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3. Die Kulturrevolution

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Der Juni 1966 war ein warmer Monat. Inzwischen hatte die berühmt-berüchtigte Kulturrevolution begonnen. Viele Menschen sehen bei dem Wort „Kulturrevolution“ vor allem die Massenparaden der Roten Garden und die fanatische Begeisterung für Mao Zedong vor ihrem inneren Auge. Sie wissen nicht, dass dies auch einer der brutalsten Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts war. Heute spricht man in China nicht gerne über dieses dunkle Kapitel in der Geschichte der Nation, und die meisten Bücher, die es wagen, die Morde und Gräuel der Kulturrevolution zu erwähnen, kommen auf den Index.

Die Kulturrevolution war ein Projekt Maos, der jede Rückkehr Chinas zum Kapitalismus verhindern wollte. Er hatte den Eindruck, dass der Klassenkampf mit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 nicht wirklich geendet, sondern nur neue, heimtückischere Formen angenommen hatte. Die reichen Grundbesitzer waren liquidiert, aber was war mit den neuen Klassen der Intellektuellen, die möglicherweise Reste „bürgerlicher“ Vorstellungen bewahrt hatten? Und so entfesselte Mao eine intensive Propagandakampagne, die die chinesische Jugend dazu aufrief, den „vier Alten“ den totalen Krieg zu erklären. Die „vier Alten“, das waren die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Gewohnheiten und die alten Ideen, und dazu gehörten auch alle alten Religionen, vor allem jedoch das Christentum, wegen seiner historischen Verbindung zum Westen und seinen Werten.

Während der Kulturrevolution wurden Kirchen zerstört, Bibeln konfisziert und verbrannt und Pastoren, Prediger und andere Christen verhaftet und brutal verfolgt. Es war eine dunkle Zeit für die Kirche in China.

Die Verfolgungswelle erfasste auch Opa Sun, der als bekannter Christ in der Stadt zu einer Zielscheibe des Kampfes gegen das Alte wurde. Er hat viel für das Evangelium gelitten. Den heraufziehenden Sturm spürte er zeitig, und so schickte er eines Tages zwei Männer los, um mich zu ihm zu holen. Als ich bei ihm eintraf, reichte er mir seine Bibel. Der Blick in seinen Augen war dringend, seine Stimme gepresst. Irgendwie muss er gespürt haben, dass seine Tage gezählt waren und dass er das Ende des Sturmes nicht mehr erleben würde.

Als er mir die Bibel übergab, sagte er: „Mein Junge, dieses Buch ist ein himmlisches Buch. Es ist unser großer Schatz in diesem Leben. Bewahre es wie deinen Augapfel; sieh zu, dass du es immer bei dir hast, solange du lebst. Es muss dir kostbarer sein als dein eigenes Leben.“

Ich nahm die Bibel feierlich entgegen und versprach Opa Sun, auf sie achtzugeben, und wenn es mich das Leben kosten würde. Es war eine große, schwarze Bibel, die viele Jahre auf dem Buckel hatte. Opa Sun hatte unzählige Male in ihr gelesen und Stellen, die ihm wichtig waren, markiert. Die Schriftzeichen waren die alten, nicht die vereinfachten modernen, die wir in der Schule gelernt hatten. Opa Sun hatte die Bibel 1933 in einer Kirche in unserer Gegend erstanden.

Ich nahm die Bibel mit nach Hause. Jetzt hatte ich zum zweiten Mal eine Bibel bekommen! Oben auf dem Berg, wo wir wohnten, war es ruhiger und man wurde nicht so leicht vom Arm der Regierung erreicht wie in anderen Gegenden. Ich bewahrte diese Bibel in meinem Kopfkissen auf, und jeden Abend zog ich sie hervor, um meiner Mutter und Schwester Gottes kostbares Wort vorzulesen. Sie selbst konnten nicht lesen. Manchmal las ich ihnen bis Mitternacht vor. In jenen schweren Tagen brachten die Worte unseres Herrn unseren müden Seelen viel Trost.

Nicht lange nachdem er mir seine Bibel geschenkt hatte, wurde Opa Sun öffentlich gedemütigt und gefoltert, bis er schließlich seine Märtyrerkrone bekam. Parteibeamte zerrten ihn aus seinem Haus und zwangen ihn, die Hauptstraße meines Heimatortes entlangzugehen, mit einem Schild um den Hals, auf welchem groß die Aufschrift prangte: „Jesus-Nachfolger“. Was für ein wunderbares Schimpfwort! Für die Kommunisten war er ein Konterrevolutionär. Ich stand hilflos in der Menge, als sie ihn durch die Straßen stießen, während die Umstehenden ihn verhöhnten und schlugen.

Auf dem Kopf hatte Opa Sun eine Art Narrenkappe aus Zeitungspapier. Er sah aus wie ein hilfloses Lamm unter lauter Wölfen, aber anders als meine Schafe konnte er von mir keinen Schutz erwarten. Ich stand da und konnte nichts tun. Es drückte mir das Herz zusammen.

Bevor er starb, sah Opa Sun mich an und sagte: „Junge, ich glaube, der Herr wird dich reich gebrauchen. Ich gehe jetzt heim. Vergiss dies eine nie: Predige die frohe Botschaft von Jesus Christus und höre nicht auf damit, ob es die rechte Zeit dafür ist oder nicht.“ (Vgl. 2. Timotheus 4,2.) Ich habe diese Worte nie vergessen. Sie sind in mein Gedächtnis eingegraben als echtes Zeichen des aufopferungsvollen Dienstes: „... ob es die rechte Zeit dafür ist oder nicht“.

1967 ging die Kulturrevolution in ihr zweites Jahr. Die Christen wurden immer mehr verfolgt und zerstreut. Alle Kirchentüren waren geschlossen, niemand wagte es mehr, offen Gottesdienste oder Bibelstunden abzuhalten. Wir standen an der Schwelle der finstersten Jahre unserer Geschichte.

Eines Tages las ich im Hebräerbrief den Satz: „Lasst uns nicht unsere Versammlungen verlassen, wie einige zu tun pflegen“ (Hebräer 10,25), und ich erkannte, dass es nicht recht war, wenn die Christen sich nicht mehr zu Gottesdiensten trafen. Hier stand ja nicht: „Lasst uns nicht unsere Versammlungen verlassen, es sei denn, die Verfolgung wird zu stark.“

Irgendwie mussten wir weiter als Christen zusammenkommen, egal was es kosten würde. Und wir fingen an, uns heimlich zu treffen. Es war der Beginn einer Untergrundkirche. Anfangs waren wir nur drei bis fünf Personen. Da ich eine Bibel besaß und sie seit einiger Zeit studierte, war es nur natürlich, dass ich diese Treffen leitete.

Wir beteten gemeinsam und sangen Lieder − aber so leise, dass die Nachbarn uns nicht hören konnten. Anfangs bestand unsere Gemeinde nur aus meiner Schwester, meiner Mutter, mir und ein, zwei Nachbarn. Ich las ihnen Geschichten aus der Bibel vor, die ich dann ganz schlicht und so, wie ich es konnte, auslegte.

Ich beriet mich mit meiner Mutter und wir kamen zu dem Schluss, regelmäßig solche Gottesdienste in unserem Haus abzuhalten. Das war sehr gefährlich, und viele der Glaubensgeschwister aus unserem Ort rieten uns: „Passt auf! Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!“ (Vgl. Matthäus 10,16.) Sie begriffen nicht, dass wir in solch gefährlichen Zeiten so ein Risiko eingehen wollten.

Als wir mit den heimlichen Gottesdiensten in unserem Haus anfingen, hatten die meisten unserer Nachbarn zu viel Angst, um zu kommen, obwohl sie es gern getan hätten. Nun gut, zur Not würden wir uns auch zu zweit über das Wort Gottes austauschen und Lieder zu seiner Ehre singen − nur meine Mutter und ich. Es müssen wohl die kleinsten Gottesdienste in der Geschichte der Welt gewesen sein. Aber wir wussten: Egal wie wenige wir waren, der Herr war mit uns; hatte er nicht versprochen, dass er dort, wo auch nur zwei oder drei in seinem Namen versammelt waren, mit dabei sein würde?

Nach etwa sechs Monaten wurde unsere kleine Gemeinde allmählich größer. Bald waren wir zu fünft. Im folgenden Jahr (1968) waren wir dreizehn. Wir hatten nicht viel zu bieten, aber wir waren einmütig und liebten einander und jeder trug das Seine zum Gottesdienst bei.

Damals hatten wir keinen Pastor und auch kein Radio, mit dem wir christliche Sender hätten hören können. Es gab auch keine Bibelkommentare, Andachtsbücher oder Ähnliches. Alles, was wir hatten, waren die Worte der Bibel. Wir baten Gott, uns das, was wir da lasen, aufzuschließen. Und tatsächlich sprach uns sein Wort ganz direkt an, manchmal so, dass wir zu Tränen gerührt waren. Dann hielten wir uns weinend an den Händen, während wir zusammen beteten. Wir riefen zu Gott und er antwortete uns. Diese Gottesdienste konnten mehrere Stunden dauern, weil niemand Lust hatte, aufzuhören und nach Hause zu gehen.

Wir erlebten auch Wunder, zum Beispiel Krankenheilungen. Einmal war mein Onkel sterbenskrank. Wir beteten für ihn und sagten ihm, dass Jesus die Macht hat, auch ihn zu erlösen. Wir wussten, dass er in seinem Haus Götzenbilder hatte, und so gingen wir hin und zerstörten sie. Zwei Tage später kam er wieder zu sich (er war bewusstlos gewesen) und bat um etwas zu essen. Er war komplett geheilt und hatte einen Bärenhunger!

Der Vater meines Onkels konnte die chinesischen Schriftzeichen nicht lesen. Wir beteten für ihn um die Fähigkeit zu lesen. Wir glaubten, dass Jesus dazu imstande war, sie ihm zu schenken. Sofort nach unserem Gebet konnte der Mann fließend Chinesisch lesen!

Man begann sich zuzuflüstern, was für erstaunliche Versammlungen wir da in unserem Haus abhielten. Mehr und mehr Menschen kamen dazu. Bald waren wir so viele, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen mussten. Wir sahen uns nach einem zweiten Haus um, wo man sich ungestört treffen konnte, und fanden es in Guangquan, einer Nachbarstadt. In der dunkelsten Stunde Chinas war Gott mit uns und ließ seine Gemeinde wachsen.

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