängigkeit als Verflechtungsgeschichte. Daniel Thürer schliesslich geht dem oft gebrauchten Begriff der Souveränität landes- und völkerrechtlich auf den Grund.
Dank
Die Tatsache, dass sich so ausgewiesene Kenner der Schweizer Geschichte dieser Thematik annehmen, verdanken wir einer öffentlichen Tagung, die der Historische Verein des Kantons Glarus im Herbst 2015 organisierte. Unter dem Titel «Glarus – souverän!? Unabhängigkeit und Freiheit in der Glarner und Schweizer Geschichte» trafen sich die Autoren dieses Bandes zum öffentlichen Austausch zu diesem bewusst weit gefassten Thema im Glarner Landratssaal.
Im Namen des Historischen Vereins des Kantons Glarus bedanke ich mich ganz herzlich: bei den Autoren für ihre Aufsätze und bei Susanne Peter-Kubli für die Redaktion. Dem Verlag Hier und Jetzt danke ich für die sehr angenehme Zusammenarbeit und dem Regierungsrat des Kantons Glarus für die finanzielle Unterstützung aus dem kantonalen Kulturfonds.
Rolf Kamm, Präsident des Historischen Vereins des Kantons Glarus Glarus, 22. April 2016