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2.

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Den Schuhkarton so vor mir haltend, dass er möglichst geringen Erschütterungen ausgesetzt ist, laufe ich fünf Minuten später den Weg in Richtung See hinunter. Mir scheint es nach gestern aus irgendeinem Grund die einzig logische Entscheidung, den Vogel zu Maik zu bringen. Er lebt auf dem Land, ich komme aus der Stadt – sein Erfahrungsvorsprung in Bezug auf verletzte Tiere sollte ein beträchtlicher sein. Außerdem gehen mir seine ruhigen, überlegten Bewegungen nicht aus dem Kopf und rufen in mir das Bild von Ziel gerichteter Inobhutnahme hervor.

Als ich vor dem schlichten Haus stehe, breitet sich ein Gefühl von Anspannung in mir aus. Ich trete die Flucht nach vorne an und drücke auf den Klingelknopf. Augenblicklich ertönt ein aggressives Bellen, was mich überrascht. Das Wüten des Hundes klingt so dumpf, dass er nicht direkt hinter der Haustür zu stehen scheint. Ich tippe darauf, dass er in einem Zimmer des Hauses eingesperrt ist und daher seine Empörung über das Klingeln noch größer ausfällt.

Ich höre Schritte hinter der Tür. Sie sind leichter als Maiks. Als sich die Tür vor mir öffnet, stehe ich einer kleinen, schmächtigen Frau gegenüber. Sie sieht erschöpft aus, und zwar auf eine Art und Weise, die nichts mit einer kurzen Phase, sondern eher mit einer allumfassenden Lebensmüdigkeit zu tun hat. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, ihr Alter einzuschätzen. Zwischen 45 und 65 scheint mir alles möglich.

„Guten Tag.“

Sie mustert mich schweigend. Als sie damit fertig ist, schleicht sich eine wärmende Veränderung in ihr Gesicht. Sie lächelt mich verhalten, fast zögerlich fragend, an.

„Sie wollen bestimmt zu Maik! Ich hol ihn, er arbeitet im Garten.“

Da der Hund immer noch kläfft und sich seine Wut sogar noch weiter steigert, habe ich sie kaum verstanden.

Gerade, als sie sich umdreht und gehen will, öffnet sich hinter ihr eine Tür und Maik tritt in den dunklen, engen Hausflur. Sein Blick registriert sofort den Karton in meinen Händen. Genau wie gestern lässt sich seiner Miene weder etwas entnehmen noch entlocken. Er trägt dieselbe Jogginghose, dazu jetzt allerdings schwere Arbeitsschuhe und einen warmen, blauen Wollpullover. Seine Hände stecken in Gartenhandschuhen, an denen feuchte Erde klebt.

Er streift sich die Handschuhe ab und legt sie auf eine Kommode, neben eine stattliche Anzahl von Porzellanfröschen. Die Frösche und der daneben stehende Mann passen auf so eklatante Art und Weise nicht zusammen, dass ich mich zwingen muss, nicht zu grinsen. Maik geht wortlos an der Frau vorbei und begrüßt mich mit einem Handschlag. Dann dreht er sich zu ihr um: „Lass uns alleine und geh mit Daland in den Garten. Er muss raus.“ Die Frau wendet sich sofort in Richtung der Tür, hinter der ich den erzürnten Hund vermute. Nicht allerdings, ohne mir vorher noch einmal einen verhuschten Blick zuzuwerfen. Ich nicke ihr zu. Als sie die Tür öffnet und sich hindurchzwängt, bietet sich mir ein Blick auf den Hund, der versucht, an ihr vorbei zu gelangen. Es ist ein American Pit Bull Terrier. Bevor es ihm tatsächlich gelingt, aus dem Zimmer auszubrechen, erhebt die eben noch verschüchtert wirkende Frau ihre Stimme und ich bin von deren plötzlicher Festigkeit und Lautstärke überrascht. „Ab, Platz!“ Der harte Befehl wirkt sofort. Das Tier lässt ab und verzieht sich in das Innere des hinter der Türe liegenden Raumes. Mehr bekomme ich nicht zu sehen, denn jetzt schließt sich die Tür.

Während ich die Szenerie verfolge, spüre ich, dass ich ebenfalls beobachtet werde. Maik lehnt mit verschränkten Armen an der Froschkommode und mustert mich. Jetzt springt mir die Ähnlichkeit der beiden Blicke, die mich so kurz hintereinander derselben Musterung unterzogen haben, entgegen. Ich bin mir nun ziemlich sicher, dass ich soeben Maiks Mutter kennen gelernt habe.

„Ich hoffe, du hast keine Angst vor Hunden.“ Was ich hinter seinen Worten verspüre, verärgert mich.

„Nein, ganz sicher nicht.“

„Was ist da drin?“

Ich zögere kurz – das reicht aus, um bei Maik eine Reaktion hervor zu rufen. Er löst seine Armhaltung und nickt in Richtung des Raumes, aus dem er selbst vor einigen Minuten in den Flur getreten war.

„Komm rein, ich schau´s mir an.“

Er geht voran. Als er die Tür, die bisher angelehnt stand, weit öffnet, blendet mich die Helligkeit des Raumes für einen kurzen Moment. Ich trete in das Zimmer und bin überwältigt. Nach der völligen Schmucklosigkeit der Hausfassade und der drückenden Enge des Eingangsbereiches, strahlt dieser Raum Wärme und Weite gleichzeitig aus. Zum Garten hin ist die komplette Wand verglast und mit einer Verandatür versehen. Dementsprechend flutet die Sonne den Raum, vor allem heute, wo sie noch einmal zeigen will, was sie zu bieten hat.

Der Raum ist groß und recht spärlich möbliert. Trotzdem geht kein Gefühl von Leere von ihm aus. Im Gegenteil. Jedes der Möbelstücke wirkt auf mich einladend. Ich wette, sie sind alle selbst gebaut oder restauriert. Dazu sind alle drei übrigen Wände mit Bildern bestückt, die offensichtlich selbst aufgenommen wurden und die Schönheit der hiesigen Landschaft zeigen. Alles zusammen ergibt eine Gesamtkomposition, die ich hier in Verbindung mit der vor mir stehenden Person so nicht vermutet hätte.

Natürlich sieht Maik mir diesen Gedanken an. Und ebenso selbstverständlich lässt er ihn kommentarlos im Raum stehen.

„Na, dann zeig ma´.“ Er nimmt mir den Karton ab und stellt ihn auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes steht. In diesem Moment fällt mir auf, dass das Vögelchen in den vergangenen Minuten keinen einzigen Laut von sich gegeben hat. Es scheint in seinem schwarzen Gefängnis erneut in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Maik nimmt den Deckel ab und bevor das Tier irgendeine Reaktion zeigen kann, hat er bereits seine rechte Hand über den Rücken der Schwalbe gelegt und drückt sie nach unten.

„Sie ist mir ins Wohnzimmer geflogen. Ich glaube, ihr Flügel ist gebrochen.“ Ich bin nah an Maik und den Karton heran getreten. Der Erdgeruch, den ich an ihm wahrnehme, lässt mich sofort an mein eigenes Beet denken und ich frage mich, welchem Ziel wohl seine Grabarbeiten dienen. Mein Blick geht durch die Glasfront nach draußen. Dort kann ich auf den ersten Blick nichts erkennen, was mir eine Erklärung liefern würde. Vor meinen Augen liegt ein unauffälliger Garten, typisch für die Umgebung. Nicht zu ordentlich, ein Gemüsebeet, eine Feuerstelle, zahlreiche Obstbäume und die obligatorische Magnolie. Ich schrecke kurz auf, als der Hund auf einmal um die Ecke wetzt. Er jagt einem Spielzeug hinterher, das ihm offensichtlich von Maiks Mutter geworfen wurde. Die Aufregung um mein Erscheinen ist völlig vergessen. Er genießt seine Bewegungsfreiheit und birst fast über vor Lebensfreude. Bei jeder Bewegung zeichnen sich seine Muskeln unter dem braunen Fell ab. Ein wunderschönes Tier, wie es dort auf dem Rasen selbstvergessen eine Art Tanz mit seinem Quietschetier aufführt.

Maik hat unterdessen die Schwalbe aus dem Karton herausgenommen. Der Griff, mit dem er sie in einer Hand festhält, wirkt – genau wie ich es erwartet habe – äußerst professionell. Mit der anderen untersucht er vorsichtig den lädierten Flügel. Das Tier verhält sich immer noch erstaunlich ruhig. Ich habe dein Eindruck, als bestünde zwischen dem Mann und dem Vogel eine Übereinkunft. Gerade als ich ansetzen will, um nach den Möglichkeiten zu fragen, dem Tier zu helfen, verändert sich der Griff von Maiks Hand um den Körper des Tieres. Er drückt blitzschnell zu und unterstützt seine Handlung noch mit der anderen Hand, die sich um den Hals des Vogels legt und ebenfalls zupresst. Das ganze dauert nur ein paar Sekunden, dem Tier bleibt nicht einmal mehr Zeit, einen Laut von sich zu geben.

Mein Herz überschlägt sich und das Bild vor mir beginnt sich radikal zu fokussieren, auf den Mann, der neben mir steht und den toten Vogel in seinen Händen hält. Ich blicke ihn an, unfähig, auch nur ein Wort zu formulieren. Er dreht sein Gesicht zu mir und schaut mir direkt in die Augen. Die Härte, die mich in diesem Moment fast physisch anspringt, lässt mich schwindeln. Ich ringe nach Luft, stolpere rückwärts und nehme hastig die kurze Strecke zur Tür. In der Dunkelheit des Flures stoße ich gegen die Kommode voller Frösche. Entfernt nehme ich wahr, dass einige von ihnen umfallen, irgendwo zersplittert Glas. Meine Hand greift nach der Haustür, ich falle fast die Eingangsstufen hinab. Dann beginne ich zu rennen.

Entferntes Glück

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