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Die Frühgeschichte des Rheinlands

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Über die frühe Jugend von Altvater Rhein gibt es nicht viel zu erzählen. Die Fachleute wissen allerdings manches Interessante. So, dass unser Rhein – oder was man heute dafür hält – im Lauf der Zeit nacheinander in alle europäischen Meere floss. Vor 50 Millionen Jahren, als sich die Alpen auffalteten, ergoss er sich ins Mittelmeer. Vor zwei Millionen Jahren speiste er die Donau und endete im Schwarzen Meer. In der Eiszeit bestimmten die mächtigen Eisbarrieren im Alpenraum seinen Weg; er kämpfte sich durch die Schaffhausener Berge in die Gegend von Basel. Und von dort ging es alsbald – wie noch heute – durch die Mittelgebirge nach Norden, zur Nordsee. Diese Mittelgebirgslandschaft, durch die sich der Rhein ein Bett graben musste, spielt auch bei uns hier eine wichtige Rolle: Es ist das Rheinische Schiefergebirge, eine bezaubernd schöne Gegend zwischen Bingen und Bonn, das sogenannte Mittelrhein-Gebiet. Linksrheinisch erheben sich Hunsrück und Eifel, am rechten Ufer Taunus und Westerwald. Bei Bonn endet das imponierende Mittelgebirge. Bis zur Nordsee erstreckt sich nun das Norddeutsche Tiefland: das Gebiet des Niederrheins. Während der Fluss im Mittelrhein-Gebiet durch die bergige Landschaft einfach gezwungen war, mit einem verhältnismäßig schmalen, eindeutig festgelegten Bett auszukommen, gab ihm das flache Norddeutsche Tiefland Gelegenheit, sich ganz unplanmäßig zu verhalten: Dort konnte er nach Belieben Schlingen und seenförmige flache Wasserstücke bilden. Das wurde ihm von den Menschen später dann abgewöhnt. Die verordneten ihm durch Ausschachtungen und Deiche ein festes Flussbett, was dazu führte, dass sich auf den Uferpartien nach und nach viel ansiedeln konnte – in neuester Zeit auch massiv Industrie.

So weit sind wir aber hier noch lange nicht. Interessant ist, wann die allerersten Menschen an den Rhein kamen. Doch dafür gibt es nur sehr wenige Zeugnisse. Sicher ist, dass das Rheinland zu den frühesten bewohnten Gegenden in Europa gehörte. Warum? Auch das weiß man nicht. Bei Mülheim-Kärlich, im Nordwesten von Koblenz, fand man in einer Tongrube Faustkeile aus Feuerstein und Quarzit – Zeugnisse, dass hier eine Familie des Homo Erectus („aufgerichteter Mensch“) gelebt hatte. Das war vor etwa 300 000 Jahren. Und im Bergischen Land, nordwestlich von Köln, fand man Überbleibsel von Neandertalern, die vor etwa 50 000 Jahren hier lebten. Dieses Neandertal, das dem Urmenschen den Namen gab, liegt überhaupt nicht weit vom Rhein entfernt – etwa zehn Kilometer östlich von Düsseldorf. Es ist das Tal der Düssel zwischen Erkrath und Mettmann. Dort fand man 1856 in einer Höhle am Steilufer Schädel und Knochen eines prähistorischen Menschen: eben jenen Neandertaler, von dem es inzwischen auch anderswo zahlreiche Funde gibt. Um das Jahr 5000 v. Chr. lebten an vielen Orten links und rechts des Rheins Menschen der Jungsteinzeit. Einige ihrer Siedlungen hat man gefunden und, so gut es ging, gesichert. Im Gebiet des Niederrheins liegt die wichtigste steinzeitliche Fundstelle – im heutigen Köln-Lindenthal, gleich südwestlich der Kölner Altstadt. Man fand da nebeneinander zwei Reviere – jedes wohl zuerst mit Palisaden, später dann auch mit Wall und Graben gesichert. Vermutlich wohnten in dem einen Revier die Menschen, im anderen hauste das Vieh. Man fand dort auch die Reste von Häusern aus Holz und Lehm sowie die Gruben, aus denen der Baulehm für die Häuser gewonnen wurde. Die Gruben nahmen dann nach dem Lehmabstich die häuslichen Abfälle auf. Das waren großartige Fundstellen für die Altertumsforscher. Die Häuser dieser steinzeitlichen Rheinländer sollte man sich nicht gar zu primitiv vorstellen. Sie waren langgestreckt, hatten Giebeldächer und mehrere Räume hintereinander. Zunächst kam man in die Küche, dann in die Schlaf- und Wohnräume, oft auch noch in eine Vorratskammer. Das Dach ruhte auf drei parallelen Reihen aus Holzpfosten – die längsten und kräftigsten Pfosten in der mittleren Reihe, um den First zu tragen. Die Spuren zeigen, dass die Häuser erstaunlich groß waren: manchmal 30 mal 8 Meter oder noch mehr. Und vom Boden bis zum First waren es an die vier Meter Höhenunterschied.

Manches weiß man also von diesen Jungsteinzeit-Menschen. Aus gefundenen Abfällen kann man etwa herleiten, wie sie lebten. Sie aßen viel Fleisch, kannten aber auch Korn wie Hirse und Gerste, Emmer und Dinkel, speisten allerlei Gemüse wie Erbsen und Linsen, hatten auch Gewürzkräuter, liebten Obst und Nüsse. Aus Mohn machten sie Öl. Sie hatten kleine Küchengärten rings ums Haus und, ein wenig entfernt, ausgedehnte Äcker. Die bearbeiteten sie, mühsam genug, mit hölzernen Werkzeugen. Aber ihre Sicheln hatten Schneiden aus Feuerstein. Und Steinäxte gab es, die – wie neue wissenschaftliche Experimente zeigten – kaum weniger ins Holz bissen als unsere heutigen Stahläxte. Mit ihren Bögen und Pfeilen gingen die Herren auf Jagd. Damals lief viel Wild herum – Rehe und Wildschweine, auch Bären und Wisente. Aber sie hatten auch Haustiere: Hunde und Schafe, Schweine und Ziegen. Kühe gaben Milch; oft spannte man sie auch ein – vor allem, nachdem um 5000 v. Chr. der hölzerne Pflug erfunden war. Die Kleidungsstücke jener Jurisprudenz bestanden nicht nur aus Tierhaut, wie man manchmal denkt. Diese Rheinländer konnten aus Pflanzenfasern, aus Hanf oder Leinen, sehr feine Gewebe herstellen. Von den Menschen, die dann später am Niederrhein wohnten, weiß man weit mehr, aber noch lange nicht genug. Da gab es vor allem die Stämme der Kelten. Diese Kelten waren seit 700 oder 600 v. Chr. in vielen Teilen Europas zu finden. Sie kamen wohl aus dem Osten Europas zum Rhein und bekamen dann ihre größte Bedeutung in dem Landstrich, der als „Gallien“ bekannt wurde Das war im Wesentlichen das heutige Frankreich mit Belgien und auch Norditalien – also ein sehr großes Gebiet zwischen dem Rhein und den Pyrenäen, dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer. Im Rheinland lebten die Kelten vor allem am linken Ufer des Rheins.

Am rechten Ufer siedelten Germanen, die aus dem Norden kamen. Auch das waren viele verschiedene Stämme; Alamannen gehörten dazu, Goten, Langobarden, Sachsen und zahlreiche andere. Allerdings gehörte der Name „Germanen“ zunächst nur zu einem kleinen Stamm am Niederrhein. Die Römer griffen ihn später auf und übertrugen ihn auf viele andere Stämme bis hinauf nach Skandinavien; sie nannten das ganze große Gebiet rechts des Rheins schlichtweg „Germania“. Die Germanen im Rheinland gehörten vor allem zu den Stämmen der Usipeter, Tenkterer und Sugambrer. Historische, heute nachvollziehbare Bedeutung bekamen diese Stämme in der Römerzeit; erst ab dieser Epoche gibt es einigermaßen verlässliche Aufzeichnungen.

Und dann kamen diese Römer, um ihr bereits riesengroßes Reich auch auf das Gebiet des Rheins auszudehnen. Mit ihnen kamen die wichtigsten Chronisten – vor allem der römische Senator Publius Cornelius Tacitus (etwa 58 bis 116 n. Chr.), auf dessen aktuelle Notizen sich auch die moderne Geschichtsschreibung über jene Epoche stützt. Das römische Reich hatte sich bis zur Zeitwende ungeheuer ausgedehnt. Es umfasste außer Italien auch große Teile der Länder rund um das Mittelmeer wie Frankreich, Spanien, Nordafrika, Griechenland und der Türkei, auch Teile der britischen Insel und des russischen Reiches. Einer der maßgebenden Männer jener Zeit war Gaius Julius Caesar, der sich schon als sehr tüchtiger Staatsmann und Feldherr hervorgetan hatte, bevor er von 46 bis 44 v. Chr. römischer Alleinherrscher wurde. Caesar beschloss, mit acht Legionen ganz Gallien vollständig der römischen Herrschaft zu unterstellen. Von 58 bis 51 v. Chr. führte er die Eroberungszüge durch, die später „Gallischer Krieg“ genannt wurden. „De Bello Gallico“ heißen Caesars persönliche Aufzeichnungen über Galliens Unterwerfung. Das besiegte Gallien wurde in drei Provinzen aufgeteilt: Gallia Aquitania im Westen, Gallia Lugdunensis in der Mitte und Gallia Belgica im Osten. Zu Gallia Belgica gehörte auch das deutsche linksrheinische Gebiet. Das ganze linksrheinische Gebiet vom Bodensee bis zur Nordsee war nun in der Hand der Römer. Am rechten Ufer klappte das nie so ganz, obgleich die Römer diese Germania auch sehr gern voll besetzt hätten – bis hinüber zur Elbe oder gar zur Weichsel. Im Jahre 55 v. Chr. hielt Caesar es für nötig, auch den Germanenstämmen rechts des Rheins die Macht Roms nachdrücklich klarzumachen. Mit einem Teil seiner Truppen kam er im Frühsommer an den Rhein, wollte den aber nicht mit Booten überqueren – sei es, weil er es für zu gefährlich hielt, sei es weil es nicht der Würde eines siegreichen Heeres entsprach, in kleine Boote zu steigen. So ließ Caesar in der Gegend zwischen Koblenz und Andernach, vermutlich bei Neuwied eine hölzerne Brücke bauen. Sie war nach allem, was man heute weiß, eine technisch musterhafte Konstruktion und führte auf etwa 50 Jochen über den sechs Meter tiefen Fluss. Die Brücke war 400 Meter lang, neun Meter breit und schon in zehn Tagen fertig.

So marschierten 25 000 Soldaten mit 6000 Pferden und Lasttieren nach Germanien hinein. Die Germanen in den Dörfern am Rheinufer waren durch dieses Wunderwerk von Brücke so beeindruckt, dass sie in die umliegenden Wälder flohen. Das spielte militärisch keine Rolle und entsprach durchaus der Absicht Caesars. Er wollte dort zunächst ja gar kein römisches Territorium begründen, sondern den germanischen Stämmen nur zeigen, wie großartig alles war, was aus Rom kam. Das gelang ihm ringsum, und so zog er mit seinen Truppen schon nach 18 Tagen und einigen Scharmützeln wieder zurück aufs andere Ufer. Die Brücke wurde abgebrochen. Zwei Jahre später wiederholte Caesar das Manöver wenige Kilometer rheinaufwärts, bei Urmitz. Diesmal ging es allerdings nicht nur um ein Schauspiel: Diesmal sollten einige germanische Stämme bestraft werden, weil sie Römer angegriffen hatten.

Ab 13 v. Chr. war Nero Claudius Drusus der Statthalter am Rhein. Sein Stiefvater Augustus, Roms erster Kaiser (31 v. Chr. bis 14 n. Chr.), gab Drusus den Auftrag, entlang des Rheins 50 Kastelle zu bauen. Solche römischen Kastelle konnten ganz unterschiedlich beschaffen sein. So entstanden in der Zeit von Drusus das „Castra Mogontiacum“ im heutigen Mainz oder das „Castra Bonna“ in Bonn. Im „Castra Bonna“ wurden annährend 6500 Soldaten untergebracht, im „Castra Mogontiacum“ waren es zeitweise sogar 50 000 Legionäre. Diese Castra wurden zwar immer so angelegt, dass man sie im Notfall auch verteidigen konnte. Aber hauptsächlich dienten sie als Lager für die römischen Legionäre, die jahrelang an vielen Stellen längs des Rheins stationiert waren. Eigentlich war solch ein Castrum nichts anderes als eine ebenerdige Kaserne, ausgestattet mit allem, was die Legionäre oder auch ihre Hilfstruppen brauchten, im Sommer wie im Winter. Dazu gehörten neben den Unterkünften meist auch Pferdeställe, Werkstätten sowie ein Lazarett. Und, oft außerhalb, ein Thermalbad. In sorgfältig eingerichteten, gut belüfteten Magazinräumen lagen Lebensmittel auf zwei Jahre im Voraus. So gut wie alle dieser Legionslager wurden nach einem unerbittlich gleichen Plan gebaut: nach einem streng rechteckigen Grundriss, durch den zwei schnurgerade Hauptstraßen führten – die eine längs, die andere quer. Die eine hieß „Via Praetoria“, die andere „Via Principalis“. Die Legionäre hausten im Castrum erst in Zelten, später in steinernen Häusern. Meist stand das Haus des Lagerkommandanten, das „Praetorium“ nahe dem Zentrum. Es war mit allem Luxus eingerichtet, den der Offizier auch zu Hause in Rom hatte. Die Befestigung des Lagers, also die Umgrenzung, bestand bei den ersten Anlagen nur aus einem hohen hölzernen Zaun und einem tiefen Graben, später aber aus einer Mauer, zu der oft massive Türme gehörten. Der strenge Grundriss der Lager wurde später manchmal leicht verändert. Wenn das Castrum sehr groß wurde – etwa für zwei Legionen –, dann kam oft eine dritte Hauptstraße dazu. Und wenn das Gelände, auf dem man das Lager gern bauen würde, weil es militärisch günstig war, der streng rechteckigen Form Schwierigkeiten machte, dann wich man auch davon ab. Viele dieser Römerlager waren sehr groß – mit Seitenlängen von mehreren hundert Metern. Denn in solch einem Lager waren ja meist mehrere tausend Legionäre oder Hilfstruppen untergebracht, die stets bereit sein mussten, zu einem langen Erkundungsmarsch oder auch zu einer massiven kriegerischen Auseinandersetzung aufzubrechen. Die Zahl dieser großen Lager im Rheinland war überschaubar. Anders war es bei den Kastellen. Die bauten die Römer zunächst zwar nach dem Plan eines „Castrum“, aber erheblich kleiner, denn dort wurden weniger Leute untergebracht. Von diesen Kastellen gab es im Lauf der Zeit fast zahllos viele am Rhein. Zwischen dem 2. und 3. Jahrhundert begannen die Römer, bei der Anlage ihrer Kastelle die überlieferten Grundregeln zu vernachlässigen. Das hatte ganz praktische und sehr vernünftige Gründe. Die Kastelle, die man jetzt brauchte, mussten keine Scharen von Legionären unterbringen, die man zu Kriegszügen in Marsch setzen konnte. Sie mussten nur eine relativ kleine Truppe beherbergen, die das Gebiet in der Nähe überwachen und notfalls verteidigen konnte. So entstanden kleine massive Festungen, die bereits Vorläufer der mittelalterlichen Burgen waren. Viele Kelten und andere Stämme am linken Rheinufer kamen mit der römischen Besatzung immer besser zurecht. Zum einen gefiel manchem die römische Lebensart recht gut, zum anderen waren die Römer wiederum klug genug, keltische Sitten und Gebräuche zu tolerieren. Sie legten weitere Kastelle an, umgaben sie mit Siedlungen, führten römisches Recht wie römische Lebensart ein. Vierhundert Jahre lang bestimmte die Politik Roms die Geschichte am Rhein. Entlang vieler römischer Befestigungen lagen Dörfer, deren Bewohner sich ganz der Landwirtschaft widmeten. So wurde die Gegend gut versorgt, auch die römischen Legionäre hatten ihr Essen. Im Gebiet des Mittel- und Niederrheins gab es bald auch größere Ansiedlungen, die dann zu Städten wurden. So entstanden schon einige Jahre vor der Zeitwende neben Mainz und Bonn auch Andernach und Koblenz, wenig später Köln. Die Römer zeigten auch, wie faszinierend schon damals ihre bautechnische Begabung und ihre Ingenieurskunst waren. Das gilt für zahlreiche Festungen und andere Bauwerke. Es gilt aber auch für so ausgeklügelte Technologien wie den Straßenbau oder die Wasserversorgung. Die Römer waren Meister im Bau von Aquädukten, wobei noch heute rätselhaft ist, wie sie diese Kanäle konstruktiv berechneten. Das absolute Meisterwerk auf diesem Gebiet, das größte antike Bauwerk nördlich der Alpen, war die 100 Kilometer lange Eifel-Wasserleitung, die Köln mit Wasser versorgte. Linksrheinisch florierte unter römischer Aufsicht ein immer angenehmeres Leben. Die rechtsrheinischen Germanen sahen das oft neidisch und brachen immer wieder in das besetzte Gebiet ein. Das führte zu erheblichen Schäden bei den römischen Truppen. Eines Tages verloren die Römer die Geduld. Kaiser Augustus befahl, ein ganzes Heer solle in den germanischen Gebieten zeigen, wer hier die Macht habe. Die Römer unter dem Statthalter Drusus marschierten in den Jahren 10 und 9 v. Chr. weit nach Nordosten. Aber das militärische Unternehmen ging schief; die Germanen waren von den Truppen gar nicht richtig zu fassen und sorgten immer wieder für unangenehme Angriffe. Drusus, der schon die Elbe erreicht hatte, vermutlich in der Nähe des heutigen Magdeburg, kehrte wieder um. Doch auf dem Rückmarsch stürzte er vom Pferd und starb. Man gab ihm hintendrein den Ehrennamen „Germanicus“. Schließlich machte der Cheruskerfürst Arminius allen weiteren römischen Aktionen in Germanien ein Ende: Seine Leute vernichteten im Jahre 9 n. Chr. im Teutoburger Wald drei Legionen des Statthalters Varus. Der war vom römischen „Castra Vetera“ in Xanten nach Germanien marschiert, um dort nach seinen Vorstellungen Ordnung zu schaffen. Es war eine der größten Niederlagen Roms.

Diese Fehlschläge führten dazu, dass Tiberius, Nachfolger des Kaisers Augustus, im Jahre 17 schlichtweg beschloss, die rechtsrheinische Germania den Germanen zu überlassen und sich auf die linke Rheinseite zu konzentrieren. Tiberius war vor seiner Kaiserzeit ein erfolgreicher Feldherr gewesen, war ein Kenner Germaniens und dachte sehr nüchtern. Er konnte abschätzen: Die ganzen Eroberungsversuche in Germanien machten nur unnötigen Ärger und kosteten Geld. Sein Nachfolger Caligula dachte zwar anders und versuchte erneut, in Germanien vorzudringen – aber er war erfolglos. Damit war dieses einst so wichtige Projekt begraben.

Kilius Civilis, ein vornehmer Bataver, der bei den Römern Offizier geworden, dann aber von Kaiser Nero eingesperrt worden war, wollte – vielleicht nur aus Rache – mit seinen Landsleuten ein unabhängiges Reich gründen. So kam es im Jahr 69 zum Bataver-Aufstand, dem sich schnell auch andere germanische und keltische Stämme anschlossen. Sogar die eine oder andere römische Legion soll mitgemacht haben.

Bis 70 dauerte der Aufstand, manche Stadt wurde zerstört und zum ersten Mal auch ein römisches Legionslager erobert – bei Xanten. Schließlich aber wurden die Bataver von römischen Truppen, die nach Xanten anrückten, überwältigt. Sie gaben auf.

Nun erlebte das linke Rheinufer an die 200 Jahre lang ein sehr ruhige Zeit. Was die Römer in ihrer guten Zeit am Rhein als angenehmen Luxus gewohnt waren, ließ die Ansässigen zunächst nur staunen. Besonders bewundert wurden die Thermalbäder. Die bauten die Römer allerdings nicht nur zur wohligen Angeberei, sondern auch zur Vorsorge: Viele Legionäre vertrugen das nördliche Wetter nicht und brauchten Gesundheitsbäder. Das Baden gehörte aber auch zur militärischen Dienstpflicht; die Legionäre mussten ins Wasser. Deshalb hatte jedes Legionslager seine Therme. Für diese Badeanstalten gab es nicht überall natürliches Thermalwasser. Meist musste das Wasser erwärmt werden; dazu hatten die Römer schon äußerst raffinierte technische Systeme. Und jede Therme hatte mindestens drei Räume: einen zum Aufwärmen und Abkühlen, einen zum Schwitzen und heißen Baden, einen mit kaltem Wasser. Dazu gab es oft noch Umkleide- und Gesellschaftsräume.

Unter den zivilen Anwohnern kam es nach und nach zu ganz ungewohntem Wohlstand. Mit den römischen Truppen war etwas Neues ins Land gekommen: Geld, bare Münze. Die ersetzte den üblichen Tauschhandel. Bis dahin gab es bei den ansässigen Stämmen fast nur Jäger und Bauern. Die Landwirtschaft überwog zwar auch weiterhin. Viele große, gut bewirtschaftete Landgüter entstanden. Aber mit den römischen Truppen kamen auch immer mehr handwerkliche Fachleute ins linksrheinische Gebiet. Die brauchte man zum Bau und zur Instandhaltung der großen Lager und Kastelle. Die Kelten lernten; auch bei ihnen bildeten sich die Berufe der Handwerker und der Händler heraus, ebenso entwickelte sich ein vorher schon andeutungsweise vorhandenes Kunstgewerbe weiter. Die gut besoldeten Legionäre kauften ihnen vieles ab – auch für zu Hause. Im Übrigen wussten sie in ihren Standorten gut zu leben. Sie hatten ja nicht immer militärisch zu tun, wurden aber auch zur Herstellung von Ziegeln sowie zum Lager- und Straßenbau herangezogen. Dennoch verblieb ihnen noch genügend Freizeit: Da gab es Schlemmerfeste, Trinkgelage und manche zarte Beziehung. Viele Legionäre blieben nach ihrer Pensionierung im linksrheinischen Gebiet, gründeten dort eine Familie oder holten sie her. Es war ja keineswegs so, dass die Römer und die Ansässigen streng getrennt lebten; das ging – außerhalb des Militärdienstes – bunt und vergnügt durcheinander.

Die Römer hatten gleich zu Beginn ihrer Zeit am Rhein ein klug überlegtes Straßennetz an den Rheinufern angelegt – ein System, auf dessen Grundstruktur häufig unser heutiges Straßennetz aufbaut. Mainz, Koblenz, Köln – alle wichtigen Standorte waren durch gute Straßen verbunden und schnell erreichbar. Eine Straße führte rheinabwärts bis nach Xanten. Den Rhein benutzten die Römer schon ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert als Wasserstraße. Ihre Lastkähne wurden in den vielen flachen Schlingen des Niederrheins getreidelt: Gruppen von Treidlern oder auch Treidelpferden zogen sie vom Ufer aus an Seilen stromauf und stromab. Es gab viele Häfen für die römische Rheinflotte. Die zwei größten im Rheinland waren Mainz und Köln. Bis ins 4. Jahrhundert funktionierte der Schiffsbetrieb sehr gut. Dann allerdings fielen die Germanen immer häufiger über den Rhein ins römische Gebiet ein. Das störte auch den Flussverkehr. Nach und nach lagen die meisten Boote am Ufer und verrotteten. Und nachdem in der Silvesternacht 407 germanische Stämme die Stadt Mogontiacum mit ihrem großen Hafen – das heutige Mainz – überfielen, hörte der Schiffsverkehr völlig auf. Bald nach dem Bataver-Aufstand gingen die Römer an ein bautechnisches Meisterwerk, um die Stadt Köln mit Wasser zu versorgen – das größte antike Bauwerk nördlich der Alpen: die Eifel-Wasserleitung. Die entstand um das Jahr 80 und führte von Nettersheim in der Nordeifel, wo es eine mächtige Quelle gab, an den Rhein. Sie überquerte dabei – zuerst am Talhang der Urft, dann parallel zum Nordhang der Eifel – genial die europäische Wasserscheide zwischen Maas und Rhein. Die Wasserleitung ruhte meist einen Meter tief in Röhren aus gemauerten Halbbögen, die innen 70 Zentimeter hoch und damit mühsam begehbar waren. Innen wurden diese Kanäle mit einem Putz aus Kalk und zermahlenen Ziegelsteinen abgedichtet. Teilweise führte die Wasserleitung aber auch über gemauerte Gewölbe- oder Bogenbrücken. Bei Mechernich stand eine, die 70 Meter lang war. Eine andere mit sogar 1400 Metern Länge und zehn Metern Höhe überquerte auf 293 Bögen den Swistbach. Wie man dort dafür sorgte, dass das Wasser im Winter nicht einfror, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich genügte, dass es mit einigen Plusgraden aus seinem geschützten Kanal aus der Erde kam und fleißig über die Brücke floss. Es konnte ja alsbald wieder im Boden verschwinden. Über dem Kanal im Boden wurde ein Weg für die Aufseher der Wasserleitung angelegt und links wie rechts davon ein Gebiet markiert, in dem weder gepflügt noch gesät oder gepflanzt werden durfte. In regelmäßigen Abständen gab es Revisionsschächte, durch die man in den unterirdischen Kanal gelangte, um ihn zu kontrollieren, zu reinigen und die Kalkablagerungen zu entfernen. Die entstanden regelmäßig, weil alle Quellen, die man nutzte, möglichst hartes Wasser haben sollten. Das schmeckte frischer als das kalkfreie. Wer hat diesen Aquädukt gebaut? Man vermutet, dass es in den Römerquartieren am Rhein dafür genügend Ingenieure gab. Und dass für die schweren handwerklichen Aufgaben einfach zahllose Legionäre eingesetzt wurden, die ja sonst oft gar nichts zu tun hatten. Moderne Baufachleute haben es gelegentlich ausgerechnet: Ohne die Vermessung waren für den Aquädukt insgesamt 475 000 Tagewerke nötig. Dafür mussten – bei 180 Bautagen im Jahr – 2500 Legionäre oder Leute der Hilfstruppen 16 Monate lang tüchtig arbeiten.

Weit erstaunlicher als der Bau dieser Wasserleitung sind die Vermessungen der Ingenieure, die ihn überhaupt erst möglich machten. Man weiß, dass sie „Chorobates“ hatten. Das waren sechs Meter lange hölzerne Wasserwaagen, die man auf ein Promille Neigung genau einstellen konnte. Das bedeutet: Bei einem Kilometer Strecke konnte man ein Gefälle von einem Meter einplanen. Das genügte, musste aber absolut exakt ausgeführt werden. Der Aquädukt war rund 100 Kilometer lang. Mit mehreren Zuleitungen von verschiedenen Quellen, die unterwegs weiteres Wasser einspeisten, ergaben sich sogar 160 Kilometer. So wurden täglich bis zu 20 000 Kubikmeter Wasser nach Köln befördert – dorthin, wo man es ständig brauchte: bei den öffentlichen Brunnen, den privaten Hausanschlüssen, den für die Römer sehr wichtigen Thermen und zu den öffentlichen Toiletten, die es damals dort schon gab. Die öffentlichen Brunnen waren so häufig, dass kein Kölner weiter als hundert Schritte gehen musste, um ans Wasser zu kommen. Die Wasserleitungen innerhalb der Stadt bestanden aus Bleirohren, die man aus Bleiplatten formte. Diese wurden gebogen und aneinandergelötet. Der Aquädukt wurde 260 bei einem Germanenüberfall zerstört. In der Zeit, in der die große Wasserleitung entstand – also um das Jahr 80 – teilten die Römer ihr Rheingebiet aus verwaltungstechnischen Gründen in zwei Provinzen auf: in Ober- und Niedergermanien. Obergermanien, die „Germania Superior“, hat mit diesem Buch nur wenig zu tun. Es lag fast ganz im Süden, am Oberrhein, westlich vom heutigen Südwestdeutschland und in der Schweiz. Aber ein Teil von „Germania Superior“ gehörte doch zum Mittelrhein – das reichte bis etwa nach Koblenz. Und der Statthalter dieser Provinz residierte in Mainz.

Östlich von der „Germania Superior“, rechts des Rheins, lagen die „Agri decumates“, das Dekumatland im heutigen Baden-Württemberg. Dort wohnten germanische Sueben, aber auch kühne Kelten von der Art, die Tacitus „die abenteuerlustigsten Gallier“ nannte. Tacitus rechnete das ganze Dekumatland noch zum römischen Reich, nannte es einen Teil von „Germania Superior“. Das war es in Wirklichkeit nicht, aber es profitierte sehr von den Römern. Zum Teil, weil die Legionäre dort gern und billig allerlei Kleinzeug einkauften. Den nördlichen Anschluss an die „Germania Superior“ bildete Niedergermanien, „Germania Inferior“, das später auch „Germania Secunda“ genannt wurde. Dazu gehörten neben den heute deutschen linksrheinischen Gebieten auch Belgien und die linksrheinischen Teile der Niederlande. In der „Germania Inferior“ lagen viele römische Truppen. Aber als nach dem Jahr 17 die Römer keine Lust mehr dazu verspürten, auf rechtsrheinischem Gebiet weitere Eroberungen zu machen, waren in der „Germania Inferior“ lange Zeit nur noch vier Legionen stationiert: zwei in Xanten, je eine in Neuss und in Bonn. Die Hauptstadt dieser Provinz war Köln.

Im 2. Jahrhundert begannen die Römer schließlich mit Planung und Bau einer Grenzanlage, Limes genannt. Dieser reichte als größtenteils bewachte Grenze von Rheinbrohl am Mittelrhein zur Donau bei Regensburg. Der Limes sollte allen Stämmen deutlich machen: Hier beginnt römisches Gebiet! Er war deshalb durchaus nicht überall eine stabile Mauer, wie man das heute bisweilen meint. Das war er nur dort, wo es aus Gründen der Verteidigung sinnvoll schien. Im Gebiet von Mittel- und Niederrhein folgte er hauptsächlich mehr oder weniger befestigten Trampelpfaden der Grenzposten von einem Wachturm zum nächsten. Die Germanen achteten den Limes nicht besonders. Es half nichts, ihn hier und da zu verstärken. Die Germanen waren viel zu flexibel. Und allmählich verloren sie auch den Respekt vor den schwer bewaffneten und deshalb oft etwas unbeweglichen Römern. So griffen sie immer häufiger an – nicht nur, um Sachbeute zu machen, sondern immer mehr auch, um ganze Gebiete zu erobern und sich dort möglichst festzusetzen. Die Römer sahen schließlich keine Möglichkeit mehr, ihren Grenzzaun sinnvoll zu halten. Um das Jahr 250 wurde der Limes aufgegeben. Sie zogen sich auf ihr linksrheinisches Gebiet zurück. Dort aber blieben sie bis ins 5. Jahrhundert. Im Jahre 395 starb der römische Kaiser Theodosius I. Das führte zu einigen großen Umstellungen im römischen Reich, die auch die besetzten Gebiete im Rheinland betrafen. Dort wollte die römische Verwaltung noch bessere Verhältnisse mit den germanischen Stämmen herstellen. Mit manchen Stämmen schloss sie Verträge ab: Die Germanen bekamen Siedlungsgebiet. Einige Stämme wurden von Rom sogar zu „Foederaten“ gemacht, was so viel wie „Bundesgenossen“ bedeutete. Dazu gehörten die Westgoten, aber auch Stämme der Alanen und Franken, der Sachsen und Vandalen. Sie mussten den Grenzschutz am Rhein übernehmen und im Kriegsfall für die Römer kämpfen. Das alles war gut gedacht, aber es bewährte sich nicht lange. Schon um 380 hatte eine nach Süden gerichtete Bewegung germanischer Stämme eingesetzt, die man heute kollektiv „Völkerwanderung“ nennt, und die auch das Rheingebiet in Unruhe brachte. Hinzu kam, dass ums Jahr 400 sehr viele römische Truppen aus dem Rheinland abkommandiert wurden. Man brauchte sie in Italien, wo die Westgoten eindrangen. Etwa um 406 ereignete sich eine für die damalige Zeit bedeutungsschwere Katastrophe: Gruppen germanischer Stämme – auch Foederaten wie Alanen, Sueben und Vandalen – setzten bei Mogontiacum (Mainz) über den Rhein und drangen weit in das römisch-gallische Gebiet ein. Mainz wurde zerstört. Einige Historiker sagen, man habe es den Germanen in Mainz sehr leicht gemacht. Das dort ums Jahr 12 v. Chr. gegründete und stattlich ausgebaute Legionslager für einst 12 000 Mann sei den Römern kaum noch wichtig und nur ganz schwach besetzt gewesen; außerdem hätten diese dort auch noch eine sehr praktische und stabile, aber nur schlecht bewachte Brücke über den Rhein gebaut. Allerdings war eine Brücke gar nicht unbedingt nötig: Es war die Neujahrsnacht und der Rhein war zugefroren.

Im 5. Jahrhundert begann das europaweite Römische Reich, sich aufzulösen. Um das Jahr 450 war es auch am Rhein so weit; die Römer konnten den andrängenden Germanen nicht länger widerstehen. Die römische Armee war dort viel zu klein geworden, um das Gebiet zu schützen. Zum Teil bestand sie auch gar nicht mehr aus römischen Legionären, sondern aus germanischen Söldnern, die im Ernstfall nicht sehr verlässlich waren. Und beim Überfall auf Mainz war zudem die römische Rheinflotte zerstört worden. Die Römer zogen sich, teilweise sehr ungeordnet, zurück. Ihre Zeit am Mittel- und Niederrhein war zu Ende. Dass das römische Militär abzog, bedeutete aber nicht, dass damit alle Kennzeichen römischen Einflusses verschwanden. Die von den Römern angelegten Siedlungen, zum Teil auch die Städte, blieben erhalten. Viele römische Familien, die einst ins zivile Umfeld der Befestigungen gekommen waren, blieben da. Die römischen Gesetze, das römische Recht – besonders das Zivilrecht – galten bis weit in die Neuzeit. Und viele ursprünglich lateinische Ausdrücke gingen als Lehnwörter in die germanischen Sprachen über.

Aber eine ganz neue Zeit brach an: die Zeit der Franken.

Kleine Geschichte des Rheinlands

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