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4.

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Ich postiere den weißen Plastikstuhl, den ich sonst nutze, um in der Abendsonne vor der Haustür zu sitzen, zwischen den zwei größten Robinien, die rund um unsere Sickergrube wachsen, leicht versteckt hinter dem dazwischen wachsenden Holunder. Die Stelle habe ich sorgfältig ausgewählt. Von hier aus habe ich jeden, der das Dorf per Auto verlässt, genau im Blick. Gleichzeitig bin ich selbst relativ gut geschützt und nur für jemanden zu erkennen, der langsam fährt und gezielt nach mir sucht. Nach welchem Auto ich Ausschau halten muss, weiß ich. Der dunkelblaue Skoda Roomster, den ich heute Morgen flüchtig beim Gang auf Maiks Haustür zu wahrgenommen habe, ist mir zum Glück in Erinnerung geblieben. Ausgestattet bin ich mit Buch und Thermoskanne. Schließlich kann es lange dauern. Und kalt werden. Wenn meine Rechnung überhaupt aufgeht. Ich stecke mir die Zigarette in den Mund, zünde sie an, schließe die Augen und lehne mich zurück. Nach zwei Zügen nähert sich mir von hinten ein Motorengeräusch. Sofort wendet sich mein Blick in Richtung Straße. Fehlalarm. Kein blauer Skoda Roomster. Ein roter Opel irgendwas. Na dann, ich habe Zeit. Nachdem ich die Zigarette aufgeraucht habe, nehme ich mein Buch und beginne zu lesen.

Drei Kapitel später ist es dann tatsächlich so weit. Ich will gerade aufstehen, um kurz hinter dem Schuppen zu pinkeln, als ich gerade noch rechtzeitig die Kastenform des Roomsters wahrnehme und mich ducke. Maik sitzt hinter dem Steuer, alleine. Weder seine Mutter noch der Hund sind zu sehen. Das Auto fährt zügig in Richtung Dorfausgang – nichts deutet in meinen Augen darauf hin, dass ich gesehen wurde. Ich stehe auf und mache mich auf den Weg.

Zügig laufe ich die Straße zum See entlang. Als ich an Maiks Haus ankomme, atme ich noch ein paarmal tief ein, bevor ich daran gehe, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

Auch diesmal folgt meinem Klingeln sofort das wütende Bellen, das mir in Ton und Tempo nun schon vertraut ist. Zwischen meinem Klingeln und dem Moment, in dem die Tür sich vor mir öffnet, vergeht so wenig Zeit, dass ich mich überrumpelt fühlen könnte, wenn ich den Gedanken nicht sofort verdrängen würde. Diesmal muss ich mich nicht erst einer Musterung unterziehen lassen. Diesmal lächelt mich die Frau hinter der Tür sofort an, wenn auch weiterhin verhalten.

Ich strecke ihr meine Hand entgegen. „Guten Tag! Frau Kursawe?“

Als sie meine Hand ergreift, tut sie das vordergründig mit derselben Zielstrebigkeit und Ruhe ihres Sohnes. Aber dahinter, so meine ich zu spüren, lauert ein Hang zum Zuviel, zur Grenzüberschreitung und Anhänglichkeit.

„Ja, ich bin Maiks Mutter. Er ist nich da. Er kauft ein. Kommen Sie doch rein. Sie können auf ihn warten. Heute Morgen warn Sie so schnell weg. Ich wollt Ihnen noch nen Kaffee anbieten. Den hatte ich gerade fertig.“

Ihre Worte, die mit verrauchter, aber trotzdem zarter Stimme auf mich einprasseln, lassen mir für eine Erwiderung kaum Raum. Ich trete erneut in den dunklen Flur, den ich bereits kenne und nutze ein kurzes Luftholen ihrerseits, um wieder das Wort an mich zu nehmen: „Frau Kursawe, ich habe heute Morgen völlig vergessen, mich vorzustellen. Das tut mir leid. Ich dachte, ich hole das jetzt nach. Ich bin Lina Simon. Wir haben vor vier Jahren das Haus vorne an der Ecke, Schwedter Str. 13, gekauft …“

Sie fällt mir ins Wort, während sie mit einem Kleiderbügel ausgestattet, den sie von der Garderobe genommen hat, wartend vor mir steht und mir dabei zusieht, wie ich Jacke und Weste ablege. „Ja, ich weiß doch, das alte Postamt. Da warn wir ganz froh, dass das endlich jemand übernommen hat. Verfällt doch so schnell, das Grundstück. Und wenn nich geheizt wird, das is auch nich gut.“

Sie hängt den Bügel mit meiner Jacke an die Garderobe. Als ich ansetze, meine Schuhe ebenfalls auszuziehen, winkt sie ab.

„Haben Sie Angst vor Hunden?“ Dieselbe Frage, so kurz hintereinander von Mutter und Sohn gestellt.

„Nein, gar nicht. Ich bin mit zwei großen Jagdhunden aufgewachsen. Ich mag Hunde.“

„Ach, dann is ja gut. Daland is ein absoluter Schatz, er tut niemandem was.“

Wie, als wolle sie diese Aussage unterstreichen, öffnet sie die Tür, hinter der das Tier immer noch laut wütet. Sofort zwängt sich der Hundekörper durch das Stück Freiheit, das sich ihm bietet und rast ungebremst die kurze Strecke auf mich zu. Trotz des Überschwanges springt er nicht an mir hoch. Er stupst hektisch gegen mein Bein und schnuppert und schleckt an meiner Hand, die ich ihm geduldig entgegen halte. Ich beginne ihn über den Kopf zu streicheln und hinter den Ohren zu kraulen. Er wird ruhiger und setzt sich dicht neben mich, den Kopf leicht schräg an mich gelehnt. Sie hat Recht. Er ist ein Schatz.

„Na, bist du ein Feiner? Ja? Ein ganz Feiner?“ Ich gehe in die Hocke, nehme seinen Kopf in beide Hände und schaue ihm in die Augen. Als ich mit meinen Fingern einen kräftigen Druck auf die Stelle hinter seinen Ohren ausübe, beginnt er mir direkt unter den Händen weg zu schmelzen. Sein Körper sinkt auf den Boden und er dreht sich auf die Seite, bereit, sich von mir durchkraulen zu lassen. Ich beuge mich noch ein Stück weiter nach unten und versenke mein Gesicht in das weiche Fell des Tieres. Tief einatmend lasse ich mich für einen Moment in den Hundegeruch versinken.

Als ich mich wieder aufrichte, bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass mich Frau Kursawe mit einem glücklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht betrachtet. Wir stehen uns nun wieder auf Augenhöhe gegenüber und ihre unverstellte Freude springt auf mich über.

„Kommen Sie, ich mach uns nen Kaffee. Oder wollen Sie lieber Tee? Von gestern habe ich noch Apfelkuchen. Wir ham dieses Jahr so viele Äpfel, ich weiß gar nicht, wohin damit.“

Plappernd entfernt sie sich von mir weg in Richtung des Zimmers, in dem der Hund eben noch eingesperrt gewesen war. Ich folge ihr. Der Raum, in den ich nun eintrete, unterscheidet sich fundamental von dem Zimmer, in das Maik mich heute Morgen geführt hat. Eng, dunkel, überfrachtet mit Möbeln, Bildern und allem erdenklichen Zeugs sowie einem schweren Geruch von Zigarettenrauch, der über allem liegt. Ich entdecke hier auch die Frösche vom Flur wieder. Sie sitzen, stehen, hängen und liegen überall. Mein Auge ist überfordert, jedes einzelne Exemplar wahrzunehmen, so viele sind es in so unterschiedlichen Ausführungen und Funktionen. Wie immer, wenn ich auf eine Sammlerseele stoße, entfaltet das Betrachten der über die Zeit zusammengestellten Objekte einen Sog, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich bleibe vor dem erstbesten Regal stehen und schaue genauer hin. Zwischen Bierdeckeln mit Froschbildern, einem Skatblatt, dessen Farben aus entsprechenden Motiven bestehen, mehreren Blumenvasen in Froschform und Kinderbüchern, in deren Geschichte offensichtlich ein Frosch die Hauptrolle einnimmt, entdecke ich eine grüne Legoplatte, die bestückt ist mit kleinen, bunten Froschfiguren. Ich strecke meine Hand danach aus und nehme eines der winzigen Tierchen auf.

„Sind die nich süß!?“ So plötzlich ihre Stimme so leise direkt neben meinem rechten Ohr zu vernehmen, lässt eine leichte Gänsehaut über meinen Arm ziehen. Ich drehe mich in ihre Richtung und weiche einen Schritt zurück, um mir Raum zu verschaffen.

„Ich hab sie erschreckt. Das tut mir leid. Die gehören zu meinen Lieblingsstücken. Ich sammle seit zwölf Jahren. Seit Maik und ich hier zusammen eingezogen sind. Hab das Haus vom Bruder meines Mannes geerbt. Wusste gar nicht, was ich damit soll. Ist doch viel zu groß für mich alleine. Und wer kümmert sich dann um die Reparaturen? Und dann hat der Maik gesagt: Mutti, lass uns zusammen ziehen. Ich kümmer mich um das Haus.“ Wieder strahlt sie mich an. Der letzte Rest ihrer Verhaltenheit ist nun verflogen.

„Und das macht er. Er kümmert sich. Der Maik kann wirklich gut handwerkern. Das konnte er schon immer. Als kleiner Junge hat er immer so gerne Vogelhäuser gebaut. Ist wirklich ein guter Junge, wissen Sie!“ Ihr Blick in diesem Moment strahlt absolute Offenheit aus. Er nimmt dem Gesagten jede Form von Phrase. Sie meint, was sie sagt. Daland ist ein Schatz. Maik ist ein guter Junge.

Etwas unschlüssig stehen wir uns schweigend gegenüber. Dann ergreife ich die Initiative: „Also Apfelkuchen hört sich sehr gut an. Mit Streusel oder ohne?“

Sie zwinkert mir zu: „Mit ganz viel Streusel und viel Sahne! Sie essen doch Sahne, oder? Sie sehen so aus. Viele von den Frauen, die am Wochenende hier raus kommen essen nicht gerne Sahne. Aber sie doch sicher!“

Tatsächlich esse ich gerne Sahne. Ich würde es in diesem Moment allerdings auch nicht wagen, das Band der stillen Vereinnahmung, das sie soeben um mich geschlungen hat, zu zerschneiden.

„Setzen sie sich. Ich hol uns den Kuchen.“ Sie weist auf einen von drei Sesseln, die sich um den Couchtisch gruppieren. Ich lasse mich in das weiche Polster sinken und schaue ihr hinterher, als sie in den nächsten Raum verschwindet, in dem ich die Küche vermute. Daland hat zu meinen Füßen Platz genommen und liegt mit seinem Körper entspannt auf meinem rechten Fuß. Für ihn scheint alles geklärt zu sein und die Welt in Ordnung. Während ich meine Finger sachte über sein Fell gleiten lasse, schaue ich mich genauer um. Obwohl hier alles zu eng und zu vollgestellt wirkt, kann ich keine Anzeichen von Verwahrlosung entdecken. Im Gegenteil. Alles um mich herum wirkt penibel sauber und ich frage mich, wie es überhaupt möglich ist, zwischen so vielen Dingen eine solche Sauberkeit zu erhalten.

Die Decke auf dem Tisch vor mir ist offensichtlich eine Kinderbastelei. Mit Kartoffeln wurden Frösche in den unterschiedlichsten Farben auf den weißen Untergrund gedruckt. Eine wahrscheinlich allen Eltern dieser Welt vertraute Technik. Um die Frösche herum sind mithilfe von Stofffarben Seen und Wiesen aufgemalt. Eine lachende Sonne rundet das Bild ab, das lebendig und fröhlich wirkt. Ich schaue auf und suche im Raum nach Fotografien, die das Kind, dessen Werk mich hier anstrahlt, zeigen und werde an der Wand mir direkt gegenüber fündig. Ich schiebe Daland behutsam zur Seite und stemme mich wieder aus dem tiefen Sessel hoch, um mir das Bild genauer anzusehen. Es zeigt Maik, der in seinem Boot sitzt. Aufgenommen wurde es im Hochsommer, Kleidung und Licht deuten darauf hin. Neben Maik steht ein Mädchen. Ich würde sie auf sechs bis acht Jahre schätzen. Sie blickt stolz und forsch in die Kamera, ihre Haare sind noch nass vom Baden und auf ihrem Schwimmanzug tummelt sich eine Seepferdchenfamilie. Ihren rechten Arm hat sie um Maiks Schulter gelegt, mit der linken hält sie einen toten Fisch in Richtung der Kamera. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden erschließt sich nicht sofort. Es ist vor allem die Ernsthaftigkeit, die in beiden Gesichtszügen liegt, die mir nach intensiverer Betrachtung auffällt.

„Das ist unsere Johanna.“ Ich drehe mich um und sehe Maiks Mutter mit einem Tablett den Raum betreten. Plötzlich nehme ich auch den Kaffeegeruch wahr und beim Anblick des Kuchens stellt sich ein wohliges Hungergefühl bei mir ein.

„Sie angelt mittlerweile schon richtig klasse. Wie die Großen. Maik hat sie schon mitgenommen, da war sie erst zwei. Früher hat sie die geangelten Fische immer wieder ins Wasser geworfen. Sie war manchmal richtig böse auf ihn, hat ne Weile gedauert, bis sie das alles so richtig verstanden hat. Einmal hat sie mir sogar einen Hecht gebracht. Da war sie stolz, die Kleine. Ist genau wie ihr Papa.“

„Wie alt ist sie denn?“

„Zehn. Im November wird sie elf.“

Fotografie und Tischdecke sind also beide schon etwas älter, denke ich und betrachte Frau Kursawe, wie sie die Tassen mit Kaffee füllt.

„Wohnt sie auch hier im Ort?“

Es ist kaum wahrnehmbar. Wäre ich nicht sowieso hochfokussiert auf mein Gegenüber, es wäre mir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Ein kurzes Stocken, ein fast wütendes Huschen über ihr Gesicht. Dann hat sie sich sofort wieder gefangen und strahlt mich an: „Milch und Zucker?“

Ich akzeptiere ihre Weigerung, mir eine Antwort zu geben und gehe auf die Ablenkung ein. „Beides gerne. Danke!“ Beherzt schüttet sie zwei Löffel Zucker in die kleine Tasse vor mir. Milch nehme ich mir selbst aus der Tüte, die sie aus der Küche mitgebracht hat. Währenddessen häuft Frau Kursawe mir einen großen Berg Sahne auf ein noch größeres Stück Apfelstreuselkuchen und schiebt mir den überfüllten Teller entgegen. Sie blickt mich erwartungsvoll an. Ich nehme das erste Stück und meine Erwartung erfüllt sich. Der Kuchen schmeckt ausgezeichnet. Das kann auch der absurd überzuckerte Kaffee nicht eintrüben.

„Schmeckt sehr gut!“ Ich unterstreiche meine Worte mit einem Nicken.

Eine hauchzarte Rötung zieht sich über ihre Wangen und ihre Augen brechen den Kontakt zu meinen ab. Sie wandern nach unten in Richtung des Kuchentellers. Für einen Moment bleiben sie dort ruhen, dann geht ein Ruck durch ihren Körper, sie greift nach der Gabel und beginnt zu essen. Jetzt ruht ihr Blick wieder fest auf mir.

„Woher kennen Sie denn nun eigentlich Maik? Kennen Sie ihn schon länger? Er ist ja ein Einzelgänger. Das war er schon als Kind. Ich musste ihn oft rausprügeln, damit er mit den Anderen spielt. Und in der Schule, in der ersten Klasse, da wollte er kein Wort mit der Lehrerin sprechen. Ach Gott, was hat ich da Ärger wegen ihm. Das wurde ja nicht so gern gesehen damals, wenn die Kinder ihren eigenen Kopf hatten …“

„Ich kenn ihn erst seit gestern. Er hat mir geholfen, als das Gewitter losging. Ich war draußen auf dem See.“

Sie schaut irritiert in mein Gesicht. Da sie selbst ihre Eingangsfrage offensichtlich schon wieder vergessen hat, muss sie erst einen Augenblick nach dem Sinn meines plötzlichen Einwurfes suchen. Als sie ihn gefunden hat, nickt sie zustimmend. „Ja, auf dem See ist er oft. Daland hasst das, weil er ihn dann meistens nicht mitnimmt. Wissen Sie, sein Vater war auch oft draußen in der Natur. Wandern, Angeln, Rudern. Alles, was draußen war, das war seine große Leidenschaft. Geklettert ist er auch, am liebsten in der sächsischen Schweiz. Warn Sie mal da? Ist schön dort. Klettern kann man ja hier in der Gegend leider nicht…“

„Wo haben Sie denn vorher gewohnt, bevor Sie hier in das Haus gezogen sind?“ Wieder muss ich ihr ins Wort fallen. Ich stelle mich darauf ein, dass eine Unterhaltung anders nicht möglich ist. Für einen kurzen Moment sehe ich Mutter und Sohn zusammen sitzen und miteinander kommunizieren. Innerlich erfreue ich mich an diesem Bild.

Sie ist jetzt nicht mehr verwundert, dass ich ihr ständig ins Wort falle. Auch sie stellt sich auf mich ein.

„In Schwedt. Da warn Sie doch sicher schon mal mit ihren Kindern, oder? Ham ein tolles Schwimmbad da. Für die ganze Familie. Das Wasser ist schön warm und eine Rutsche gibt es auch. Und son Wildwasserkanal. Hat man ja heute so. Bei uns gabs das früher nicht. Meine Mutter ist aber auch nicht mit mir Schwimmen gegangen. Die hatte dazu gar keine Zeit. Und der Maik, der wollte das nicht. Nur im See, da ist er immer geschwommen.“ Plötzlich hält sie inne und schaut an mir vorbei. Ich scheine für sie auf einmal nicht mehr anwesend zu sein. Ich verhalte mich still. Der müde Eindruck, den sie heute Morgen auf mich gemacht hat, vermischt sich nun, während wir Kuchen essend beieinander sitzen, mit etwas Kindlichem. Ein Gefühl von widerfahrener Härte auf der einen Seite und der gleichzeitig strikten Weigerung auf der anderen, dieser Härte abschließenden Einfluss zu geben, stellt sich dadurch bei mir ein.

Ihr Blick, der gerade noch in die Ferne ging, wandert wieder zu meinem Gesicht. Ich habe den Eindruck, als wolle sie etwas sagen und traue sich nicht. Eine Intuition schießt mir durch Kopf und ich probiere es aus: „Mich stört es übrigens nicht, wenn Sie eine Zigarette rauchen. Ich rauche gerne selbst mal eine zwischendurch. Oder rauchen Sie nicht?“

Treffer. Ihre Augen strahlen. „Ja, wenn Sie das wirklich nicht stört. Ich mag ja nicht unhöflich sein.“ Sie steht auf und öffnet eine der Schubladen des großen Wohnzimmerschrankes, der viel zu wuchtig und schwer den Raum dominiert. Sie holt eine Packung Zigaretten hervor. Dann zögert sie, bevor sie sich zu mir umdreht. „Was halten Sie von einem kleinen Schluck Apfellikör? Ich mache da immer Holunder mit rein. Den müssen Sie probieren. Ist mein ganzer Stolz!“

„Sehr gerne.“

Erneut verschwindet sie in der Küche. Daland hebt müde den Kopf und schaut seinem Frauchen hinterher. Seufzend lässt er den Kopf wieder sinken.

Als sie zurückkommt, hat sie zwei Likörgläser und eine dünne Flasche mit dem entsprechenden Inhalt dabei. Sie stellt alles gemeinsam mit den Zigaretten auf den Tisch und sucht nach etwas in einem der überquellenden Regale neben dem Sofa. Es ist ein Aschenbecher, den sie zutage fördert – das letzte fehlende Utensil. Sie legt jedem von uns eine Zigarette neben den Kuchenteller und füllt anschließend die Gläser mit Likör. Dann greift sie zur Zigarette und ich tue es ihr gleich. Nach dem Anzünden prosten wir uns zu und ich koste den ersten Schluck Likör. Wieder nicke ich aus ehrlicher Überzeugung anerkennend.

Sie leert ihr Glas in einem Zug und schiebt mir danach das zweite Stück Kuchen auf den Teller. Ich versuche, dort anzuknüpfen, wo sich ihre Gedanken verloren haben.

„Ist Maik in Schwedt aufgewachsen?“

„Ja, nicht nur er, ich auch. Interessieren Sie sich für Schwedt? Warten Sie, ich habe da was, wenn Sie sich für Früher interessieren.“ Während sie aufsteht, füllt sie unsere Gläser erneut mit Likör. Dass meines überhaupt noch nicht leer war, stört sie nicht im Geringsten. Sie geht an ein Regal in der anderen Ecke des Zimmers und kommt kurz darauf mit einem Fotoalbum in der Hand zurück.

„Schwedt war zu meiner Zeit ein richtiges Industriezentrum, wussten Sie das? Wegen dem Erdöl konntest du bei uns ja alles produzieren.“ Sie setzt sich mit dem Album auf das Sofa und klopft neben sich. „Kommen Sie rüber zu mir, dann kann ich Ihnen alles besser erklären.“

Diesmal reagiert Daland auf die Störung durch mein Aufstehen ein wenig unwirsch. Er beschließt, sich einen andere Ruheplatz zu suchen und verschwindet durch die angelehnte Tür in Richtung Flur. Frau Kursawe blättert die erste Seite des sehr alt wirkenden Albums auf. Gleich das erste Bild, aufgenommen in Schwarz-Weiß, zeigt eine Schulklasse. Aus der Sicht einer heutigen Mutter bin ich jedes Mal überrascht über die Größe der Schulklassen damals. Bestimmt 50 Kinder stehen brav neben- und hintereinander und blicken stolz in die Kamera.

„Das war meine Einschulung. Raten Sie mal, wer ich bin?“ Wieder diese kindliche Freude über das kleine Ratespiel. Ich beuge mich konzentriert über das Bild und betrachte die Kindergesichter. Der Blick. Suche nach dem Blick. Während meine Augen langsam von Gesicht zu Gesicht wandern, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, dass Frau Kursawe ihr Glas zum dritten Mal befüllt. Plötzlich vernehme ich ein Geräusch, direkt gefolgt von Dalands Winseln. Maik ist zurückgekommen. Auch seine Mutter hat das bemerkt und reagiert darauf auf eine Art und Weise, die mich nur im ersten Moment überrascht. Sie kippt ihr volles Glas hinunter und lässt es hinter einem der zahlreichen Sofakissen verschwinden.

Ihr Sohn betritt den Raum und ich spüre, wie sich der Körper der Frau neben mir anspannt wie der eines Rehes, das eine Witterung aufgenommen hat. Maiks Blick huscht blitzschnell über die Szenerie, die sich ihm bietet. Vor allem an der Likörflasche bleibt er hängen, bevor er mich ansieht. Wut flackert in seinen Augen und überträgt sich augenblicklich auf seinen Körper. Daland weicht zur Seite und beäugt sein Herrchen abwartend aus sicherer Distanz. Frau Kursawe steht eilig auf und verfällt in einen hektischen Redeschwall, den sie versucht, wie ein Schutzschild zwischen mich und Maik zu werfen.

„Maik, ich zeige Frau Simon gerade alte Bilder von Schwedt. Sie interessiert sich für die Stadt. Mein Apfelkuchen hat ihr so gut geschmeckt, da wollte ich sie auch von meinem Likör probieren lassen. Der ist dieses Jahr doch wirklich gut geworden. Wir haben uns ganz nett unterhalten.“

Schweigend wischt Maik die Beschwichtigungsversuche seiner Mutter beiseite, indem er sie, die auf ihn zugegangen ist, mit seinem rechten Arm von sich fernhält. Aus dem ernsten Blick, den ich bereits kenne, spricht jetzt etwas Verachtendes, dem jegliche Wärme fehlt. Er wendet sich nur vordergründig an seine Mutter, tatsächlich richten sich seine Worte alleine an mich. „Danke, dass du dich um Frau Simon gekümmert hast, Mutti. Sie wollte nur etwas abholen aus dem Schuppen und muss dann auch gleich wieder gehen.“

Ich stehe auf. Keiner von uns beiden wendet den Blick ab. Frau Kursawe steht zwischen uns. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Mit zittriger Stimme startet sie einen erneuten Versuch. „Maik, es war so freundlich von Frau Simon, mich zu besuchen. Wir können Sie doch mal zum Essen einladen. Was meinst du? Dann koch ich was Schönes. Von dem Wildschein, das du letzte Woche geschossen hast. Und dazu mach ich uns ne feine Soße …“ Dieses Mal unterbricht er sie noch schärfer. „Ich denke nicht, dass Frau Simon dafür Zeit hat. Ich bringe sie jetzt zur Tür.“ Frau Kursawe verfällt augenblicklich in ein resignatives Schweigen. Sie beginnt, Teller und Tassen auf das Tablett zu stellen und achtet dabei darauf, mich nicht anzusehen.

Mein Zorn über Maik wird für einen kurzen Moment von dem Mitgefühl für seine Mutter beiseite gedrängt. Ich gehe einen Schritt auf sie zu und berühre sachte ihren Arm, der gerade die Sahneschüssel hochhebt. „Vielen Dank, Frau Kursawe. Es hat mich gefreut. Wirklich. Ich würde gerne wiederkommen. Es findet sich bestimmt eine Gelegenheit dafür.“ Sie hebt ihr Gesicht und von dem, was sie jetzt tut, bin ich tatsächlich überrumpelt. Sie zieht mich an sich und drückt mich fest. Diese Geste überwältigt mich und ich vergesse den Mann, der in kurzer Entfernung bedrohlich neben uns steht. Ich erwidere ihre Umarmung und lege meine Hände sachte auf ihren Rücken. Sie löst sich wieder von mir und nickt mir kaum sichtbar zu. „Bis zum nächsten Mal“, flüstert sie, um sich dann weiter dem Aufräumen zu widmen.

Wortlos gehe ich an Maik vorbei zur Türflur. Daland will mir folgen, aber er hält ihn zurück und schickt ihn mit einem knappen Befehl auf seine Decke. Dann folgt er mir und schließt die Tür hinter sich. Wir stehen uns im dunklen Flur gegenüber, der nun noch bedrückender wirkt. Maik tritt bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Ich rieche seine Wut und spüre die Anspannung seiner Muskeln. Er zischt mehr, als dass er spricht: „Glaub bloß nicht, dass du hierherkommen und dich einmischen kannst. Lass meine Mutter in Ruhe. Du hast keine Ahnung!“

Mein Puls ist erstaunlich ruhig. „Und du glaub nicht, dass du mir Angst machen kannst. So funktioniert das nicht.“

Ich nehme meine Jacke von der Garderobe, greife, bevor er mir den Weg versperren kann, an seiner Hand vorbei nach der Klinke und öffne die Tür. Als ich schon halb heraus getreten bin, drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Jetzt bin ich es, deren Worte scharf klingen: „Ach übrigens - danke für die Zigarette! Beim nächsten Mal klingel einfach, wenn du etwas möchtest. Macht man bei uns in Berlin so.“ Dann lasse ich die Tür heftig hinter mir zuschlagen. Diesmal renne ich nicht.

Entferntes Glück

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