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Auf der Suche nach neuen Erkenntnissen

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Schon lange beschränken sich Paläoanthropologen nicht mehr nur darauf, fossile Funde zu datieren, zu vermessen und in Stammbäume bzw. Stammbüsche einzuordnen. Vielmehr setzt man Untersuchungsmethoden aus verschiedenen Fachbereichen ein und bemüht sich um eine möglichst umfassende Rekonstruktion des Alltagslebens der menschlichen Vorfahren. Dabei untersucht man Zusammenhänge zwischen ökologischen Bedingungen, Sozialsystemen, Lebensgeschichte sowie Anatomie und Physiologie mit Blick auf die Eignung bzw. dem Fortpflanzungserfolg der Individuen. Manche Faktoren der Hominisation („Menschwerdung“), wie z. B. Körpergröße, Geschlechtsdimorphismus, Gehirnvolumen, Gebiss, Werkzeugherstellung, können aus fossilen Funden direkt erschlossen werden. Andere Faktoren, wie etwa Lebensgeschichte und Kommunikation, lassen sich oft nur indirekt erschließen.

Als Hominine bezeichnet man den Menschen und seine ausgestorbenen Vorfahren (Homo-Formen und Vormenschenformen).

Als Hominiden bezeichnet man die Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse, Bonobo) und den Menschen (einschließlich aller ausgestorbener Vorfahren).

Als Hominoide bezeichnet man Gibbons, die großen Menschenaffen und den Menschen (einschließlich aller ausgestorbener Vorfahren)

Da die Hominisation nach wissenschaftlichen Erkenntnissen den Prinzipien der Selektion unterlag, sind die Entwicklungen der Homininen im Laufe der Evolution als stammesgeschichtlich erworbene, genetisch verankerte adaptive Veränderungen zu verstehen.

Mit drei Fragen haben sich Menschen schon immer auseinandergesetzt: „Woher kommen wir?“, „Wer sind wir?“, „Wohin gehen wir?“. Die Wissenschaftler sind sich weitgehend darüber einig, dass Afrika die Wiege der Menschheit ist. Hier spielten sich die vier entscheidenden Phasen der Evolution des Menschen ab: die Entstehung der Vormenschen (Australopithecien), der Urmenschen (Homo rudolfensis, Homo habilis), der Frühzeitmenschen (Homo erectus) und der anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens). In den tropischen Regenwäldern, die noch vor 20 Millionen Jahren den afrikanischen Kontinent weiträumig bedeckten, lebten die ursprünglichen Populationen der afrikanischen Menschenaffen (Hominoiden) und später auch die ersten Hominiden.

Nicht nur Anthropologen („Erforscher des Menschen“) bemühen sich, auf die Frage „Wer sind wir?“ Antworten zu geben. Auch in anderen Wissenschaftsbereichen (z. B. Ethnologie („Völkerkunde“), Philosophie, Religionswissenschaft, Sozialwissenschaften) versucht man im Hinblick auf diese Fragestellung Erkenntnisse zu gewinnen. Auch die moderne Primatenforschung liefert uns wertvolle Erkenntnisse, die mit dazu beitragen, das Wesen des Menschen zu charakterisieren. Es ist nämlich die „Affennatur“, die eine der Besonderheiten des Menschen ausmacht. Begründung: Nicht nur die meisten körperlichen Merkmale, sondern auch viele Verhaltensweisen von Primaten sind Ergebnisse einer stammesgeschichtlichen Anpassung. Das bedeutet, dass der Mensch körperlich, sozial-emotional und geistig nur als Produkt der Primatenevolution zu begreifen ist.

Übrigens: Ein Mensch (bezogen auf einen 70 kg schweren Mann) kann aus 30 Billionen Körperzellen bestehen. Dass dieser riesige Zellenverband wirkungsvoll arbeitet, erklärt der Nobelpreisträger von 2001, Paul Nurse, damit, dass das Geheimnis „die Einheit in der Vielfalt“ ist. [1] Nach Nurse haben alle Zellen etwas gemeinsam: „Sie wachsen, reproduzieren sich, erhalten sich selbst. Sie leben.“ [2]

Verschaffen wir uns einen Überblick über die Merkmale des Lebendigen:

 Strukturelle Vielfalt und Untergliederung

 Stoffwechsel und Energiewechsel

 Regulation

 Reizbarkeit, Bewegung und Verhalten

 Existenz in Wechselbeziehungssystemen

 Fortpflanzung und Entwicklung des Einzelwesens („ontogenetische Entwicklung“)

 Stammesentwicklung („phylogenetische Entwicklung“)

Selbst, wenn es niemand wahrhaben möchte: Auch der Tod gehört mit zum Leben. [3]

Kommen wir von der Arbeitsleistung eines Zellverbandes zur Arbeitsleistung des anatomisch modernen Menschen. Die Frage, die den südafrikanischen Anthropologen James Suzman dazu veranlasst hat, sich mit dem vergleichenden Aspekt der Arbeit bei den frühzeitlichen Jägern und Sammlern und der Arbeit von Menschen der industrialisierten, „modernen“ Welt zu beschäftigen, ist: „Warum muss der durchschnittliche Bewohner der industrialisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eigentlich mehr arbeiten als ein Mensch aus der Jäger-und-Sammler-Zeit, obwohl die technologische Entwicklung in den Jahrhunderten seitdem das Leben doch hätte erleichtern können?“

In seinem Buch „Sie nannten es Arbeit“ [4] beschreibt der Anthropologe James Suzman drei große Entwicklungssprünge in der Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens sapiens:

 Die Zähmung des Feuers, wodurch sich die frühzeitlichen Menschen vielfältige Ernährungsmöglichkeiten schufen. Die Nutzung proteinreicher Nahrung wird wahrscheinlich mit dazu beigetragen haben, dass sich deren Gehirne entscheidend vergrößerten.

 Der Beginn des Ackerbaus und der Viehzucht, durch den die Menschen des Neolithikums („Jungsteinzeit“) sich in Siedlungen niederließen, aus denen Städte wurden.

 Die industrielle Revolution (Beginn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts), mit der die Menschheit ihren Energieverbrauch enorm steigerte.

Nach James Suzman legt die jüngste Forschung nahe, „dass Jäger und Sammler wahrscheinlich zufriedene, wohlgenährte und egalitäre [auf Gleichheit gerichtet] Gemeinschaften gebildet hätten, die nur kurze Zeit des Tages mit der Nahrungsbeschaffung zubrachten – und sich die meiste Zeit mit den angenehmen Dingen des Lebens beschäftigten.“ [5]

Im Gegensatz dazu dreht sich das Leben heutiger Menschen oft nur um die Arbeit. Bei gegenwärtig 7,95 Milliarden Menschen auf der Erde (Stand Januar 2022) ist allein durch einen Teil der Weltbevölkerung zur Aufrechterhaltung eines gehobenen Lebensstandards der Verbrauch an Naturressourcen und die Verschmutzung der natürlichen Umwelt so groß, dass es angesichts des Klimawandels klüger wäre, aus dem wirtschaftlichen Wachstumsraster zu entkommen.

Jedoch: Der Mensch kommt auf Grund seines stammesgeschichtlichen Erbes in den gegenwärtigen modernen Gesellschaftsformen nicht mehr ohne weiteres zurecht. Dies lässt dich folgendermaßen begründen: Bis vor etwa 15.000 Jahren, das bedeutet während etwa 99,6% der Menschheitsentwicklung, lebten die Menschen ausschließlich als Jäger und Sammler. Man kann sicher davon ausgehen, dass sie an diese Lebensweise gut angepasst waren. Danach entwickelten sich mit Übergangsphasen der Semisesshaftigkeit Pflanzer- und Hirtenkulturen.

Vorratswirtschaft und Tauschhandel bedingten und ermöglichten das Zusammenleben vieler Menschen auf kleinem Raum, nämlich in einem Dorf, und später in der Stadt. Die vermutlich älteste Stadt der Welt, Jericho im Jordantal, entstand 7000 v. Chr. Mit der industriellen Revolution um 1850 wurde die Entstehung von Großstädten und damit eine wahre Bevölkerungsexplosion ermöglicht. Damit ist zwar die Umwelt des Menschen in einem relativ kurzen Zeitraum völlig verändert worden, nicht aber sein Erbgut. Im Zeitalter der Computertechnik und damit im digitalen Zeitalter denken, fühlen und handeln wir allerdings immer noch mit einer „Steinzeitpsyche“.

Eindrucksvoll ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die wichtigste Überlebens- und Entwicklungsleistung unserer frühzeitlichen Vorfahren nicht in der Suche nach Nahrung und nicht in der Abwehr von Naturgewalten sowie von wilden Tieren bestand, sondern in der erfolgreichen Auseinandersetzung mit der größten aller Herausforderungen: dem Zusammenleben mit anderen Menschen.

Wenn es ein „Markenzeichen“ der Spezies Homo sapiens gibt, dann ist es die hochentwickelte Fähigkeit zur Kooperation. Daran ändern auch Phänomene wie Krieg, ideologisch geführter Rassismus sowie Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen nichts. Diese Phänomene sind nicht das eigentliche Wesen des Menschen, sondern sie sind lediglich die Folgen von pervertierten oder misslungenen Kooperationen.

Es gibt, nicht nur genetisch betrachtet, mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen als Unterschiede. Alle Menschen haben die gleiche psychische Grundausstattung und sind deshalb auch zu gegenseitigem Verständnis und zur Zusammenarbeit fähig. [6]

Im Hinblick auf das stammesgeschichtliche Erbe des anatomisch modernen Menschen hatte der österreichische Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928 – 2018) unter anderem folgende Aussagen formuliert: [7]

 Wahrnehmung, Emotionalität und konkretes Handeln des Menschen werden nachweislich von stammesgeschichtlichen Programmierungen [angeborene Verhaltensweisen] mitbestimmt. Diese entwickelten sich in jener langen Zeit, in der unsere [frühzeitlichen] Vorfahren als altsteinzeitliche Jäger und Sammler lebten.

 Mit der technischen Zivilisation [im digitalen Zeitalter] und mit den Millionenstädten [„Megastädte“ bzw. „megaurbane Räume“] schufen wir uns eine Umwelt, für die wir biologisch nicht geschaffen sind. Die kurze Zeit, in der wir unter diesen Bedingungen leben, reichte nicht aus, um uns genetisch an die neuen Lebensbedingungen anzupassen.

 Biologisch ist auch der moderne Mensch an ein Leben in territorialen Kleingruppen angepaßt, die sich gegen andere abgrenzen. Familie (Drei-Generationen-Familie) und Sippe [eine Vielzahl von Familien umfassende Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Abstammung] bilden die Kristallisationskerne solcher Gemeinschaften.

 Der Mensch der Altsteinzeit lebte naturnah und angepaßt an die Herausforderungen eines risikoreichen Lebens. Das züchtete ihm eine Risikoappetenz an, die wir in Ersatzhandlungen ausleben. Die Belastungen der Neuzeit wie Arbeitsstreß, berufliche Abhängigkeit von anderen, Naturferne und das Fehlen der traditionellen Herausforderungen belasten uns zusätzlich und sorgen für Irritation.

 Die Prognosen für den Aufbau einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft sind […] wenig günstig. Grenzt sich in einem bereits besiedelten Gebiet eine weitere, landlose Solidargemeinschaft ab, die mit den Ortsansässigen um begrenzte Ressourcen konkurriert, dann löst dies territoriale Abwehr aus. Ferner bekräftigt die Angst um Identitätsverlust die Xenophobie [„Fremdenscheu“]. In Krisenzeiten kommt es dann leicht zu Konflikten.

 Wir müssen lernen, in längeren Zeiträumen vorauszudenken, und dementsprechend ein generationsübergreifendes Überlebensethos ausbilden. Dazu müssen wir die Falle des Kurzzeitdenkens, die „Konkurrenzfalle“, vermeiden.

Es lohnt sich, auf ein neuzeitliches Phänomen einzugehen, mit dem sich der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa intensiv beschäftigt hat: Beschleunigung und Entfremdung. [8] Seiner Ansicht nach ist Beschleunigung das alles beherrschende Phänomen unserer modernen Zeit (Der Vorstandschef von Microsoft, Steve Ballmer: „Schneller! Schneller! Schneller! Schneller!“). [9]

Nach Hartmut Rosa verschafft sie den Menschen nicht mehr, sondern weniger Freizeit. Im Zeitalter der Beschleunigung hat sich nicht nur das individuelle Lebenstempo beschleunigt (ein auslösender Faktor ist das Konkurrenzdenken), sondern die Politik hat ihre beherrschende Rolle verloren. In der „Beschleunigungsgesellschaft“ werden die Objekte nicht mehr repariert. Die Folge eines beschleunigten Lebenswandels ist die „Wegwerfkultur“. Für Hartmut Rosa führt der beschleunigte Lebensstil der Gegenwart zu einer Entfremdung des Individuums vom Raum, von den Dingen, von der Zeit und den eigenen Handlungen.

Seit der Steinzeit lässt sich der Einfluss des Menschen im Bodenbereich seiner Umwelt nachweisen. Die letzten 12.000 Jahre kennzeichnen das Zeitalter des Holozän. In diesem jüngsten, nacheiszeitlichen Abschnitt des Erdzeitalters hat der Mensch, um es noch einmal hervorzuheben, eine wesentliche Wandlung seines Lebensstils vollzogen, indem ursprüngliche Jäger und Sammler sesshaft wurden und Ackerbau und Viehzucht betrieben.

Aus aktuellem Anlass einer grundlegenden Veränderung der Erde diskutieren Wissenschaftler darüber, ob durch die neuzeitlichen Veränderungen auf der Erde, hervorgerufen durch die jetztzeitlichen Menschen, von einer neuen geologischen Epoche gesprochen werden kann, dem so genannten Anthropozän („Das Zeitalter des Menschen“). Es sind sechs schwerwiegende Umweltveränderungen, die in ihren Auswirkungen als bedeutsam angesehen werden: [10]

 Veränderung der Oberfläche des Bodens an Land, z. B. durch Straßen, Steinbrüche und landwirtschaftliche Flächen.

 Ausbreitung eines dichten Netzes im Boden-Untergrund von U-Bahn-Schächten, Wasserrohren, Strom- und Telefonleitungen sowie von Tunnelsystemen und Geheimgängen

 Auswirkungen durch den Bergbau (Abbau von Lagerstätten der Bodenschätze in Bergwerken [„unter Tage“] oder im Tagebau)

 Bohrungen in der Erdkruste

 Anlegen von unterirdischen Deponien, z. B. für radioaktiven Abfall, für chemischen Müll, Erdgas, Trinkwasser oder für Kohlenstoffdioxid (CO2)

 Unterirdische und oberirdische Atomtests, wodurch viel, sich toxisch auswirkende Radioaktivität freigesetzt wird.

Wenden wir uns einem weiteren Problem zu, in diesem Fall einer sozialen Problematik, in Verbindung mit der Frage, welche wichtigen Überlebens- und Entwicklungsleistungen heutzutage zu vollbringen sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Interview, das die Journalisten Jochen Bittner und Martin Machowecz von der ZEIT-Redaktion mit dem Altbundespräsidenten Joachim Gauck geführt haben. [11] Die auszugsweise wiedergegebenen Ausführungen beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021.

ZEIT: „Was ist los mit unserem Land? Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. […]

ZEIT: Warum verhallt es? Gauck: Weil wir nicht mehr ausreichend wagen. Die Tugend des Mutes ist unterbewertet, weil es uns seit Generationen sehr gut geht. Wir leben seit vielen Generationen ohne Krieg, ohne Not und mit beständig wachsendem Wohlstand. Menschheitsgeschichtlich ist das unnormal. Man kann so tun, also wäre dieser Zustand durch Stillhalten zu sichern. Aber wenn wir beispielsweise die Wirtschaft betrachten, spüren wir, dass dies eine Haltung ist, die innovationsfeindlich ist. ZEIT: Die Anzahl der in Deutschland angemeldeten Patente geht seit Jahrzehnten zurück. GAUCK: Das ist ein Zeichen. Da zeigt sich diese Scheu vor Wagemut. Warum? Diese Nation ist zweimal sehr geprägt worden durch Übermut, unter Wilhelm Zwo und unter Adolf Hitler. ZEIT: Und jetzt leidet sie unter Untermut? GAUCK: Dieses Land hat ein Defizit, weil es nicht zu glauben vermag, was es schon geschafft hat: Diese großartige Rechtsstaatlichkeit, das Gros einer rechtstreuen Bevölkerung, der wirtschaftliche Erfolg bei gleichzeitigem Funktionieren eines Sozialstaats, eine wache Zivilgesellschaft. All dieses Gelungene müsste uns dazu führen, Verantwortung weiter zu bejahen und sie auch in neuen Situationen zu wagen. Die Leitkultur der Zurückhaltung war eine Zeit lang gut und richtig. Aber wenn du ihr nicht irgendwann entwächst, verpasst du dein Erwachsenwerden.“

Wären wir bloß Jäger und Sammler geblieben

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