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UNBEIRRBAR

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(Xavelia)

Berret fort. Einfach so! Ich fiel in ein tiefes Loch. Immer wieder las ich seinen Brief. Ich verstand zunächst nichts. Ich hatte mich nie geschert darum, was die Menschen von mir wollten. Gesellschaftliche Schranken waren mir unbekannt geblieben. Ich wollte noch nichts davon wissen. Ich wollte nur in das Abenteuer meines eigenen Lebens eintauchen. Es hatte gerade erst begonnen. Deshalb fühlte ich nur den Schmerz über die Trennung. Dieser Schmerz und die Enttäuschung machten mich den Menschen gegenüber wieder kalt und berechnend. Ich schuldete ihnen nichts!

Als ich noch ein ganz kleines Kind war, ging ich in den Garten und verkroch mich im Gebüsch oder versteckte mich in dem wild wachsenden Weidenbaum am Bachufer. Ich saß dort oben in den Zweigen weit weg von der Welt, weit weg von hier träumte ich mich. In einem fernen Land, unter Lianen und Urwaldgewächsen roch es nach feuchter Erde und einer Echse gleich hing ich im Regen unterm Blättergrün. Niemand konnte mich finden. Ich aalte mich in der tropischen Hitze und suchte die gleißende Sonne auf einem freiliegenden Stein. Ich hörte dem Geschrei der Papageienvögel zu und dem Kreischen des Affenvolkes. Ich sah den Panther schleichen und verschwand raschelnd im Erdloch unter dem Gras. Ich war sicher in meinem Versteck. Jetzt aber, wo sollte ich hin?

Fliehen vor dem Gestänker der Erzieherinnen, wenn ich nicht tat, was sie befahlen? Die Schule wieder schwänzen, wenn ich das Eingesperrtsein im engen Raum mit einer Meute Schülerinnen und Schülern nicht ertrug? Wenn die Lehrer Aufmerksamkeit verlangten für Dinge, die mich nicht interessierten?

Ich hatte nur eine Wahl. Ich musste hinaus in die freie Natur. Ich musste zu den Tieren. Dort konnte ich atmen. Dort, bei meiner Stute Akira fühlte ich mich gebogen – sie sagte nichts und verlangte nach Äpfeln und Stroh. Sie wartete, dass ich mit ihr ausreiten würde. Ja, Akira, meine Stute, sie würde mich trösten. Das wusste ich. Die Tiere gaben mir Rückhalt und das Gefühl der Verlässlichkeit. Ich konnte sie in ihren Reaktionsweisen durchschauen. Die Menschen nicht. Das hat Berrets Abreise wieder mal bewiesen.

Akira tröstete mich, indem sie mich auf ihrem Rücken durch die Welt trug. Dahinfliegen am Wiesenrand, sich konzentrieren müssen auf den Augenblick, auf mein Pferd, im Vertrauen, dass es einen guten Weg mit mir ritt. Vor der Dunkelheit zurückkehren, es abtrocknen und mit Hafer versorgen, mit Äpfeln und Möhren. Den Stall ausmisten und mit Stroh auslegen, damit es gut schlief. Das waren die Dinge, die mir wieder Kraft gaben.

Dann täglich Berrets Pferd Abraxis versorgen, es auf der Koppel reiten und an Berret denken. Wissen, dass er wiederkommen wird. Glauben. Fest glauben daran, dass er gegangen war, um eine Lösung zu suchen und zu finden. Schließlich die Kaninchen füttern, sie im Arm durch den Garten tragen oder sie hinter mir her hüpfen sehen. Den Regen und die Sonne, den Sturm und den Schnee lieben an Stelle von Berret. Es waren ja dieselbe Sonne, die mich beschien und derselbe Regen und derselbe Sturm, die Berret und mich umgaben. Sollte er nicht vorher zurückgekehrt sein, würde er mir auch noch seinen Schnee schicken, der auf ihn herabfiel. Es würde seine Botschaft sein, dass er zurückkam, dessen war ich mir sicher. Mit Berret zusammen sein. Frei sein. Nicht mehr im Kerker der Sprachlosigkeit, wie es einst mal war. Neu geboren sein.

Ich hatte es gleich von Anfang an gewusst. Ich hatte gewusst, dass ich bald erwachsen werden würde und zwar in dem Moment, als wir uns zum ersten Mal begegneten und wir schweigend die Schritte zählten, die wir aufeinander zugingen. Weil er mir so entgegenkommen konnte, warten, bis ich ging, warten auf meinen Schritt, deshalb begann ich ihn zu lieben.

Der Mensch wird ein Stück erwachsen, wenn er zu lieben beginnt, egal, wie jung er ist. Das Lieben ist immer mit dem bittersüßen Schmerz verbunden, der Gefahr der Verwundung, der Täuschung und dem existentiellen Scheitern. Auch ich war plötzlich ein Stück erwachsener geworden. Ich fühlte die Süße und den Schmerz.

Die Vergangenheit meiner Kindheit wollte ich hinter mir lassen. Meine Zornesausbrüche waren berühmt. Wenn man mich unter Druck setzte, verlor ich den Verstand. Ich begann zu beißen, wie die Hunde, wenn man in ihr bewachtes Reich eindrang, und zu treten wie die Pferde, wenn sie sich erschreckten und bedroht fühlten. Ich hatte das alles von den Tieren gelernt, die meine Lehrmeister waren. Na und? Nicht die schlechteste Art, sich verteidigen zu können, wenn man angegriffen wurde. Die Forderungen der Erzieher, der Lehrer und meiner Mutter empfand ich früher durch mein „Nicht hören können“ als Angriff. Denn ich konnte ihren Anweisungen nicht folgen. Ich hatte zu lange in der Taubheit gelebt. Ich war gekränkt und bestraft worden, ohne dass jemand die wirklichen Ursachen meiner Verweigerung verstand. Ich, das Kind, musste lange lernen ihre Sprache zu verstehen. Es war schrecklich. Ich wurde immer wilder. Denn die Menschen, die ich lieben wollte, verlangten etwas, das ich nicht erfüllen konnte. Ich war verzweifelt wegen meiner Unfähigkeit. Ich verweigerte mich.

Die Tiere verlangten nichts, was ich nicht erfüllen konnte. Ich gab ihnen Futter und Zuwendung, und sie dankten es mir mit Anhänglichkeit. Die Tiere wurden meine Lehrmeister. Ich lernte auch von ihnen Grenzen anzuerkennen und Grenzen zu setzen. Ich lernte meinen starken Willen kennen. Durch die Tiere verstand ich aber auch, dass ich mich wieder den Menschen nähern sollte. Das war der neue Weg.

Was es bedeutet, von einem Menschen ernst genommen zu werden, sein Herz zu gewinnen, mit ihm zärtliche Gedanken auszutauschen und zärtliche Gesten, das habe ich erst durch Berret erfahren. Ihm zuliebe bemühte ich mich, seinen Auftrag auszuführen und mutig zu sein. Ich ging zur Schule und machte meine Aufgaben. Aber ich sprach unaufgefordert mit niemandem. Ich gab nur karge Antworten, wenn ich angesprochen wurde. Ich aß nicht, oder nur ganz wenig, wenn man mich drängte. Ich nahm mein Brot und meinen Apfel mit zu den Pferden, nahm meine Mahlzeit bei ihnen ein und wartete auf Berrets Rückkehr. Ich vertraute unbeirrbar darauf, dass er zurückkommen würde. Ich glaubte an ihn. Was sollte ich auch sonst tun? Ich wartete unbeirrt und erfüllte meine Aufgaben. Manchmal hörte ich von seinen Eltern bei Tisch kleinere oder größere Mitteilungen, wo er sich aufhielt und wie es ihm ging. Aber ich richtete keine Fragen an sie.

Nadelherz

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