Читать книгу Mit Weite im Herzen - Ronja Erb - Страница 6

Kapitel 3

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Langsam öffnete ich die Augen und guckte auf die Weltkarte, vor der ich in Rolfs Büro stand. Der Pfeil steckte in dem Wort „Rundu“. Welcher Kontinent das war, konnte ich gleich erkennen, es war Afrika. Aber was war Rundu? Eine Stadt, ein Berg, eine Region ...?

Ich trat näher an die Karte heran und sah, dass es sich um eine Stadt handelte. „Rundu“, ich ließ mir das Wort mehrere Male über die Lippen gehen, sprach es laut, leise, hart und sanft aus. Es klang schön. Aber wo lag diese Stadt? Der Pfeil steckte links unten in der Afrikakarte, doch ich kam nicht gleich auf die Namen der Staaten, die im Südwesten Afrikas lagen. Ich suchte nach den fast verblassten Buchstaben, die den Landesnamen bezeichneten: Namibia. Ich ließ meinen Blick um die Landesgrenze schweifen und zeichnete sie gleichzeitig mit den Fingern nach. Dann guckte ich nach den anderen Städtenamen. Die einzige Stadt, die mir etwas sagte, war Windhoek. Dass sie die Hauptstadt von Namibia ist, das wusste ich, aber dann hörte mein Wissen über dieses Land auch schon fast auf. Die paar Informationen, die ich hatte, versuchte ich eilig zusammenzusetzen. Sehr deutsch geprägt, weil eine ehemalige deutsche Kolonie, schoss es mir durch den Kopf. War Deutsch nicht auch für lange Zeit die Amtssprache gewesen? Ich überlegte angestrengt, wie es dort aussehen mochte. Ich hatte schon oft Berichte und Dokumentationen über Afrika im Fernsehen gesehen, aber jetzt wollte mir kein einziges Bild in den Kopf kommen, das ich mit Sicherheit Namibia zuordnen konnte. Alles, was vor mein geistiges Auge trat, waren staubige Straßen, trockene Steppe, durch die Elefanten und Giraffen zogen, dahinter gleißendes Licht und ein warmes, sattes Rot. Ich ging ins Wohnzimmer, um mich einen Moment zu setzen. Kaum, dass ich mich gesetzt hatte, überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, so wie ich sie, seitdem ich schwanger war, oft verspürte. Ich streckte mich auf dem Sofa aus, zog eine Wolldecke über mich und schloss die Augen.

Ich schlief ein und träumte wirr. Rolf war wieder lebendig und balancierte nur wenige Meter von mir entfernt auf einer Mauer. Ich rief ihn, aber er hörte mich nicht. Ich schrie aus voller Kehle, doch er drehte sich nicht zu mir um. Ich versuchte auf ihn zuzugehen, aber wie von einem imaginären Band gehalten, konnte ich keinen Schritt vorwärts machen. Ich versuchte, nach ihm zu greifen, doch so sehr ich mich auch streckte, ich konnte ihn nicht erreichen. Auf einmal war da auch Lars, der auf mich zukam und im Vorbeigehen, ohne mich anzusehen, die Hand auf den Bauch legte, sie aber sofort wieder zurückzog und weiterging. Alles färbte sich rot, blutrot, sonnenrot. Es war nicht zu erkennen, ob es gut oder schlecht war. Alles war einfach nur rot. Ich strich meinen Körper mit diesem Rot ein, nahm ein Bad in dieser warmen, fließenden Röte. Ich versuchte Rolf durch das Rot hinweg zu sehen, aber er entfernte sich immer mehr von mir. Die Farbe wurde intensiver, und ich zerfloss in ihr, bis ich mich selbst nicht mehr sah. Ich spürte, wie es zwischen meinen Beinen feucht wurde und ich entsetzliche Krämpfe bekam. Ich griff zwischen meine Beine und fühlte einen Kopf, den Kopf meines Babys. Ich hielt ihn und zog das Kind aus mir heraus. Dann hielt ich das Kind wie eine Trophäe über mich und schrie laut.

Ich schrie noch, als ich aufwachte. Als mir Sekunden später bewusst wurde, dass ich nur geträumt hatte, hörte ich auf zu schreien. Ich war so erschöpft von dem Traum, dass ich eine ganze Weile einfach nur an die Zimmerdecke starrte.

Wie lange ich so dagelegen hatte, wusste ich nicht, doch als das Telefon klingelte, wurde ich jäh aus diesem Zustand gerissen. Ich hörte die Stimme meiner besten Freundin Marlis. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im Umland von München. Doch alles, was ich rausbrachte, auf ihre Begrüßung war: „Rundu“.

„Helen, was ist los mit dir?“, fragte Marlis.

„Ich werde nach Afrika gehen, nach Namibia“, hörte ich mich sagen.

Marlis fragte nochmals, was mit mir los sei, wartete aber gar nicht meine Antwort ab, sondern sagte gleich: „Schön, dass du verreisen möchtest, das wird dich auf andere Gedanken bringen.“

„Nein“, sagte ich, „ich werde nicht verreisen, ich werde weggehen, ganz weggehen.“

Am anderen Ende der Leitung war Stille. Dann sagte Marlis: „Helen, ich weiß, dass du im letzten Jahr eine sehr schwere Zeit durchgemacht hast, aber deshalb musst du doch nicht gleich auswandern und auch noch nach Afrika. Das ist nur eine Flucht.“

„Das stimmt nicht“, sagte ich mit Nachdruck. „Es ist keine Flucht, sondern es ist der Weg, der für mich vorhergesehen ist, mein zweites Leben.“

Durch den Telefonhörer drang Kindergeschrei und Marlis sagte schnell: „Ich muss auflegen, Hendrik und Markus reißen sich gegenseitig an den Haaren, ich rufe dich nachher noch mal an. Nimm in der Zwischenzeit eine kalte Dusche, damit du wieder einen klaren Kopf bekommst.“

Genau das tat ich dann auch, und mein Kopf wurde klar, sehr klar. Ich sah meine Abreise nach Namibia vor mir. Ich würde in den nächsten Wochen alles regeln, was nötig war, und würde mich dann so schnell wie möglich auf den Weg machen. Ich war selbst darüber erstaunt, wie fest mein Entschluss stand, wie überzeugt ich von einer Idee war, die erst wenige Stunden alt war. Etwas sagte mir, dass das der richtige Weg ist. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich fühlte mich auf einmal an die Hand genommen, geleitet.

Aus meinen Gedanken riss mich wiederum das Telefonklingeln. „Was willst du in Namibia?“, schallte es aus dem Hörer. Es war Marlis, die mit ihrem Unmut über diesen Plan nicht hinter dem Berg hielt.

„Leben“, antwortete ich.

„Leben?“, fragte Marlis.

„Ja“, sagte ich, „für jemanden, der seit über einem Jahr nicht mehr wirklich gelebt hat, ist das eine sehr gute Vorstellung.“

„Aber das kannst du doch auch hier, du wirst sehen, in einiger Zeit wirst du wieder neuen Lebensmut schöpfen.“

„Ich habe neuen Lebensmut geschöpft und sehe jetzt meine Zukunft vor mir.“

„Wie kommst du denn ausgerechnet auf Namibia?“

„Ich habe mich vor die Weltkarte in Rolfs Arbeitszimmer gestellt und einen Dartpfeil geworfen, der hat in Namibia, genauer gesagt in Rundu, getroffen.“

Marlis sagte zunächst nichts und beendete ihr Schweigen dann durch ein verzweifelt klingendes Gemurmel, von dem ich nur die Worte „du bist verrückt, du bist verrückt“ verstand.

„Ich bin nicht verrückt“, unterbrach ich ihren Monolog.

„Doch“, sagte Marlis mit Nachdruck. „Wie kann man nur seine Lebensplanung von einem so zufälligen Ereignis abhängig machen? Wenn der Pfeil auf Hongkong gelandet wäre, dann würdest du nach Hongkong gehen oder was?“

„Nein, er ist dort gelandet, wohin die Vorhersehung mich führen wollte. Das klingt zwar etwas esoterisch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es kein Zufall war.“

Ich konnte förmlich hören, wie Marlis ihre Stirn in Falten legte. „Du wirst dich dort unendlich einsam fühlen“, sagte sie.

„In Hamburg fühle ich mich einsam“, entgegnete ich, „hier wo mich alles an Rolf erinnert und sich in mir alles zusammenkrampft, wenn mir bewusst wird, dass er für immer fort ist“.

„Aber ich bin doch auch noch da“, wandte Marlis ein.

„Ja“, sagte ich, „dich werde ich vermissen. Aber mal ehrlich, Marlis, du bist in München und in den letzten Jahren haben wir uns höchstens zwei oder drei Mal pro Jahr gesehen. Die Arbeit, die Kinder, du weißt doch, wie schwer es immer war, einen Termin zu finden. Du bist in dein Leben eingebunden, und das ist gut so. Ich freue mich für dich, aber ich habe jeglichen Halt verloren. Es ist Zeit, einen Neuanfang zu wagen.“

„Alleine nach Namibia, das ist wahnsinnig …“, und nach einem kurzen Zögern setzte Marlis ihren Satz fort: „gefährlich.“

„Ich werde nicht allein gehen.“

„Ach so.“ Ich konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. „Wer geht denn mit dir?“, fragte sie und ohne meine Antwort abzuwarten, mutmaßte sie: „Es ist sicher dieser Lars, den ich das letzte Mal kennengelernt habe, als ich bei dir war. Sagtest du nicht, dass er beruflich immer viel im Ausland unterwegs ist?“

„Lars ist es nicht“, sagte ich zögernd.

Bevor ich ausreden konnte, warf Marlis ein: „Er ist aber ein sympathischer Mann.“

„Ja, da hast du recht, er ist wirklich ein feiner Kerl.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Und wenn du so willst, dann kommt er auch mit, teilweise zumindest, denn ich bin schwanger. Von ihm.“

„Schwanger? Du bist schwanger! Von diesem Lars?“

„Ja.“

Im Hintergrund hörte ich Jonas, Marlis' ältesten Sohn, fragen, wer am Apparat sei. „Helen, deine Patentante, die völlig verrückt geworden ist“, antwortete ihm Marlis. Und an mich gerichtet sagte sie: „Also sind es die Hormone, die dich so durcheinanderbringen.“

Mir wurde es langsam zu lästig, gegen das Unverständnis von Marlis anzureden, daher behauptete ich, um einen Vorwand zu haben, auflegen zu können: „Ich habe einen Termin und muss Schluss machen, ich melde mich wieder bei dir.“ Als ich schon fast aufgelegt hatte, hörte ich noch, wie Marlis sagte: „Wenn du Babykleidung brauchst, dann kann ich dir die von Hendrik geben, die habe ich noch im Keller.“

Nach einer erholsamen, traumlosen Nacht, in der ich so tief wie schon lange nicht mehr geschlafen hatte, fragte ich mich nach dem Aufwachen, was ein Säugling in Namibia wohl für Kleidung trägt. Ich legte meine Hand auf meinen Bauch und spürte die Wärme, die von ihr ausging und durch meinen Körper hindurchströmte. Ich versuchte, etwas zu fühlen, eine Bewegung, ein Strampeln. Mir war bewusst, dass das Kind noch zu klein war, um es schon spüren zu können, aber ich wollte gerne mit ihm Kontakt aufnehmen, um ihm von seiner Zukunft, von Afrika, zu erzählen.

Nachdem ich eine Weile so dagelegen und die morgendliche Übelkeit überwunden hatte, stand ich auf und holte mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Noch während ich den Joghurt aß, machte ich den Computer an und suchte im Internet nach Informationen über Namibia.

Es gab unzählige Webseiten, ich klickte mich von einer zur anderen und las, mal genau, mal quer, alles durch, was ich finden konnte. Wie ein Schwamm saugte ich die Informationen auf, klickte viele Bilder an und suchte auch unter dem Begriff „Rundu“. Am liebsten wäre ich gleich in ein Reisebüro gegangen, um mich nach Flügen zu erkundigen, aber da Sonntag war, konnte ich nur in den Onlineangeboten suchen.

Den Tag verbrachte ich mit Surfen, und ich unterbrach es nur, um an den Kühlschrank zu gehen, um etwas zu essen, und ein Mal, um ans Telefon zu gehen, aber es hatte sich nur jemand verwählt. Am Abend war mein Kopf vollgefüllt mit Informationen über Namibia, ich hatte mich auch über Einreisebestimmungen erkundigt und am Schluss sogar einen Flug online gebucht. Der Flug war für März reserviert, das war noch dreieinhalb Monate hin; genug Zeit, um alles zu organisieren.

Die letzten Wochen in Hamburg vergingen rasend schnell, die Vorbereitungen versetzten mich in einen regelrechten Rausch. Marlis rief regelmäßig an, um zu hören, ob ich mittlerweile zur Vernunft gekommen sei, wie sie es ausdrückte. Doch ihre negative Sicht bestärkte mich in meiner Entscheidung noch mehr. Nur vereinzelt ließ ich mich dazu hinreißen, meine Pläne infrage zu stellen, aber die Zweifel verschwanden in aller Regel so schnell, wie sie gekommen waren. Freunde, Bekannte und Kollegen reagierten ganz unterschiedlich auf mein Vorhaben, von Entsetzen bis Begeisterung war alles dabei. Zu manchen entstand aufgrund ihrer Begeisterung eine ganz besondere Nähe, von anderen hingegen, die alles kritisch sahen, entfernte ich mich innerlich. Es erstaunte mich, wie viel Wirkung so ein Vorhaben auf das eigene Umfeld hat. Die einen zogen sich beleidigt zurück, als hätte man sich persönlich gegen sie entschieden, und andere versprachen sofort, ihren nächsten Urlaub in Namibia zu verbringen.

Schließlich hatte sogar Marlis eingelenkt, was mir wichtig war, legte ich auf ihre Meinung doch sehr viel Wert. Ich hatte mit ihr und ihrer Familie das Weihnachtsfest verbracht, und wir hatten viel Zeit gehabt, über meine Pläne zu sprechen. Sie hatte sogar versprochen, mich zum Flughafen zu bringen. Eigentlich war das natürlich eine irrwitzige Idee, von München nach Hamburg zu kommen, um jemanden zum Flughafen zu begleiten, aber es war uns beiden so wichtig, dass ich zugestimmt hatte.

Wie leicht es war, sich aus einem Leben, einem Land, einer Gesellschaft zu verabschieden. Einfach abmelden und gehen, so war es mir vorgekommen. Der eigentliche Abschied war dann aber doch nicht so einfach gewesen.

Am Morgen vor der Abreise wollte ich alles abblasen. Ausgerechnet Marlis überzeugte mich dann davon, dass es gut sei zu fahren. Sie meinte, dass ich alles vorbereitet und seit Wochen nur auf diesen einen Tag hingelebt hätte, sodass ich nun auch nach Namibia fliegen solle. Wenn es mir dort nicht gefiele, dann könne ich ja wieder zurückkommen, tröstete sie mich. Ich lehnte mich an ihre Schulter und fragte wie ein kleines Kind: „Nimmst du mich auf, wenn ich wieder zurückkomme?“

Sie streichelte mir über den Kopf und sagte sanft: „Ja, natürlich.“

Als wir zum Flughaften fahren wollten, druckste Marlis rum und zögerte die Abfahrt bis auf die letzte Minute hinaus, sie wollte mir aber nicht sagen, warum. Als ich dann im Flughafen, nachdem ich gerade durch die Kontrolle zum Boardingbereich gegangen war, hinter der großen Scheibe Lars entdeckte, der abgehetzt angelaufen kam und durch die Scheibe wild gestikulierend Luftküsse schickte, wusste ich warum und brach in Tränen aus. Mein Körper verkrampfte sich, und ich musste mich auf eine Bank setzen. Ich hatte Lars seit Wochen nicht mehr gesehen, er war erst vor Kurzem von einer längeren Geschäftsreise aus dem Ausland zurückgekommen. Die wenigen Telefonate, die wir zwischenzeitlich geführt hatten, waren meist kurz gewesen, und meine Pläne, nach Namibia zu gehen, hatte er nicht ernst genommen. Er hatte Witze darüber gemacht und gedacht, das sei eine meiner vielen Verwirrungen, die ich in den letzten Monaten zur Genüge durchgemacht hatte.

Ich hörte die Durchsage, man rief meinen Namen aus, es war die letzte Aufforderung zum Einsteigen. Ich schnäuzte in ein Taschentuch, sah nochmals kurz zu Lars und erhob mich dann von der Bank. Ich war froh, dass meine Jacke den Babybauch, den man zu Beginn des sechsten Monats nun schon sehen konnte, verdeckte.

Ich hatte Lars immer noch nichts von der Schwangerschaft erzählt und auch Marlis das Versprechen abgerungen, dass sie ihn auf keinen Fall darüber informieren würde. Aber als ich im Flugzeug saß, wünschte ich mir plötzlich, dass Marlis ihm alles erzählen würde, und dass Lars den nächsten Flieger nach Windhoek nehmen würde. Ich hatte das Gefühl, meinem Kind den Vater zu rauben. Auf einmal erschien mir alles falsch.

Unruhig rutschte ich in meinem Sitz hin und her. Die ältere Frau, die neben mir saß, musterte mich mit besorgtem Blick und fragte nach einer Weile: „Haben Sie Flugangst? Sie wirken so aufgeregt.“

Ich zögerte einen Moment und nickte dann. Sie tätschelte mir die Hand, und ich spürte, wie ihre Berührung alle Barrieren in mir aufbrechen ließ. Die Kraft und die Zuversicht, die mich in den vergangenen Wochen getragen hatten, waren verpufft. Tränen schossen mir aus den Augen, und ich wollte mich am liebsten an diese alte Dame schmiegen, wie ein Enkelkind an seine Großmutter. Sie redete beruhigend auf mich ein und wiederholte mehrmals, dass sie früher auch unter Flugangst gelitten habe und mich daher gut verstehen könne. Ich nickte immer wieder und war froh, für mein Verhalten eine simple Erklärung zu haben. Ihre sanfte Stimme und ihre Nähe beruhigten mich, sodass ich mich nach einer Weile wieder gefasst hatte.

Als wir uns am Ende des Fluges voneinander verabschiedeten, hatte ich das Gefühl, sie bereits Jahre zu kennen.

Mit Weite im Herzen

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