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ICH VERGESSE NIE

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(Berret)

Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich meiner jungen Geliebten begegnet bin. Es war der Tag, der mich später in unüberwindliche Leidenschaft stürzen und mein Leben aus der Bahn werfen sollte. Es war der Tag, der mich zu der Wanderung durch die Estremadura Spaniens veranlasste und mich über die portugiesische Grenze hinweg bis nach Lissabon führte.

Jahre hatte es danach gedauert, bis ich mir wieder eine bürgerliche Existenz aufbaute. Lange hatte ich gebraucht, das Geschehene zu akzeptieren und meine Handlungen zu verstehen, noch länger, um zu verzichten. Bis heute kann ich Xavelias Zauber nicht entfliehen. Ich bin und bleibe ihr ergeben, obwohl ich als Geschäftsmann kühl und berechnend handele und mir meine Beziehungen frei nach Wunsch und Möglichkeit gestalten kann. Ich könnte frei sein, aber ich bin es nicht. Was fesselt mich so lange und hindert mich, mein Leben intensiver und vielseitiger zu gestalten? Warum gibt die Vergangenheit keine Ruhe?

Fünfzig Jahre bin ich nun bald, ein Mann im sogenannten besten Alter: schlank, sportlich, sonnengebräunt und durchtrainiert, wie es unsere Zeit abverlangt. – Alles nur Ablenkungsmanöver vom Wirklichen, von meinem Innern, in dem die Wurzeln eines anderen Wesens wachsen und sich mit meinem Lebensbaum verbunden haben.

Mein Herz ist laut kardiologischer Untersuchung gesund. Es schlägt fest und regelmäßig. Es schlug für viele Frauen. Eigentlich aber schlug es bis zum heutigen Tag nur für Eine. Ich akzeptiere es. Sie ist jetzt bald vierzig Jahre alt. Graue Fäden durchziehen mittlerweile ihr dichtes, braunes Haar, wie ich auf einer Fotografie ersehe. Doch dies nimmt ihr nichts von ihrer Ausstrahlung und ihrer Persönlichkeit. Sie ist alterslos für mich. Sie bleibt und bleibt. Sie bleibt ihrem Wesen treu. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der sich trotzt allen Widrigkeiten so konstant treu geblieben ist und unveränderbar im Charakter. Sie lässt sich nicht verbiegen. Sie ist wie ein schöner und starker Baum, um den sich meine Wurzeln und meine Äste ranken, obwohl wir weit voneinander getrennt leben.

Ich nehme jetzt ein Glas Champagner wie in all den Jahren an diesem denkwürdigen Tag und trinke auf meine ferne Geliebte und auf unsere Bekanntschaft. Ich trinke darauf, dass das Schicksal uns gnädig war und wir wieder in das Leben zurückgefunden haben. Ich trinke darauf, dass wir uns immer noch verbunden sind, obwohl wir uns lange nicht mehr begegnen. Ich trinke auf die Gewissheit, dass alles kein Traum war, sondern unser reales Leben, das uns verwundete, das uns mit dem Gesetz in Konflikt brachte sowie die Existenz meiner Familie vernichtete. Und doch möchte ich die Ursache „Liebe“ nennen. Denn niemals habe ich mich später mehr binden können. Ich war bereits gebunden.

Manchmal war es ein Anruf, manchmal ein Brief, manchmal eine unerwartete SMS. So lebendig standen dann die Ereignisse wieder vor mir, dass es mir nicht mehr möglich war, einer neuen Beziehung die Liebe und Zuneigung zu geben, die sie verdiente. Ich trinke darauf, auf dass es meiner fernen Geliebten gut gehe. Ich trinke darauf, dass das Leben trotz technischer Perfektion eine unberechenbare Sache bleibt und ein Geheimnis in Allem ruht, das wir enträtseln müssen. Ich trinke auf meine tote Großmutter und auf meinen Vater, der in Indien starb, und ich spüre, dass die Toten hier an diesem Tag anwesend sind, dass ich nicht alleine bin. Ich trinke auf die Trauer meiner Mutter und dass sie ihr dienen möge, ihre Härte zu überwinden und einen Neuanfang zu wagen. Ich trinke auf Alle, die an unserer Geschichte teilgenommen haben, in sie verwickelt waren, uns stützten oder stürzten.

Jedes Jahr zu diesem Tag schreiben wir uns einen Brief. Dies tun wir nun schon, seit wir uns endgültig trennten und dies zu meinem Entschluss führte, über die spanische Estremadura nach Portugal zu pilgern. Sie war damals neunzehn Jahre und noch einmal nach unserer langen und unfreiwilligen Trennung für kurze Zeit zu mir zurückgekommen. Die Zeilen meiner Briefschreiberin liegen vor mir, verschlossen noch, in einem taubenblauen Briefumschlag. Zu Anfang schrieb sie auf mandelfarbiges Papier. Und ich dachte an Mandelbäume, die zauberhaft blühen, aber Bitterstoff in ihren Früchten verbergen. Später nahm sie andere Farben für ihre kostbare Post. Ich sammle ihre Briefe in einer Truhe mit den Initialen meiner Großmutter. Mehr als hundert Jahre alt ist dieses Holzkästchen. Es enthält zwanzig wertvolle Briefe.

Sie war vierzehn, als unsere Liebe begann und ich nicht widerstehen konnte. Ich war vierundzwanzig. Wir waren ein verschwiegenes Paar. Unsere heimliche Affäre wurde lange nicht bemerkt. Wir trafen uns in den Nächten, wenn der Nebel über den Dächern des Anwesens lag. Wir trafen uns im Morgengrauen, bevor die Sonne ihr erstes Gold über den Hügel schickte. Wir liefen Hand in Hand barfuß über Wiesen, wenn die Vögel noch schliefen. Wir kamen im Vogelkonzert nach Hause und verschwanden wie Schatten in unseren Türen, ohne dass uns jemand sah.

Nach Hause? Das war das Gehöft mit der Pferdekoppel, das oben auf der Hochebene liegt, von der man bis zu den Alpen blicken kann. Zu Hause, das war der elterliche Betrieb mit dem Schulhaus, den Werkstätten, der Töpferei, der Schmiede und der Weberei. Der Hof war umgeben von Gärten und Wiesen. Zu Hause, das war der große Eichentisch auf der Veranda, um den sich die Bewohner versammelten wenn es Sommer war: meine Eltern, meine beiden Schwestern, zwanzig Schülerinnen und Schüler, Schützlinge meiner Eltern, die hier im Wohnheim der angegliederten Privatschule wohnten – und ich.

Ich war von Kindheit an daran gewöhnt. Ich verstand mich mit den Schülern und Schülerinnen, den Gästen in unserem Haus – und sie mochten mich. Als Kind spielte ich mit ihnen und als Jugendlicher verliebte ich mich in die begehrtesten Mädchen. Ich fuhr mit ihnen zur Schule und ich verteidigte sie, wenn es nötig war. Ich war einer von ihnen, vergaß, dass ich älter geworden war, jedes Mal, wenn ich das Haus betrat, ja, schon wenn ich die Toreinfahrt passiert hatte.

Nach dem Abitur machte ich einige Monate Rucksackreisen durch Europa. Dann begann ich ein Pädagogikstudium und sollte es mit meinem Praktischen Jahr in „Vierundzwanzig Höfe“ beenden. Damit würde ich mir meine Existenzgrundlage in meinem Elternhaus sichern. Ich würde irgendwann die Leitung des Hauses übernehmen und mit der nahen Privatschule zusammenarbeiten. Allen leuchtete das ein, meine Eltern waren zufrieden, ich würde ihren Wünschen und Plänen entsprechen. Eine Woche zuvor hatte ich das erforderliche Praktikum dazu begonnen. Ich, Berret Gardot, begann mit diesem Tag Menschenherzen zu schmieden. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich Xavelia kennen lernte.

Meine junge Geliebte nenne ich hier „Xavelia“. „Xavelia“ mit X wie die Unbekannte in der Mathematik, die wir errechnen müssen. Oft sitzen wir lange an einer Aufgabe, die zu lösen ist. Xavelia ist eine Aufgabe, mit deren Lösung ich noch immer beschäftigt bin. Trinken wir auf sie – und dann öffne ich ihren Brief. Ich betrachte ihr Foto. Wie vertraut sie mir darauf erscheint!

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