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4. Karriere in einer politischen Bande

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Am 28. Juli 1967 kam meine Mutter zu mir in die Berge, wo ich meine Schafe hütete. Sie bat mich, für sie in die Stadt zu gehen und ein paar Einkäufe zu machen − Salz, Streichhölzer, Lampenöl usw. Als ich die Stadt erreichte, waren dort Straßenkämpfe in vollem Gang. Es gab damals in Henan zwei große politische Banden, die „Henan-Rebellen“ und die „Er-Qi-Bande“. Beide waren kommunistisch, aber ansonsten wie Hund und Katze, und sie lieferten sich immer wieder blutige Auseinandersetzungen.

Beide Banden rekrutierten sich aus Gewerkschaftsmitgliedern vor Ort, sodass an diesem Tag die halbe Stadt auf den Beinen war zum Demonstrieren und Kämpfen, anstatt zu arbeiten. Es war das totale Chaos. Die Kämpfe endeten mit dem Sieg der Henan-Rebellen.

Ich hatte die Straßenschlacht aus sicherer Entfernung beobachtet. Als ich in mein Dorf zurückkehrte, erzählte ich den Nachbarn, was ich da in der Stadt mitbekommen hatte. Kurz zuvor hatte Mao Zedong die Hauptstadt der Provinz Henan, Zhengzhou, besucht und sich dabei zustimmend zur Er Qi geäußert, doch dies hatte sich in der Zeit vor Telefon und Internet noch nicht herumgesprochen, sodass die beiden Banden nicht wussten, dass Mao sich gerade hinter die eine von ihnen gestellt hatte.

Ich hätte wohl besser nicht der halben Nachbarschaft erzählt, dass ich während jener Kämpfe in der Stadt gewesen war. Bald hieß es im Dorf, dass ich selbst mitgekämpft hätte. Plötzlich war ich jemand und ich bekam neue Freunde − und Feinde.

Nachdem ich den Nachbarn von den Geschehnissen in der Stadt erzählt und meine Einkäufe bei meiner Mutter abgeliefert hatte, ging ich zurück zu meiner Schafherde. Ich wusste nicht, dass die Anführer der Henan-Rebellen mich suchten. Sie glaubten, dass ich ein führender Kopf in der Er Qi sei und an jenem Tag gegen sie gekämpft hätte. Während ich bei meinen Schafen war, klopften Vertreter beider Banden zu Hause bei meiner Mutter an.

Meine Mutter hatte in der Nacht zuvor einen Traum gehabt, in welchem ich ein kleiner Esel war und mehrere Personen mich als Arbeitstier brauchten. Als die Chefs der beiden Gruppen kamen, führte meine Mutter sie zu mir. Der Boss der Er Qi glaubte, dass ich auf seiner Seite stand, und wollte, dass ich mich seiner Bande anschloss; sein Rivale von den Henan-Rebellen hatte vor, mich mit einem Schild um den Hals durch die Straßen zu treiben, um mich öffentlich zu demütigen.

Der Er-Qi-Anführer sagte: „Wir sind durch dein Dorf gegangen und du scheinst der Einzige zu sein, der für unsere Bewegung ist. Wir sind sicher, dass wir gewinnen werden. Wie wär’s? Hättest du Lust, unser Chef für diese Gegend zu werden?“

Ich erwiderte: „Ich habe mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun. Ich bin ein einfacher Schäfer. Ich habe für keine Seite Partei ergriffen.“

Ich wollte mich aus diesem Konflikt heraushalten, aber andererseits … Es war ein verführerisches Angebot. In jenen Tagen galt es in China als ehrenhafte Sache, sich den jungen Aktivisten anzuschließen. Ich würde etwas für mein Land tun und meine Familie wäre stolz auf mich. Die Idee, dass die Kommunistische Partei doch strikt gegen meinen Glauben stand, kam mir nicht. Ich betrachtete mich als chinesischen Patrioten. Ich war stolz darauf, Chinese zu sein, und wollte meinem Land nach besten Kräften dienen.

Und so schloss ich mich der Er Qi an. Einer Gruppe beizutreten, die von der Kommunistischen Partei, ja von Mao Zedong persönlich unterstützt wurde – das schien wie der Freifahrtschein in eine bessere Zukunft. Alle meine Nachbarn sagten mir, was für ein Glückspilz ich sei, dass ich mich der Jugendrevolution anschließen konnte. War das nicht genau ein Beispiel dafür, wie denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen (vgl. Römer 8,28)?

Die Idee eines neuen Chinas begeisterte mich und ich stand ganz hinter den Vorstellungen der Revolution. Ich verschlang die „Worte des Vorsitzenden Mao Zedong“, die „Mao-Bibel“, die wir zu besitzen, zu lesen und ständig bei uns zu tragen hatten. Ich glaubte ihr, lernte sie buchstäblich auswendig und konnte sie bei Bedarf jederzeit aufsagen. Ich war ein Musterrevolutionär, der sie ständig studierte und überallhin mitnahm.

Was soll ich heute dazu sagen? Ich war jung und voll von der oft irregeleiteten Begeisterung der Jugend. Unter Mao Zedong war das Land wie von einem Fieber ergriffen, das von jungen Patrioten wie mir verbreitet wurde. Alle die Regeln und Traditionen des alten Chinas wanderten in die Mülltonne. Jetzt konnten auch Mädchen zur Schule gehen und wurden von dem Zwang befreit, sich die Zehen einbinden zu lassen, was die berüchtigten Klumpfüße zur Folge gehabt hatte. Der ganze Ahnenkult mit seinem Aberglauben, die taoistischen und buddhistischen Tempel mit ihren Götzenstatuen − fort damit! Die ausländischen „Imperialisten“, die unser Land doch nur ausbeuten wollten, wurden verjagt, und das alte Klassensystem und die Idee der Erbmonarchie wurden in den Orkus der Geschichte gefegt.

Jetzt waren alle Bürger gleich und bekamen auch das gleiche Geld für ihre Arbeit. Ein Arzt verdiente nicht mehr als die Männer von der Müllabfuhr. Der Grundbesitzer hatte keine Macht mehr über den einfachen Bauern, der Land pachten musste, um seine Familie ernähren zu können. Der Fabrikbesitzer konnte seine Angestellten nicht mehr Tag und Nacht wie Sklaven schuften lassen. Jeder hatte nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten und bekam den Lohn, den er brauchte. Es war eine wunderbare Zeit der Befreiung und Gleichheit und wir waren jung und nur allzu bereit mitzumarschieren.

Bald begann ich, als Er-Qi-Mitglied Karriere in der Kommunistischen Partei zu machen. Man übertrug mir die Verwaltung meines ganzen Bezirks. Ich bildete junge Kader aus und sorgte für die Durchsetzung von Gesetzen, die alte Traditionen abschafften. Ich durfte sogar eine Waffe tragen, wenn ich ausgeschickt wurde, um angebliche Konterrevolutionäre zu verhaften. Chinas Goldenes Zeitalter schien gekommen, und ich – jawohl, ich! – durfte dabei mitwirken. So dachte ich.

Im neuen China gab es viele kleine Dinge, die nicht mehr erlaubt waren. Frauen durften zum Beispiel keinen Schmuck tragen oder Schuhe mit hohen Absätzen. Bei Hochzeiten durfte man der Braut keine schönen Kleider mehr schenken, sondern nur „praktische“ Sachen, die Braut und Bräutigam bei ihrer Arbeit auf dem Feld dienlich waren, etwa Schaufeln oder Arbeitshandschuhe.

Ich trug jetzt eine rote Armbinde, die mir die Tür zu vielen Vergünstigungen öffnete. Dadurch konnte ich kostenlos in den Kantinen essen oder mit dem Zug verreisen. Ich war der Inspekteur für meinen Bezirk und hatte mein eigenes Büro. 36 Dörfer und über 1.170 Mitarbeiter waren mir unterstellt. Oft dankte ich Gott für die Gelegenheit, ihm in solch einer hohen Position zu dienen. Und ich versprach ihm, meine Macht und Autorität zu nutzen, um in meinem Bezirk seine Kirche voranzubringen.

Soweit es an mir lag, sollte es nicht mehr vorkommen, dass Christen öffentlich geschmäht und gedemütigt wurden wie damals Opa Sun. Es gelang mir zu verhindern, dass Bibeln konfisziert und vernichtet wurden. Mit so vielen Menschen, die meinem Befehl unterstanden, konnte ich doch wohl etwas bewirken! Ich fand, dass ich etwas tat für meine Stadt und mein Land, und das sollte auch so bleiben!

Was meinen christlichen Glauben betraf, so hielt ich weiter die heimlichen Gottesdienste und Bibelstunden in unserem Haus. Ich war bekehrt, ich gehörte zu Jesus, aber eines hatte ich noch nicht gemacht − mich taufen lassen.

Als ich damals im Gespräch mit Opa Sun mein Leben Jesus anvertraut hatte, wusste ich noch nicht, was das bedeutete – ein Christ zu sein. Dass man sich taufen lassen musste, der Gedanke war mir nicht gekommen. Als ich dann älter geworden war und mehr wusste, war die Lage in China so prekär, dass an Taufen nicht zu denken war. Erst im eisigen Rekordwinter 1968 beschloss ich, mich endlich taufen zu lassen.

Noch heute lassen sich viele Chinesen in unserer Kirche vorzugsweise im Winter taufen, den sie für die beste Jahreszeit für so etwas halten. In China betrachten wir die Taufe als das äußere Zeichen für einen inneren Wandel. Viele chinesische Christen finden, dass eine Taufe im Sommer nicht viel besser ist, als draußen zu baden. In einer Kultur, wo die Menschen oft in Flüssen oder Seen baden, ist es nichts Besonderes, wenn man sich irgendwo draußen untertauchen lässt. „Im Sommer gehen die Leute ständig baden“, sagen unsere Christen, „was soll daran besonders sein?“ Eine Flusstaufe im eiskalten Winter gilt hingegen als ein deutliches Zeichen für das Absterben des alten Menschen, das Opfer und die tiefe Hingabe an Christus.

Ich wurde von einem älteren Christen aus unserer Gegend getauft, zusammen mit dreißig weiteren Personen. Es war verboten, sich taufen zu lassen, aber mir war die Taufe einfach wichtig. Wir versammelten uns kurz vor Mitternacht und gingen leise einen schmalen Pfad entlang durch den dunklen Wald, bis wir an einen kleinen Teich kamen. Mit dabei war ein lieber Bruder in Christus, der als ehrenamtlicher Prediger diente. Er war ein echter Mann Gottes, der gerade unsere Gegend besuchte.

Da war der Teich. Wir warteten, bis Mitternacht vorbei war. War auch bestimmt niemand in der Nähe, der uns sah? Unter den über dreißig Personen war ich der Einzige, der es mit der Kommunistischen Partei hielt; ich trug sogar meine rote Armbinde.

Es war ein bewegender Augenblick. Ich spürte, wie mein Herz vor Vorfreude hämmerte. Gleich würde ich getauft werden! In China sind bei Taufen oft nicht nur die nächsten Freunde und Verwandten des Täuflings dabei. Viele Christen werden zusammen mit anderen Christen getauft, die nicht zu ihrer Verwandtschaft gehören, ja zu denen sie außerhalb der Untergrundversammlungen ihrer Gemeinde vielleicht keinerlei Kontakt haben.

Damals wussten wir nicht so viel über die Taufe wie heute, aber bei vielen Taufen erlebten wir Wunder. In jener Nacht wollte sich unter anderem ein Bruder taufen lassen, der sehr hohes Fieber hatte. Mehrere Glaubensgeschwister versuchten ihm klarzumachen, dass das Untertauchen in eiskaltem Wasser keine gute Idee für ihn war. Doch ihre Bitten trafen auf taube Ohren; er wollte seinem Herrn durch die Taufe gehorchen, basta! Als er wieder aus dem Wasser stieg, war er fieberfrei und vollständig von seiner Krankheit geheilt.

Dergleichen Dinge waren damals nicht selten. Ein anderer Christ, den ich kannte, war so krank, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, aber er wollte sich vor seinem Tod noch taufen lassen. Nach der Taufe war seine schwere Krankheit wie weggeblasen.

Nach meiner Taufe brannte in mir noch mehr als zuvor der Wunsch, die gute Nachricht von Jesus Christus unter die Leute zu bringen. Ich fing an, Reisen zu machen, um von Jesus zu predigen. Als Erstes ging ich zurück in meinen Geburtsort und suchte meine Verwandten und Freunde auf, um ihnen von der Erlösung durch unseren Herrn zu erzählen. Es dauerte nicht lange und vier meiner Verwandten kamen zum Glauben an Jesus. Im folgenden Jahr ging ich nach Nanzhao, wo ich weitere fünf Menschen zu Jesus führen konnte.

Was ich auch anfing, alles schien mir zu gelingen. Ich glaubte, dass der Herr selbst mit mir war und mein Ausziehen und mein Zurückkommen segnete (wie es in Psalm 121,8 heißt). Ich durfte erleben, wie die Gemeinde wuchs und wuchs. Und obwohl ich in meinem Alltag der Partei diente, erlebte ich, wie die Hand Gottes Wunder tat.

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