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DAS BILDNIS

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(Berret)

Ich sehe mir die alten Fotografien an, sehe dein Bildnis als Jugendliche und dein Bildnis als Frau. Auf einem Foto, zur Zeit, als du mir das erste Mal begegnet bist, sehe ich dich als groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit dichtem, braunem Haar, das weit über den Rücken fällt und das Oval deines Gesichtes umhüllt. Aufmerksam blickst du in die Welt. Auf deiner letzten Fotografie, mehr als zwei Jahrzehnte später, sehe ich dich als erwachsene Frau, aber unverändert derselbe Blick, dieselben Augen, klar und direkt blicken sie mich an. Der Schleier aus deinem braunen, langen Haar ist jetzt durchzogen von einzelnen Silberfäden.

Du könntest meine Frau sein, wenn alles anders gekommen wäre. Wir hätten eine Familie gegründet. Wir hätten möglicherweise zwei oder drei Kinder, wenn ich vernünftig und verantwortlich gehandelt hätte. Wenn ich erwachsen und reif gehandelt hätte. Aber es war anders gekommen. Wir hatten geträumt. Wir lebten für einige Zeit in einer anderen Welt, fernab von der Wirklichkeit. Uns hätte am Schluss nur noch die Flucht gerettet.

Wir planten, zu verschwinden. Einfach so, für drei Jahre – irgendwohin nach Andalusien, nach Südamerika, nach Indien, vielleicht auch nur in die tiefe Bergwelt der Abruzzen. Wir beide, Naturkinder damals, mit Wenigem zufrieden, nur mit uns selbst. Wir hätten mein Zelt mitgenommen und unsere Decken, zwei Kochtöpfe, Trinkbecher und Besteck. Wir hätten uns drei Jahre von Wurzeln ernährt und von Früchten oder von den Fischen im Bach. Wir wären durch die tiefen Wälder gewandert, ein Zelt auf dem Rücken, von Quelle zu Quelle.

In den Nächten hätten wir den Frieden der Welt beschworen und die ewige Liebe. Ab und zu wären wir im Trubel einer Stadt untergetaucht. Wir hätten auf dem Marktplatz für einen Nachmittag getanzt und Volksfeste mitgefeiert. Wir hätten uns Dome angeschaut und Häfen, wären mit dem Schiff über einen Fluss entkommen. Wir wären in stille Bergseen eingetaucht und dann wieder in der Dunkelheit der Wälder oder in die Einsamkeit der Berge verschwunden. Drei Jahre hätten wir das durchgehalten, auch ohne die Pferde und den Hund. Wir hätten vielleicht zwei neue Hunde gefunden, Streuner in Spaniens Straßen, abgemagert und verlaust. Wir hätten sie gesund gepflegt.

Wir wären Jäger, Sammler und Fischer geworden – für drei Jahre, und du hättest vielleicht Armbänder geflochten, wie du es in Vierundzwanzig Höfen gerne getan hast, um sie zu verkaufen. Dann erst wären wir wieder zurückgekommen. Die Vermissten, die Betrauerten. Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter. Dann hätten wir mit dem Segen der Eltern zusammengelebt, ohne Strafe durch das Gesetz.

Wenn, ja, wenn die Katastrophe nicht eingetreten wäre – oder wenn ich mich mutiger und stärker erwiesen hätte. Ich träumte und ich träume immer noch. Einmal im Jahr wenn ich deinen Brief erwarte.

Ich betrachte dein Bildnis immer noch und vergleiche es mit früheren Bildern: dein dichtes Haar, die Linie deiner Nase in deinem Profil – eine gerade Linie – unverbogen wie dein Herz. Deine Augen, sie blicken in die Welt, und sie sehen sie, wie sie ist. Nicht nach innen gewandt, dein Blick, sondern nach draußen: zu dem Pferd, an das du dich lehnst, zu den Hunden, die spielten, zu mir, der ich den Wagen mit Holz belud. So wach und furchtlos schaust du in den Tag hinein, heute noch genau so wie früher.

Ich erkenne auf dem Foto deine immer noch schlanke Gestalt und deine Hand, die fest die Zügel deines Pferdes hält. Das Pferd steht ruhig, dankbar, geführt zu werden von dir. Ich erinnere mich an deine Hände, die Nüstern streicheln und Äpfel reichen, die eine Decke über den schweißbedeckten Körper eines Pferdes legen und frisches Stroh in die Box. Du, ein Wesen, das mit festen Schritten kommt und geht. Ich sehe uns ausreiten mit unseren Pferden. Wir fliegen dahin. Mit langen Beinen und schlanker Hand führst du, ohne darüber nachzudenken und ohne Arglist, Regie.

Ja, über die Pferde haben wir uns kennen gelernt. Nachdem wir uns zwangsweise lange Zeit nicht mehr sehen durften, begann die erste Zeile deiner Nachricht mit dem Namen meines Pferdes in unserem damaligen Zuhause, das mittlerweile zerfallen ist und nicht viel mehr als Wildnis. „Ich weiß, wie Dein Pferd hieß in Vierundzwanzig Höfen und ein Geheimnis von uns beginnt mit dem Buchstaben ‚M‘. Wer bin ich?“ Mit diesen Worten wolltest du dich mir zu erkennen gebe.

Als ich die Botschaften las, wusste ich, Xavelia ist es. Sie hat sich wieder gemeldet. Sie hat den Schritt getan, der mir verwehrt geblieben wäre. Sie musste den ersten Schritt gehen und ich musste darauf warten – und ich hoffte und glaubte, dass alles wieder von vorne beginnen könnte. Sie war damals achtzehn Jahre alt. Meine Hoffnungen sollten mich trügen. Nie mehr ist sie ganz zurückgekehrt. Nie mehr wurde es wie damals. Denn zwischen uns standen der Schmerz und der Verrat, den ich aus Feigheit beging. Ihr Bildnis aber ist mir geblieben: Xavelia mit wehenden Haaren auf dem Pferd. Xavelia, schlank und stark wie eine Kriegerin. Xavelia in Jeans und Reitstiefeln. Xavelia, die sich nicht um ihre Schönheit bekümmerte. Xavelia, ein Naturereignis.

Nadelherz

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