Читать книгу Entferntes Glück - Ronja Riedel - Страница 5
Mittwoch 1.
ОглавлениеMein Smartphone ruht in meiner rechten Hand. Im Hintergrund höre ich das Zischen des Wasserkochers. Hinter mir liegt das obligatorische Morgentelefonat, bei dem wir uns gegenseitig versichern, dass wir aneinander denken und am Tag des jeweils anderen Anteil nehmen. Trotz dieses Telefonates fühle ich mich nicht wach, die Erschöpfung der Nacht überwiegt. Verantwortung dafür trägt, wenig erstaunlich, mein Schlaf. Wieder einmal fordert er mich heraus, seit Jahren tut er das. Manchmal mehr, manchmal weniger. Die zurückliegende Nacht gehörte nicht zu den harmonischen zwischen uns. Ich bin sauer. Arschloch, denke ich. Du könntest dich ruhig auch mal bemühen. Ich tue es schließlich auch!
Klack – der Regler des Kochers schnappt nach oben. Ich lege das Handy zur Seite und lasse das heiße Wasser langsam über die Teebeutel in die Kanne laufen. In dem Moment, in dem ich den Kocher zurück auf seine Station gleiten lasse, fallen auch meine Augen zu und ich stütze mich auf der Küchenplatte vor mir auf, um die Schwere meiner Glieder und das aufkommende Schwindelgefühl abzufangen. Einige Sekunden verharre ich in dieser Position, dann erhebe ich mich und gieße mir Tee in eine Tasse.
Als ich den Garten betrete, empfängt mich eine angenehme Kühle. Die frische Luft empfinde ich als willkommenen Gegensatz zur Muffigkeit des abgedunkelten Schlafzimmers und einer ungelüfteten Küche. Ich bin hier nicht gerne drinnen, dafür umfangen die Räume mich nicht heimatlich genug.
Mit der wärmenden Tasse in der Hand begebe ich mich zum Beet im hinteren Teil des Gartens. Hier habe ich gestern mit dem Umgraben begonnen. Das Entfernen aller Pflanzen inklusive Wurzeln und das Auflockern der Erde haben sich als mühevolle Arbeiten herausgestellt. Zumindest für mich, die ich damit keinerlei Übung habe. Dass ich dabei trotz allem viel Freude empfunden habe, liegt an meinen reizenden Nachbarn. Sie stehen auch jetzt schon erwartungsvoll vor dem Zaun Spalier, der ihr Revier von meinem trennt. Acht Hühner und ein Hahn blicken mir entgegen. Dass umgegrabene Erde eine wundersame Vermehrung von Regenwürmern zur Folge hat – diesen Konditionierungsprozess haben sie in ihrem kurzen Leben bereits durchlaufen. Ich lächle in ihre Richtung.
Den Tee stelle ich auf halbem Weg zum Schuppen auf dem Deckel des Brunnens ab. Als ich nach dem Schlüssel um meinen Hals fasse, um die Tür aufzuschließen, sehe ich plötzlich Maiks taxierenden Blick vor mir. Das Brett, das er gestern für mich nach Hause getragen hat, lehnt still an der Wand. Der Geschmack von Tabak liegt mir auf der Zunge und ich ziehe in Gedanken ein Echo des Qualms durch meine Lungen.
Ausgerüstet mit Gartenhandschuhen, einem Spaten und einer Handgabel, mache ich mich an die Arbeit. Während ich mich langsam, Spatenstich für Spatenstich, vorarbeite, laufen die Hühner samt Hahn aufgeregt vor dem Maschendraht auf und ab. Die Erde ist feucht und schwer. Ein ziemlich verregneter Sommer liegt hinter uns, der das Grundwasser hat soweit ansteigen lassen, dass wir in den vergangenen Monaten tatsächlich nie gießen mussten. Das Umgraben wird dadurch deutlich einfacher und die Anzahl der Regenwürmer, die ich mit meinem Spaten nach oben befördere, freut meine neuen Freunde. Ich schmeiße die Würmer einzeln rüber und versuche dabei, mein menschliches Verständnis von Gerechtigkeit durchzusetzen. Die Hackordnung der Gruppe auf der anderen Seite des Zaunes lässt sich mit meiner Vorstellung allerdings nicht wirklich vereinbaren. Irgendwann gebe ich mich geschlagen und schmeiße die Beute ohne weitere Verteilungsambitionen hinter mich.
Das Wetter an diesem Tag zeigt sich nach den gestrigen Unruhen aufgeräumt. Während mir die Sonne aufs Gesicht scheint, finde ich langsam zu einem fließenden Arbeitsrhythmus. Hin und wieder ziehen Gruppen von Zugvögeln über mir vorbei. Ob die Kraniche und Gänse nun schon aufbrechen oder diesen Aufbruch erst noch einstudieren, erschließt sich mir dabei nicht. Ein sehnsüchtiges Gefühl hinterlassen sie so oder so.
Der gleichförmige Ablauf meiner Handlungen gibt mir Raum zum Denken. Eine Woche – dieser Zeitraum schwebt über mir und ich weiß noch nicht genau, ob er mir weit oder eng erscheint.
Eine Woche, um ein Gefühl für die neue Situation zu bekommen und eine Idee davon, wie es gehen kann.
Eine Woche, um atmen zu können und frei zu sein von dem, was sich so hinterlistig harmlos Alltag nennt. Mich erholen soll ich, Kraft tanken – was man eben so sagt, wenn man auch keine wirkliche Lösung hat.
Kurz unterbreche ich das Graben und trinke meinen Tee, der leider schon kalt ist. Ich lege mein Werkzeug zur Seite und laufe in Richtung Hintereingang, um mir einen neuen zu holen, bevor auch der in der Küche abgekühlt ist. Ich steige aus meinen Gartenschuhen und lasse sie hinter mir auf der Steintreppe liegen. Als ich mich vom hinteren Teil des Hauses aus dem Wohnraum, der gleichzeitig auch Küche ist, nähere, vernehme ich ein Geräusch. Etwas scheint drinnen um sich zu schlagen. Hektische Laute dringen durch die geschlossene Tür. Für einen Augenblick erschreckt mich das, was ich höre. Schließlich bin ich alleine hier. Doch dann ahne ich, was sich auf der anderen Seite der Tür abspielt. Behutsam drücke ich die Klinke nach unten und öffne die Tür.
Das, was ich vorfinde, nachdem ich mich durch die leicht geöffnete Tür hindurchgeschoben habe, bestätigt meine Vermutung. Ein Vogel hat sich verflogen und versucht nun panisch, Orientierung und Ausgang zu finden. Es ist eine Rauchschwalbe. Im Frühjahr und Sommer brüten sie unter dem schmalen Terrassenvordach. Offenbar hat sich eines der Tiere beim Anflug auf sein Nest im Weg geirrt. Es flattert völlig außer sich vor Angst durch den Raum und stößt dabei immer wieder gegen Wände oder Möbelstücke.
Ich bleibe erstmal ganz ruhig in der Mitte des Raumes stehen. Ich möchte die Schwalbe mit meinen Bewegungen nicht noch weiter verunsichern. Aber ihre Aufregung ist bereits jetzt schon so groß, dass meine Anwesenheit hier wohl kaum einen Unterschied macht. Die größte Panik löst die Tatsache bei ihr aus, dass sich ihr keine vertraute Landemöglichkeit auftut. Als sie versucht, auf dem schmalen Rand eines Topfes zu landen, gerät sie aus dem Gleichgewicht und rutscht ab. Sie stürzt nach unten und prallt auf die Kante unseres Tritthockers, bevor sie auf dem Boden aufschlägt. Am Ende der Karambolage, die mit Flügelschlagen und Fiepen einhergeht, bietet sich mir ein mitleiderregendes Bild. Mitten auf dem Küchenboden sitzt flach atmend das Vögelchen und wirkt zerrupft. Als ich einen vorsichtigen Schritt in seine Richtung wage, reagiert es erneut gehetzt und flüchtet zu Fuß in die ihm nächst gelegenste Zimmerecke. Dabei wird ersichtlich, dass die Schwalbe einen Flügel nachzieht, aus dem einzelne Federn schief hervor stehen. Das sieht ganz nach einem Bruch aus, denke ich und mein Blick geht automatisch durch das Küchenfenster in Richtung Seeweg.
Ein paar Atemzüge gebe ich mir und dem Vogel. Dann verlasse ich das Zimmer und suche im Rest des Hauses nach einem Behälter, der sich für einen Transport eignen würde. Fündig werde ich in einer der Ferienwohnungen. In ihr haben meine Schwiegereltern nach ihrem letzten Besuch einen Schuhkarton mit Pinseln und Lack zurück gelassen. Ich kippe den Inhalt aus und renne damit die Treppe hinab. Plötzlich habe ich es eilig, schließlich ist es durchaus denkbar, dass das Tier sich in seiner Panik weitere Verletzungen zuzieht. Als ich aber ins Wohnzimmer trete, ist es ruhig. Die Schwalbe sitzt unverändert in ihrer Ecke und wirkt mittlerweile eher lethargisch als aufgeregt. Während ich mich ihr vorsichtig nähere, gehe ich in Gedanken die Bewegungen durch, die ich als Kind beim Einfangen meines Wellensittichs ausgeführt habe. Ich spüre das Gefühl, das der federleichte Körper dem Druck meiner Hand abverlangt. Nicht zu sanft, sonst kann ich ihn nicht halten und er entwischt mir. Nicht zu fest, sonst breche ich ihm die zarten Rippen. Bewaffnet mit dieser Vorstellung hocke ich mich dem Vögelchen gegenüber.
Nach einer Weile beginnt das Tier wieder etwas lebhafter zu wirken und versucht, mit den Flügeln zu schlagen. Jetzt muss ich schnell sein und darf nicht zögern, sonst kann es sich quälend in die Länge ziehen. Meine Hände schnellen nach vorne, drängen den Vogel noch weiter in die Ecke, dann greife ich zu. Tatsächlich gelingt es mir erstaunlich gut, den Körper gleich beim ersten Mal festzuhalten. Noch ein Versuch des Tieres, den Flügel wieder frei zu bekommen – dann liegt die Schwalbe fest in meinen beiden Händen. Ich warte erneut etwas ab, damit sich das Herz meines Gefangenen erholen kann. Dabei gebe ich leise Schhhh-Laute von mir. Langsam begebe ich mich so zum Esstisch, auf dem der offene Schuhkarton bereit steht. Ich lege meine Hände in den Karton und verringere Stück für Stück den Druck auf den Körper. Eine Hand öffne ich und lege sie schützend über den Schwalbenkopf, dann lasse ich auch mit der anderen los und stülpe rasch den Deckel auf den Karton. Das alles passiert ohne große Gegenwehr. Im Inneren des Kartons breitet sich eine irritierende Geräuschlosigkeit aus. Das Tier hat fürs Erste aufgegeben. Hoffentlich lohnt sich diese Kapitulation.