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1. Der „Große Sprung nach vorn“

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Ich bin am 23. März 1951 geboren, im Bezirk Fangcheng der Provinz Henan im östlichen Zentralchina. Der Zeitpunkt lag in einer der schwierigsten Epochen in der langen Geschichte unseres Landes. Meine Familie war sehr arm. Ich war das mittlere von drei Kindern; meine ältere Schwester ist heute 73 Jahre alt, die jüngere 57. Mein Vater war Schreiner und tat sein Bestes, um die Familie zu ernähren, aber manchmal hatten wir so wenig zu essen, dass wir draußen nach Wildgemüse suchten. Meine ältere Schwester konnte Hunger aushalten, aber meine jüngere Schwester und ich baten unsere Mutter den ganzen Tag weinend um etwas zu essen. Unsere Mutter liebte uns mehr als ihr eigenes Leben, und eines Tages, als wir wieder vor Hunger weinten, sagte sie: „Liebe Kinder, bitte weint nicht! Eure Mama weiß doch, dass ihr Hunger habt, aber wenn ihr so weint, tut mir das Herz noch mehr weh.“ Wir spürten den Schmerz unserer Mutter und hörten auf zu weinen. Allmählich lernten wir, den Hunger zu ertragen.

1956 nahmen mich meine Eltern mit in die Stadt Lushan und danach nach Nanyang und Zhenping, um zu betteln. Wir gingen von Tür zu Tür und baten um Lebensmittel. Oft bot mein Vater gegen etwas Reis seine Schreinerdienste an. Manche Leute waren sehr unfreundlich und konnten nicht verstehen, warum wir bettelten. Andere waren bereit, das bisschen, was sie hatten, mit uns zu teilen. Viel war es nie, denn damals war fast jeder arm. Der Hunger war allgegenwärtig und die ausgemergelten Leichen Verhungerter waren ein gängiger Anblick auf den Straßen.

Unsere Familie musste also ums nackte Überleben kämpfen. Den ganzen Tag bettelten wir an den Türen um Essen – und hatten abends oft doch nicht mehr als zwei Schalen Reis für unsere Familie. Das ging volle zwei Jahre so, jeden Tag; wir wären sonst verhungert. Heute finde ich es skandalös, wenn Kinder um Essen betteln müssen. Die ständige Ablehnung und Unsicherheit, die ich damals miterlebte, haben bis heute Spuren in meiner Seele hinterlassen. Diese Jahre waren furchtbar.

Dann erließ die Regierung ein Gesetz, nach welchem mehrere Haushalte sich denselben Kochtopf teilen mussten, was bedeutete, dass wir etwas vom Essen unserer Nachbarn abbekamen. Es war nicht viel, aber wir brauchten nicht mehr zu betteln. Der „Große Sprung nach vorn“ (1958-1961), mit dem die Kommunistische Partei die Modernisierung des Landes forcieren wollte, führte aber zur Verknappung von Kochtöpfen, weil die Haushalte 1958/59 ihre Töpfe an den Staat abliefern mussten, um so die Stahlproduktion zu erhöhen. Für Mao war eine Großmacht ein Staat, der viel Stahl produzierte. Folglich wollte er England und die USA in der Stahlproduktion überholen, um China nach vorne zu bringen. Das Ergebnis war, dass es in unserem Dorf für 250 Haushalte nur noch einen einzigen Kochtopf gab, was zur Folge hatte, dass wir nur alle sieben oder acht Tage Nudeln essen konnten – und wer die Provinz Henan kennt, der weiß, dass Nudeln dort das Hauptnahrungsmittel sind.

1960 standen wir vor lauter „Sprung nach vorn“ am Rande des Todes. 1958-1962 erlebte China die wohl größte Hungersnot in der Geschichte der Welt. Der Modernisierungswahn des Regimes hatte zu einer menschengemachten Katastrophe geführt, die im Laufe von vier Jahren schätzungsweise 45 Millionen Menschen den Tod brachte – nicht nur durch Verhungern, sondern auch durch Schläge, Folter und Zwangsarbeit. Damals war Mao Zedong, der nach der Machtergreifung 1949 als Vater der Kommunistischen Partei galt, Chinas Führer. Er leugnete beharrlich, dass es Hungersnöte gab; das Land ging lediglich durch eine „Periode der Knappheit“ – basta. Damals wurden in manchen Kollektiven oder Kommunen Lebensmittel nach der Arbeitsfähigkeit der Menschen zugeteilt, was bedeutete, dass die Alten, Schwachen, Kranken und Behinderten verhungerten.

Am schlimmsten traf die Hungersnot die ländlichen Gebiete. Viele Familien versuchten, aus allem, was sie auftreiben konnten (sogar Baumrinde), Suppe zu machen. Die Regierung konfiszierte von den Bauern Vieh („für das Wohl des Volkes“), nur um anschließend das Fleisch in den Händen unqualifizierter Stadtmenschen oder Parteikader verkommen zu lassen. Immer wieder wurden Kinder, die zu schwach waren, um auch nur noch zu weinen, auf den leeren Feldern liegen gelassen, um zu sterben. Über eine Million Menschen zogen den Selbstmord dem Hunger und der Verzweiflung vor.

Einer der Millionen Hungertoten dieser Jahre war mein Vater, der im Februar 1960 verhungerte, worauf meine Mutter allein mit uns Kindern dasaß. Eines Tages hatte sich mein Vater hingelegt, um zu schlafen, und war nicht mehr aufgestanden. Obwohl ich damals schon neun war, habe ich so gut wie keine Erinnerung daran – vielleicht weil ich nicht dabei war, als er starb. Meine Mutter sagte mir nur, dass Papa nicht mehr da war. Es war nichts Besonderes; wir rechneten damals alle damit, früher oder später zu verhungern.

Irgendwie fasste ich es trotzdem nicht, dass mein Papa nicht mehr da war. Ich rechnete jeden Augenblick damit, seine Stimme zu hören. Abends wartete ich darauf, dass er in unser Zimmer kommen würde, um uns Kinder ins Bett zu bringen. Aber er kam natürlich nicht. Für mich war der Tod schwer zu begreifen. Er war für mich der große Unbekannte, obwohl überall um mich herum Menschen starben. Mit der Zeit sollte er mir jedoch sehr vertraut werden – vertrauter, als mir lieb sein konnte.

Mit China ging es damals steil bergab, aber als Kind begriff ich nicht, warum das so war. Ich wusste nur, dass ich Hunger hatte und dass meine Mutter sich abrackerte, um für ihre Kinder genug zu essen aufzutreiben. Jeder Tag war ein neuer Überlebenskampf. Unser Dorf (in China gelten auch Orte in der Größenordnung deutscher Großstädte als Dörfer; d. Übers.) hieß Longchuan (heute Yangji) und hatte an die 200.000 Einwohner. Unser Zuhause war eine Hütte mit Wänden aus Lehm und Gras. Wir teilten sie mit drei anderen Familien; in der einen Ecke war ein kleines, dunkles Zimmer, wo wir alle auf dem Lehmfußboden schliefen. Ich sehe meine Mutter heute noch vor mir, wie sie spätabends unser Lager auf dem Fußboden herrichtete, wie eine Glucke für ihre Küken.

Nach einem Tag voller Sorgen und Arbeit war meine Mutter oft todmüde. Sie war so unterernährt, dass ihre Haut an den Knochen zu kleben schien. Wenn sie etwas zu essen bekam, gab sie es immer uns, anstatt es selbst zu essen. Ich weiß noch, wie ich selbst in dem dunklen Schlafzimmer ihre Silhouette ausmachen konnte, wenn sie uns ins Bett brachte.

In jenen Jahren kämpfte meine Mutter jeden Tag mit dem Tod. Ich glaube, sie wäre gerne gestorben, wenn sie nicht für uns Kinder hätte sorgen müssen. Sie hatte erlebt, wie unser Vater einschlief und nicht mehr aufwachte, und hatte Angst, dass uns das auch passieren würde. Dann kam der Tag, an dem meine ältere Schwester heiratete, sodass meine Mutter nur noch meine jüngere Schwester und mich im Haus hatte. Ich bin überzeugt, dass es die Liebe meiner Mutter zu uns war und ihre Entschlossenheit, für uns zu sorgen, die sie einen Tag nach dem anderen am Leben hielt.

Wenn sie sich abends neben mich legte, sah sie mich immer an, als ob dies das letzte Mal wäre, und dann durchbrach ihre Stimme die Stille: „Junge, ich hab meine Schuhe für die Nacht ausgezogen, aber ich weiß nicht, ob ich sie morgen früh wieder anziehen werde.“ Ich wusste genau, was sie meinte, und es tat mir furchtbar weh. Mein Gehirn begann jedes Mal zu arbeiten. Wie würde das sein − ohne Mama zu leben? Meinen Vater hatte ich schon verloren; dass auch sie noch ging, durfte nicht sein!

Sie sprach weiter in die Finsternis hinein: „Wenn ich morgen früh nicht mehr aufwache, musst du zum Haus deiner älteren Schwester laufen, sofort! Hörst du mich? Sie wird für dich sorgen.“ Es waren immer ihre letzten Worte, bevor ich einschlief. So verbrachte ich meine Kindheit. Sie war schwer und voller Angst. Noch heute spüre ich den Schmerz, wenn ich an diese Tage zurückdenke.

Selbst für die damaligen Verhältnisse in China war unser Dorf ein Notstandsgebiet. Es gab bei uns so viele Hungertote, dass der Regierung schließlich nichts anderes übrig blieb, als sich der Realität zu stellen und etwas zu tun. Sie ordnete Hilfsmaßnahmen zur Verteilung von Lebensmitteln unter den Familien in unserem Dorf an.

Jetzt war der Hungertod gebannt, aber wir waren immer noch stark unterernährt. Es gab sehr wenig zu essen und kein Salz. Meine Mutter schnitt sich schließlich ihr Haar ab und verkaufte es, um mit dem Erlös Reis und Salz für uns zu kaufen. Mit ihrer Glatze wurde sie prompt zum Gespött des ganzen Dorfes. Als ich sah, wie die Leute sie auslachten und was für eine Schmach sie auf sich nahm, um uns zu essen zu geben, bekam ich ein richtig schlechtes Gewissen.

Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist immer eine ganz besondere. Nach dem Tod meines Vaters war ich der einzige „Mann“ im Haus. Als ich merkte, was meine Mutter auf sich nahm, um meine jüngere Schwester und mich über die Runden zu bringen, fühlte ich mich verantwortlich und ihre Last wurde meine Last, ihre Schmach meine Schmach und ihre Tränen wurden meine Tränen. Was musste sie ertragen! Ich sah es als meine Aufgabe, meiner Mutter Schutz und Trost zu geben, aber ich konnte nichts an ihrer Not ändern.

Viele Jahre später, am 2. Oktober 2005, saß ich in meiner Gefängniszelle, als die Erinnerung an meine Mutter und was sie alles für mich getan hatte, mich plötzlich überwältigte. Ich wollte ihr das so gerne sagen, aber sie lebte nicht mehr. So schrieb ich das folgende Gedicht:

Meine Mutter,

am 4. März 2003, mit 86 Jahren, bist Du von mir gegangen.

Ich weinte neben dem Bett, wo Du schliefst,

ich schaute Dich an und mein Herz tat mir weh.

Die Erinnerung an Dich ist wie ein Film in meinem Kopf:

An den Frühling im Jahr 1962,

in dem Jahr, als die Not unser Land drückte.

Wir hatten kein Salz mehr im Schrank,

aber die Gesundheit Deiner Kinder war Dir immer wichtig.

Du kauftest, was wir brauchten,

mit den Locken Deines eigenen Haares.

Jetzt hatte mein Essen Geschmack, aber mein Herz blutete.

Auf der Straße sahen die Leute sich nach Dir um,

ja, einige spotteten: „Schaut her, die hat ja eine Glatze!“

Mutter, ich hätte es nie essen sollen, jenes Salz,

ich hätte es nicht zulassen sollen, dass Du Dein Haar

abschnittest.

Mutter, jetzt geht es Deinen Kindern viel besser,

aber Du bist fort.

Wie gerne hätte ich Dich bei mir behalten,

sodass Du von dem Salz hättest kosten können,

das Dein Sohn gekauft hat.

In all dem Elend damals schaffte meine Mutter es, mich auf die Schule zu schicken. Obwohl wir hungerten und obwohl mein Vater nicht mehr da war. Es ist nicht einfach, eine alleinerziehende Mutter zu sein, und es wird noch schwerer, wenn man mitten in einer Hungersnot steckt, die ein verblendetes Regime durch seine abenteuerliche Politik heraufbeschworen hat.

Meine Mutter tat also, was sie konnte, damit ich zur Schule gehen konnte. Doch dann kam der Tag, an dem sie merkte, dass sie nicht mehr das nötige Geld dazu hatte; sie konnte gerade noch genug zusammenkratzen, damit wir zu essen hatten. Ich wollte aber auf keinen Fall die Schule abbrechen. Sie war meine einzige Chance, es im Leben einmal besser zu haben. Meine Mutter hatte getan, was sie konnte; jetzt musste ich mir selbst etwas überlegen.

Und dann hatte ich eine Idee, wie ich mir das Schulgeld verdienen konnte. Angesichts der Hungersnot waren die Menschen bereit, so ziemlich jedes Tier zu essen. Ich beschloss, Maulwürfe zu fangen, die ich den Dorfbewohnern als Fleisch verkaufen konnte. Fünfzig Maulwürfe, so hatte ich ausgerechnet, müssten für ein halbes Schuljahr reichen. Ich erfand auch eine ebenso raffinierte wie erfolgreiche Methode, die Tiere zu fangen. Vier Jahre lang florierte mein privater Maulwurfhandel. Der Erlös reichte für mein Schulgeld, sodass meine Mutter sich nicht mehr darum zu sorgen brauchte, wie sie mir den Schulbesuch ermöglichen konnte. Doch nach den vier Jahren wurden die Maulwürfe immer weniger, gerade so, als ob auch sie die Hungersnot zu spüren bekämen. Ich musste die Schule abbrechen.

Das war ein herber Schlag für uns alle. Mir kam es vor, als ob meine Zukunft sich in Luft auflöste. Ich versuchte, eine andere Einnahmequelle zu finden, aber mir fiel nichts ein und meine Mutter brauchte zu Hause auch meine Hilfe. Ich wollte unserer Familie so gerne eine bessere Zukunft schenken, aber wir wussten nie, was der nächste Tag bringen würde. Überleben war wichtiger als Bildung.

Als ich viel später – im Jahre 2005 – auf einer Wiese ein paar Maulwurfshügel sah, musste ich wieder an jene schwierige Zeit denken. Wenn ich heute irgendwo Maulwürfe sehe, möchte ich ihnen am liebsten zuwinken und mich dafür entschuldigen, wie ich damals ihre Vorfahren verfolgt habe. Und ich sagte mir auf jener Wiese 2005 auch, dass ich zwar die Schule nicht hatte abschließen können, aber dass sich das Geld, das ich in meine Schulzeit gesteckt hatte, doch ausgezahlt hatte, denn so konnte ich später fleißig die Bibel lesen und studieren, um Menschenseelen zu retten.

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