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FADO

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(Berret)

Vor zwanzig Jahren streifte ich, Berret Gardot, ziellos durch Lissabon. Durch die versengende Sonne der Estremadura in Spanien hatte ich eine Wanderung hinter mich gebracht, war drei Monate lang einsame Wege gegangen und vom Jakobsweg nach Santiago de Compostella abgewichen. Um mit mir ins Reine zu kommen, wollte ich alleine sein. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und hatte eine unerlaubte und unglückliche Liebe hinter mir.

Zuerst wanderte ich nach Süden und dann nach Westen, bis ich über ein römisches Brückenbauwerk, das sich weit über den Fluss Tejo spannte, in Portugal ankam. Hinter der Grenze machte ich in einem Ort namens Ponte de Sor Halt und nächtigte in einem kleinen Hotel, bis sich mein Körper wieder erholt hatte und die Blasen an meinen Füßen verheilt waren, Dann wanderte ich weiter am Rande der Landschaften Ribantejo und Alentejo bis zur Hauptstadt Lissabon. Die letzten Stunden begleitete mich der Tejo, bevor er seine Wassermassen in ein breites Hafenbecken ausdehnte und sich danach ins Meer ergoss. Ich kam in der Stadt an, in der ich endlich Linderung von meinen Schuldgefühlen und meiner Verzweiflung erfuhr und entdeckte den Fado, den Gesang vom menschlichen Schicksal und der Sehnsucht nach Erfüllung.

Zunächst aber schlenderte ich am Hafen entlang, fuhr mit der Bahn bis zum westlichsten Zipfel Europas und blickte auf die Weite des Ozeans, während die Schiffe die Mündung des Tejos ein- und aus fuhren. Die Seeschwalben zogen ihre Kreise über dem Wasser, das wie ein gläserner Spiegel an diesem heißen und windstillen Tag vor mir lag.

Das ewige Rauschen des Ozeans und der Blick zum fernsten Horizont versetzten mich in eine Stimmung der Ehrfurcht. Die Dinge erhielten ihre Ordnung. Klein wurde klein und groß wurde groß. Auch meine vergangenen Jahre sah ich plötzlich in anderem Licht. Ich hörte auf, mich zu bemitleiden und begann zu begreifen, dass mein Schicksal nicht mit Vergessen und Ablenkung zu bezwingen war. Der Wahrheit ins Auge zu schauen und mit dem Verlust und der Schuld zu leben, das sollte ich in einem langen Prozess lernen.

Dieses und mehr begriff ich in den Nächten danach in einem Fadolokal der Altstadt. Ich tauchte dort in ein tiefes Meer der Gefühle, ja ich stürzte kopfüber hinein durch die Gesänge der Fadistas, die von Sehnsucht und Verzweiflung, gescheiterter Liebe und unstillbarem Verlangen erzählten. Die Welt um mich herum vergaß ich und spürte die Erschütterung der Reue und den intensivsten Wunsch nach Wiedergutmachung. Endlich konnte ich mich meinem Schicksal beugen, ja es sogar lieben. Von Tag zu Tag fühlte ich mich immer mehr geläutert, bis der Zeitpunkt kam, an dem ich wieder in meine Heimat zurückkehren konnte.

Es geschah nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Lissabon, als ich die Lieder des Fados entdeckte. Ich lief am späten Abend noch ziellos durch die engen Gassen der Alfama, mischte mich unter die Einheimischen, ließ mich treiben und landete schließlich in jenem Lokal mit trüber Beleuchtung und einfachen Holztischen, um die sich eine dunkle Menschenmenge drängte. Die Touristen hatte ich hinter mir gelassen. Im Stimmengewirr vernahm ich die kehligen Laute der portugiesischen Sprache. Man befand sich in lebhaften Gesprächen miteinander, saß oder stand in kleinen Gruppen herum, gestikulierte heftig, umarmte sich oder klopfte sich freundschaftlich auf die Schultern. Nur ich war allein.

Ich spürte wieder meine Einsamkeit. Den ganzen Tag hatte ich wenig gegessen, hoffte auf ein Abendbrot und erhielt Degenfisch mit gegrilltem Gemüse und einen guten Wein. Das Essen stärkte mich.

Als ich das Lokal wieder verlassen wollte, verdunkelte sich der Raum und es wurde ein schweren Vorhang vor die Eingangstüre gezogen. Die Gespräche verstummten augenblicklich. Es trat eine spannungsvolle Stille ein. Eine schwarz gekleidete Dame erhob sich und trat ins Scheinwerferlicht in die Mitte des Raumes, einen einfachen Schal um ihre Schultern gelegt. Sie Spannung stieg, gebannt richteten sich die Blicke der Anwesenden auf sie, die mit rauer, dunkler Stimme zu singen begann, zu sprechen, zu rufen und zu flüstern. Zwei Begleiter mit Saiteninstrumenten improvisierten ihre Begleitmusik in dunklem Moll.

Die Musik wühlte mich augenblicklich auf. Wehmut, Schmerz und die Sehnsucht nach Glück und Erfüllung versetzen mich in einen Rausch. Ich durchmaß die Abgründe und die Höhenflüge des Lebens. Wie alle im Raum konnte ich dem Sog nicht widerstehen, der mich in die Tiefe meines verwirrten Herzens herabzog. Schmerzvoll und deutlich standen mir die letzten, langen Jahre vor Augen: meine Leidenschaft zu Xavelia, meine schuldhafte Liebe, die Bestrafung – der Wunsch nach Wiedergutmachung, meine Irrtümer, mein Sturz in die Tiefe, die Einsamkeit, die Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft.

Hier, in der Intimität und der Dunkelheit eines winzigen Lokals, in dem eine rauchige Frauenstimme von Liebe und Schmerz sang, überließ ich mich endlich meiner Trauer. Ich weinte mit Bitternis über die verlorene Liebe, über den Verlust meiner Heimat, über meine Mutter, die webend und strickend ihr Leben im Rollstuhl verbrachte, über den Tod meines Vaters im fernen Indien und über die Verstrickungen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Die schwermütigen Lieder erlösten mich im Lauf der nächsten Wochen aus meiner Lähmung. Es begann, mir besser zu gehen. Ich wurde dem Leben neu geschenkt.

Einige Wochen hörte ich dem Fado zu. Einige Wochen lebte ich auf den Augenblick hin, in dem in einem kleinen Lokal in der Alfama die Lichter ausgingen, im Halbdunklen eine Fadista hervortrat und mit Augen und Mund, mit Händen und Füßen und mit dem ganzen Körper ihre Leiden aus ihrem Innersten heraussang, bis auch meine Leiden zu schmerzen aufhörten.

Immer wieder sangen sie dort ihre Lieder von der Saudade, der niemals erreichten Erfüllung und der Erfahrung, nie am ersehnten Ziel anzukommen. So, wie sich die Stimmung der einzelnen Fadistas von Tag zu Tag wandelte, so wandelten sich auch Tonart und Rhythmus, Mimik und Ausdruck des Körpers und so verwandelten sie mich. Mal sang die Fadista bewegt und mit großer Kraft, dann fühlte ich mich gestärkt. Mal stand sie still und rührte sich nicht, während ihre Lippen nur flüsterten, dann spürte ich angespannt das Zittern meiner äußersten Nervenfasern und mein Herzschlag stockte. Mal wurde sie ein Erdbeben, dann brachen aus mir alle ungesagten und dem Gedächtnis verwehrten Gesteins- und Felsbrocken des Schmerzes wie Lava hervor.

Besessenheit breitete sich aus in jenen Nächten der Gesänge, während die Fadistas ihren Körper wie einen Baum im Wind bewegten, mit den Füßen auf einen Flecken Erde gebannt, der nicht größer war als die Fläche meines Briefpapiers, das ich im Augenblick in Händen halte, ein Bogen Papier, beschrieben mit Xavelias Handschrift, ihre jährliche Botschaft verkündend, die mich aufrichtete.

Ich erinnere mich zurück. Ich erinnere mich genau an die Erschütterung und die Erleichterung, die ich vor nunmehr zwanzig Jahren in jenen Nächten erfuhr, als ich dem Fado lauschte. Ich erkannte, dass wir nur dann das Leben verdient haben, wenn wir uns über den Verlust erheben und den Mut zu immer wieder neuem Anfang wagen. Das Leben ist Schuld. Das Leben ist Verzweiflung. Aber das Leben ist auch und vor allem das Versprechen eines Paradieses, um das wir todesmutig zu kämpfen haben. Unsere Krönung wird immer die Liebe sein. So machte ich mich damals wieder auf den Weg. Ich kehrte zurück. Ich ordnete meine Geschäfte und begann mein Leben neu. Trotzdem vergesse ich nie.

Nadelherz

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