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2. Opa Sun
ОглавлениеDen 11. März 1963 werde ich mein Leben lang nicht vergessen. An diesem Tag kam eines der ältesten Mitglieder meiner Familie, Sun Wendang, wie üblich zu uns zu Besuch und nahm mich beiseite, um mich zu unterweisen. Opa Sun, wie wir ihn nannten, war im ganzen Dorf hoch geachtet wegen seiner Weisheit und Besonnenheit.
In der chinesischen Kultur stehen die Alten und die Weisheit, die sie im Laufe ihrer langen Lebenserfahrung erworben haben, traditionell hoch im Kurs. Damals wohnten bei uns die verschiedenen Generationen einer Familie meist zusammen – in separaten Häusern oder Hütten, die um einen Innenhof herum angeordnet waren. Den Ehrenplatz hatte dabei immer das Haus der Großeltern, das am Kopf des Hofes stand. Die Kinder und Enkel hatten die Pflicht, für sie zu sorgen und sie zu ehren, während die Alten die Aufgabe hatten, ihre Weisheit an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben, sodass sie im Fluss der Generationen nicht verloren ging.
Sun Wendang war der Bruder meines Großvaters, also eigentlich mein Großonkel, aber ich nannte ihn trotzdem „Opa Sun“. An jenem Märztag brachte er mir etwas ganz Besonderes mit. Als er mich beiseitenahm, spürte ich, dass er etwas sehr Wichtiges auf dem Herzen hatte.
„Mein Enkel“, sagte er, „du bist jetzt zwölf Jahre alt und ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Du bist jetzt alt genug, um ein Goldkorn der Weisheit zu empfangen, das bis in die Ewigkeit reicht. Was ich dir jetzt sagen werde, ist für alle Zeiten wichtig; es geht um nichts weniger als um deine Seele.“
Ich hörte immer aufmerksam zu, wenn Opa Sun mit mir sprach, aber diesmal war es irgendwie anders. Der Klang seiner Stimme, der Ernst in seinem Gesicht – das musste etwas sehr Wichtiges sein. Aufmerksam saß ich da, die Ohren gespitzt und den Kopf nach vorne gebeugt, um ja kein Wort zu verpassen. Aber ich war nicht sehr geduldig. Seine Worte kamen für meinen Geschmack zu langsam; am liebsten hätte ich sie ihm aus dem Mund gezogen, damit es schneller ging. Ich spürte, dass er im Begriff stand, mir etwas Aufregendes zu sagen, und ich wollte es so schnell wie möglich hören!
„Ich möchte dir von einem Freund erzählen, der Jesus heißt. Jesus war ohne Sünde. Weißt du: Du und ich, wir sind voller Sünde und Schuld. Sünde − das ist das, was wir machen, wenn wir anderen, unserem Land oder uns selbst wehtun. Aber vor allem gibt es einen Gott und dem tun wir auch weh und das ist unsere allergrößte Sünde.“
Opa Sun versuchte, mir den Begriff der Sünde und des ewigen Lebens auf eine Art nahezubringen, die ich, fast noch ein Kind, begreifen konnte. Obwohl ich ihm wie gebannt zuhörte, begriff ich nicht alles, was er sagte.
„Du kennst Jesus nicht, aber er kennt dich. Und er liebt dich. Jesus ist ohne jede Sünde und er will dir die Last deiner Sünde abnehmen. Er will dir ewiges Leben schenken. Ewiges Leben kann nur bekommen, wer von seinen Sünden reingewaschen ist.“
Als Vierjähriger hatte ich einmal eine Kirche von innen gesehen. Nicht weit von unserem Haus hatte es eine sehr schlichte Kirche gegeben, aber damals war ich zu jung gewesen, um die Predigt zu verstehen, geschweige denn zu merken, ob die Christen dort sich frei und ohne die Einmischung des Staates versammeln konnten oder nicht. Das war lange her. Ich verstand nicht alle Worte, die Opa Sun jetzt benutzte.
Jesus war mir kein Begriff. Er wohnte nicht in meinem Dorf, sodass ich noch nie von seiner Familie gehört hatte. Opa Sun fuhr fort: „Jesus möchte, dass du für immer mit ihm lebst. Er starb, um dich von deinen Sünden reinzuwaschen. Er wurde geschlagen und an einem Holzkreuz aufgehängt, wo er starb. Aber am dritten Tag ist er aus dem Grab auferstanden. Er lebt und eines Tages wird er wiederkommen und uns für immer zu sich in den Himmel holen.“
Als Opa Sun fertig war, übergab ich mein Leben Jesus und wurde Christ. Es war ein heiliger Augenblick. Als wir gebetet hatten, zog Opa Sun eine Bibel hervor und legte sie mir auf den Schoß. Ich hatte noch nie eine Bibel gesehen, obwohl Bibeln damals noch nicht solch einen Seltenheitswert hatten wie später während der Kulturrevolution, als der Besitz einer Bibel verboten war.
Opa Sun erklärte, dass er mir diese Bibel schenken wollte. Ich musterte das Buch und verspürte eine plötzliche Freude. Jetzt hatte ich also meine eigene Bibel! Aber als ich dann anfing, sie zu lesen, war das nicht einfach. Viele Worte kannte ich nicht, und weil ich nur ein paar Jahre zur Schule gegangen war, war es mit meinem Lesen sowieso nicht sehr weit her. Ich konnte diese Bibel nur mithilfe eines Wörterbuchs lesen.
Opa Sun nahm die Bibel, schlug das 53. Kapitel im Propheten Jesaja auf und fing an, mir die Verse 2 bis 6 vorzulesen, die Jesus beschreiben. Dabei ersetzte er einige der Worte durch meinen Namen:
Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Da war keine Gestalt, die Zhang Rongliang gefallen hätte. Er war der von Zhang Rongliang Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass Zhang Rongliang das Angesicht vor ihm verbarg. Zhang Rongliang hat ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug Zhang Rongliangs Krankheit und lud auf sich seine Schmerzen. Zhang Rongliang aber hielt ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um Zhang Rongliangs Missetat willen verwundet und um Zhang Rongliangs Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass Zhang Rongliang Frieden hätte, und durch seine Wunden ist Zhang Rongliang geheilt. Zhang Rongliang ging in die Irre wie ein Schaf und sah nur auf seinen Weg. Aber der Herr warf alle Sünde Zhang Rongliangs auf ihn.
Als ich das hörte, musste ich weinen − weinen über meine Schuld und meine Sünde und darüber, was für einen hohen Preis Jesus gezahlt hatte, um meine Sünde wegzunehmen. An diesem Tag beschloss ich, Christus nachzufolgen. Wie Opa Sun mir damals diesen Bibelabschnitt vorlas, werde ich nie vergessen.
Auch meine ältere Schwester war Christin. Sie ging in eine Kirche und einmal nahm sie mich mit. Für mich als jungen Teenager aus einer nicht besonders christlichen Kultur war der Gottesdienst ein Buch mit sieben Siegeln. Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, war das gemeinsame Gebet und wie meine Schwester mir zuflüsterte: „Zhang, wenn wir beten, musst du die Augen schließen.“ Ich wusste nicht, was das sollte. Würde da gleich etwas Geheimnisvolles, ja Gefährliches passieren, das man nicht sehen durfte? Ich wusste auch nicht, dass man nach dem Beten die Augen wieder öffnete.
Nach einer Weile sagten alle „Amen“. Was sollte das nun wieder? Ich hielt meine Augen vorsichtshalber fest geschlossen. Ich hielt sie noch geschlossen, als der Gottesdienst vorbei war und wir die Kirche wieder verließen. Ich hielt die Hand meiner Schwester fest und ließ mich von ihr führen. Erst auf dem Nachhauseweg merkte sie, dass meine Augen immer noch geschlossen waren. „Was ist mit dir?“, fragte sie. „Warum hast du die Augen zu?“
„Du hast mir doch gesagt, dass ich sie zumachen muss!“
„Das war doch nur für das Gebet. Jetzt beten wir nicht mehr, da kannst du die Augen wieder aufmachen!“
Ach so. Offenbar geschahen diese geheimnisvollen Dinge nur, wenn die Leute in der Kirche waren und beteten. Vielleicht waren sie auch ein bisschen abergläubisch? (Wie gesagt, damals kannte ich mich mit dem christlichen Glauben noch nicht besonders aus.)
Als ich Christ wurde, war ich noch Schüler und die deutlichste Veränderung in meinem Leben bestand darin, dass meine Noten gewaltig nach oben gingen. Ich konnte plötzlich viel besser lernen. Meine Lehrer verstanden die Welt nicht mehr; ich dankte Jesus und gab ihm alle Ehre.
Durch das, was ich in der Bibel las und von Opa Sun hörte, lernte ich die Kernbotschaft der Bibel kennen. Eines Tages vertraute auch meine Mutter ihr Leben Christus an. Jetzt waren wir beide gläubig. Es war natürlich kein sehr tiefer Glaube; wir hatten ein paar einfache Vorstellungen über Jesus und den Hunger, mehr zu lernen. Für meine Mutter war das Christsein besonders schwierig, denn sie war nie zur Schule gegangen und Analphabetin, sodass sie die Bibel nicht lesen konnte.
Im Frühjahr 1963, kurz nachdem wir beschlossen hatten, Jesus nachzufolgen, begann die Regierung mit einer Schuhverteilaktion an Bedürftige in unserem Bezirk. In unserer Familie besaßen wir keine Schuhe; meine Mutter und ich gingen barfuß. Jetzt fuhren Lastwagen der Regierung durch die Dörfer und boten den Menschen kostenlos Schuhe an. Nun ja, nicht ganz kostenlos, denn der Beschenkte musste zuvor erklären, dass er nichts mit Jesus Christus zu tun hatte.
Ich hatte von der Aktion gehört, und als meine Mutter mit Schuhen für uns nach Hause kam, fragte ich sie sofort, wo sie die Schuhe herhatte. Meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, als sie mir sagte, dass sie sie von einem Regierungs-Lkw bekommen hatte. Was also bedeutete, dass sie Jesus verleugnet hatte.
Ich fühlte mich furchtbar enttäuscht, ja verraten. Das kann ich schwer in Worte fassen. Die Regierung verlangte von den Empfängern der Schuhe ja nicht, dass sie sich ganz allgemein von der Religion distanzierten, sondern speziell dem christlichen Glauben absagten. Meine Mutter hatte öffentlich Jesus Christus verleugnet − das tat weh! Ich wurde richtig wütend. Wir kannten uns noch nicht sehr gut in der Bibel aus, aber das wussten wir: Als Christ hatte man Jesus offen vor den Menschen zu bezeugen. Ich begann, haltlos zu weinen.
Dann schrie ich: „Bring sie zurück! Bring sie sofort zurück, sonst geh ich nicht mehr zur Schule!“
Das wirkte. Meine Mutter wollte doch so sehr, dass ich zur Schule ging. Der Gedanke, dass ich Knall auf Fall damit aufhörte, war ihr unerträglich. Es war die einzige Drohung, mit der ich sie wirklich aufrütteln konnte.
Heute verstehe ich meine Mutter besser. Sie war eine alleinerziehende Mutter, die das Beste für ihre Kinder wollte. Wir brauchten Schuhe und sie fand, dass es in Ordnung war, wenn sie das Angebot der Regierung nutzte. Sie muss lange Schlange gestanden haben damals und sich mühsam einen Weg zu dem Lkw gebahnt haben, um an die Schuhe zu kommen. Es wird ihr nicht leichtgefallen sein. Aber damals fühlte ich mich von ihr im Stich gelassen. In meinen Augen hatte sie Jesus verraten – und damit auch mich. Es waren schwere Zeiten für uns damals und die Zukunft sollte nicht leichter werden.
Meine Mutter hat die Schuhe nicht behalten, sondern an die Regierung zurückgegeben.
Unser Kampf mit der Armut ging weiter. Meine Mutter war unerhört zäh. Jeden Tag hungerte sie und opferte – wie erwähnt – sogar ihr Haar, um für uns sorgen zu können. Sie war eine Barfußbäuerin, die jeden Tag neu darum kämpfte, dem Hungertod ein Schnippchen zu schlagen.
1963 heiratete sie ein zweites Mal und wir zogen in eine andere Stadt – Guaihe –, zu meinem Stiefvater. Der war arbeitslos, sodass unsere finanzielle Lage sich nicht groß änderte, aber dafür eröffnete das Leben in Guaihe andere Möglichkeiten, die wir vorher nicht gehabt hatten.
Es gab in dem Ort eine ganze Reihe Leute, die frei grasende Schafe hielten und Hirten für sie brauchten. Guaihe lag in den Bergen und unser neues Haus lag auf einer Bergkuppe. Es war die perfekte Schafweide und die Stadtbewohner machten mich zu einem der Hirten. Die Besitzer der Schafe hatten nicht genug Geld, um mich zu bezahlen, sodass sie mich mit Naturalien entlohnten – mit Schafen. Da wir so hoch auf dem Berg wohnten, kam kein Mensch auf die Idee, unsere Schafe zu stehlen. Aber dafür musste ich ständig auf der Hut vor Wölfen sein, die die Schafe reißen wollten.
Ich wurde ein richtiger Kenner meiner Schafe; ich lebte mit ihnen und schlief mit ihnen. Auch studierte ich die verschiedenen Grassorten und welche die Schafe mochten und welche nicht. Unser Haus war etwas erhöht gebaut, sodass unter dem Fußboden Platz für einen improvisierten Viehstall war, und so brachte ich die Schafe oft zu uns nach Hause.
Ich gab jedem Schaf einen eigenen Namen. Am Anfang kamen sie mir alle gleich vor, aber als ich sie dann kennenlernte, merkte ich, dass sie genauso unterschiedlich waren wie die Menschen. Jedes Tier hatte gleichsam seine eigene Persönlichkeit und war ein Original. Manche Schafe waren richtig ängstlich, andere energisch und mutig. Ein paar waren von der neugierigen Sorte und gingen auf Erkundungsgänge, weg von der Herde; andere waren vorsichtiger und verließen die Herde nie.
Ich entwickelte eine richtige Beziehung zu „meinen“ Schafen. Wenn sie krank waren, behandelte ich sie. Ich beschützte sie vor den Wölfen. Ich half ihnen zusammenzubleiben, damit keines sich verlief. Ich spürte auch ihre Angst und fühlte mit ihnen mit, wenn sie zum Schlachten gebracht wurden. Sie waren bald wie eine zweite Familie für mich.
Manchmal musste ich mich sogar als Schlichter betätigen, wenn es Konflikte zwischen den Schafen gab. Es waren meine ersten Lektionen in Sachen Konfliktmanagement. Sie sollten mir in meiner späteren Tätigkeit als Pastor sehr zugutekommen, ja meine ganzen Schäferjahre sollten sich als Schatz erweisen, während ich als Pastor und Leiter in Chinas Untergrundkirche tätig war.