Читать книгу Entferntes Glück - Ronja Riedel - Страница 3
Dienstag 1.
ОглавлениеDas Brett unter mir schaukelt. Ich weiß, das Wetter ist ungünstig, aber der Sommer hat sich bis zum heutigen Tag so übellaunig und unberechenbar gezeigt, dass es keine wirkliche Option darstellt, auf den perfekten Moment zu warten. Im Zweifel warte ich dann solange, bis ich dem Wasser beim Gefrieren zusehen kann.
Durch die Wellen dauert es länger, bis ich ein Gespür für den passenden Seitenwechsel des Stechpaddels finde. Ich ahne, dass sich der Wunsch nach einem gleichmäßigen Rhythmus heute wohl nicht erfüllen wird. Immer wieder dreht sich das Brett blitzschnell, angetrieben durch den einseitigen Kraftaufwand meines Körpers und zusätzlich verstärkt durch den Schub einer Welle, die im genau falschen Moment im genau falschen Winkel auf mein Brett trifft. So entferne ich mich nur sehr langsam vom Ufer. Ein kurzer Blick zurück bestätigt mein Gefühl. Na bitte, wer trotz Wellengang in See sticht, braucht sich nicht zu wundern, wenn es ungemütlich wird. Nein, denke ich und drücke das Paddel resolut in die unruhige Wasserfläche neben mir. Du tust, was ich sage!
Und tatsächlich – es wird einfacher.
Mittlerweile ist die Entfernung vom Ufer groß genug und gibt mir damit die Möglichkeit, das Brett so auszurichten, dass es unauffällig mit der Kraft der Wellen gleiten kann. Ich muss jetzt nur noch darauf achten, nicht zu nahe ans Ufer zu kommen. Ansonsten lasse ich die Gewalten der Natur für mich arbeiten. Wie bequem. Entscheide ich mich zuerst für die leichte Richtung, so muss ich später umso mehr schuften, um mich gegen den Strom zu stellen. Ich weiß das und handle trotzdem kurzsichtig.
Für den Moment zahlt sich diese Kurzfristigkeit für mein Wohlbefinden allerdings aus. Da das Paddeln nicht mehr ganz so viel Konzentration von mir verlangt, beginne ich langsam den Blick von der Wasseroberfläche zu heben. Und wie erwartet enttäuscht mich das, was ich jetzt sehe, nicht. Die Schönheit des Lichts fährt euphorisierend in meinen Körper. Nie habe ich als Kind verstanden, wenn Erwachsene in meiner Umgebung plötzlich begannen, von den Lichtverhältnissen zu schwärmen. Man muss wohl ein gewisses Alter und damit verbunden ein gewisses Maß an melancholischer Charaktereinfärbung erreicht haben, um diese Schönheit, die ja tatsächlich existiert, sehen zu können. Es ist nicht einfach nur die Sonne, die direkt vor mir, bereits relativ flach stehend, mithilfe ihrer Strahlen der Oberfläche des Wassers ein Glitzern entlockt. Nein, es ist ein Weichzeichner, den irgendjemand da oben vor die gesamte Atmosphäre geschoben hat. Gäbe es diesen Effekt auch für mein alltägliches Leben, so bräuchte ich mich nicht mehr bange machen lassen. Alles wirkt friedlich und ich spüre, wie sich mein Brustkorb beim Anblick dieser Pracht weitet. Der Wind, der über meine Haut streicht, tut sein Übriges.
Ich bin jetzt schon ein ganzes Stück weit gekommen und gleite gerade in den deutlich kleineren, vom Badestrand aus nicht einsehbaren, Nebensee. Dieser hängt wie ein vergessener Zwilling am Hauptsee. Zwar erhält er von den allermeisten Badegästen kaum oder gar keine Aufmerksamkeit. Aber wer den See besser kennt, weiß, dass er die eigentliche Perle ist, die es zu entdecken gilt. An seinem Ufer liegen nur ein paar gut im Schilf versteckte Boote der Dorfbewohner. Einen Strand oder Steg sucht man vergebens und so ist man hier, in der Mitte des kleinen, unbeachteten Bruders, ganz alleine.
Ich stoppe meine mittlerweile automatisch ablaufenden Paddelschläge, setze mich, mein Gewicht vorsichtig ausbalancierend, auf mein Brett und lege das Paddel quer vor mich. Meine Füße tauche ich rechts und links in das kalte Wasser ein. Eine Gänsehaut durchfährt meinen Körper, als ich in genau diesem Moment plötzlich ein Fiiiep, Fiiiep, Fiiiep über mir höre. Das muss er sein, der Fischadler, den ich nun schon zweimal in diesem Sommer seine Kreise über den See habe ziehen sehen. Ich halte meine Hände schützend über meine Augen und lege den Kopf in den Nacken. Tatsächlich, da fliegt er! Direkt über mir gleitet er mit weit ausgestreckten, weiß-braun gefärbten Schwingen. Ich sehe seinen hellen Unterkörper und sogar die gelben Augen kann ich gut erkennen, so tief liegt er über mir in der Luft. Es scheint, als sehe er mich direkt an. Vorsicht, denke ich, als Beute tauge ich nicht.
Ein heftiger Stoß, der das Brett unter mir zum Wanken bringt, reißt mich aus meiner Versunkenheit. Für einen Augenblick verliere ich fast das Gleichgewicht, obwohl ich sitze. Ich sammle mich und versuche zu begreifen, was passiert ist. Direkt vor mir erblicke ich ein altes Holzboot. Die Kollision mit diesem hat die Erschütterung ausgelöst. Das Boot versteckt sich vollständig im Schilf und auch ich selbst stecke mit meinem Brett schon zur Hälfte darin. Als mein Blick weiter nach oben wandert, sehe ich direkt in das Gesicht eines Mannes, dessen Anblick mich zusammenzucken lässt. Ein massiger, muskulöser Körper, millimeterkurz geschorene Haare, mit Tattoos übersäte Oberarme, die aus einem Muskelshirt hervorragen und ein unbeweglicher, ernster Blick. „Typisch“, ist das einzige, was ihm entfährt.