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10. Kapitel

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So glasklar mir auch alles vor Augen steht, was bis zum Fund des Fahrrads geschah, danach verschwimmen die Erinnerungen.

Unterwegs spielte ich die verschiedenen Gründe durch, warum Tammys Rad verlassen im Wald gelegen haben könnte.

Sie hatte es dort liegen lassen, weil sie lieber zu Fuß weitergegangen war. Nicht sehr wahrscheinlich. So unwahrscheinlich, dass es sofort ausschied.

Sie hatte sich von jemandem im Auto mitnehmen lassen. Auch wieder nicht sehr wahrscheinlich. Warum sollte sie das tun? Und wer sollte sie mitgenommen haben? Da fährt ja kaum jemand lang. Und warum sollte die Person ihr dann anbieten, sie mitzunehmen, aber das Rad dalassen? Und … ach, das war alles totaler Schwachsinn.

Als ich die Brücke über den Bach nahm, war ich überzeugt, dass Tammy etwas Schreckliches zugestoßen sein musste.

Der südliche Teil des Dorfs besteht hauptsächlich aus einer einzigen Straße mit alten Cottages. Vor Sheilas Haus sprang ich vom Rad, ließ es einfach zu Boden fallen und hämmerte an die Tür.

»Schon gut, schon gut!«, kam eine Stimme von drinnen.

Noch bevor die Tür geöffnet wurde, plapperte ich los.

»Ist Tammy da? Haben Sie sie gesehen?«

»Hallo, junger Mann«, sagte Sheila lächelnd, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt hatte.

»Ja oder nein?«, blaffte ich sie an.

Sheila guckte verdattert. »Ja oder nein, was …«

»Haben Sie Tammy gesehen?«, brüllte ich. In meiner Panik hatte ich alle guten Manieren über Bord geworfen.

»Nein, heute noch nicht. Ich dachte …«

»Tschüs!«, rief ich, packte mein Rad und raste ans andere Ende des Dorfs, wo unser Pub lag.

Der Stargazer war hell erleuchtet. Draußen am großen Weihnachtsbaum brannten die Lichterketten, die Tammy und ich letzte Woche mit aufgehängt hatten. Als ich die Auffahrt hochradelte, hörte ich schon den Gesang. Die hatten aber früh mit den Weihnachtsliedern angefangen. Durchs Fenster sah ich Iggys Mutter, Cora Fox-Templeton, die die anderen auf dem alten, verstimmten Klavier begleitete. Iggy stand neben ihr und Suzy saß oben auf dem Klavier, als wollte sie gleich ein Ei legen.

» Hört, die Engelschöre singen: Heil dem neugebor’nen Kind!«

Ich sprang vom Rad und stürzte durch den Vorraum direkt in die Gaststube, wo mir Lärm und Hitze entgegenschlugen.

»Gnad und Friede allen Menschen, die erlöst sind von der Sünd …«

An der Bar brach Jubel aus. Dad rief: »Genau! Wer ist bereit für einen Feuerkelch?«

Das ist einer seiner Barkeeper-Tricks: Auf einem Tablett steht eine Reihe mit Cocktails, und sobald er ein Feuerzeug dranhält, fangen sie zu brennen an. Normalerweise schaue ich dabei gern zu.

Mam hatte das Tablett in die Hand genommen. Ich drängte mich durch die Menge bis zu ihr durch.

»Mam! Mam!«

Verärgert drehte sie sich zu mir um, schüttelte den Kopf und sang weiter.

»Mam! Hör doch mal!«

»Vorsicht! Verbrenn dich nicht!«, raunte sie mir zu. »Okay, wer möchte denn ein Glas? Nicht jetzt, Ethan

»Doch, genau jetzt!«, brüllte ich.

Ein paar Leute kriegten es mit, stießen sich an und hörten auf zu singen. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich trat ans Klavier und schlug den Deckel mit Karacho zu. Iggys Mutter schrie auf, konnte aber im allerletzten Moment die Hände wegziehen. Es gab einen lauten Knall, Coras Armreifen klirrten, Suzy sträubte empört das Gefieder. Kurz darauf brach der Gesang ab.

»Ethan? Hast du den Verstand …«, begann Mam und schob sich durch die Leute zu mir. Doch ich nahm keine Notiz von ihr.

Stattdessen wandte ich mich den Leuten im Pub zu. »Tammy ist verschwunden! Ihr Fahrrad liegt im Wald, aber ich kann sie nirgends finden.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Jemand, der weiter hinten saß und mich nicht verstanden hatte, fragte: »He! Wo bleibt denn die Musik?« Daraufhin ein anderer: »Schhh!«

Dad, der als Spielzeugsoldat verkleidet war, kam hinter der Theke hervor und hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut, alles gut«, sagte er ruhig. »Was ist los, Ethan?«

Also erzählte ich ihm erneut, was passiert war, dass ich nach Tammy gerufen hatte und dass die Lichter an ihrem Rad noch brannten und dass auch die alte Sheila sie nicht gesehen hatte. Alles sprudelte nur so aus mir heraus und Dad musste mich zweimal unterbrechen: »Nicht so schnell, Ethan. Sprich langsamer.«

Dann suchte ich Mams Blick. Ihr war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, ihre Wangen waren gespenstisch grau.

Zwei Minuten später leerte sich die Bar und die Leute stürmten zu ihren Autos.

»Nimm du den Waldweg, Jack!«

»Ich fahr die North Road entlang. Komm doch mit, Jen.«

»Hatte sie ein Handy dabei?«

»Ist die Polizei schon benachrichtigt?«

»In ’ner halben Stunde treffen wir uns alle wieder hier, einverstanden?«

»Habt ihr meine Nummer? Ruft mich an, wenn ihr sie gefunden habt!«

… und so weiter. Mir kam es vor, als würde das gesamte Dorf in Aktion treten, die Wagen brausten in alle Himmelsrichtungen davon.

Dad koordinierte die Suche oder versuchte es zumindest, denn es ging trotzdem ziemlich chaotisch zu. Ich steckte mittendrin, ohne was zu tun zu haben. Gran zog sich die Laufschuhe an und setzte sich eine Stirnlampe auf. Sie wollte ihre übliche Strecke durch den Wald ablaufen, wo keine Autos durchkamen. In all dem Durcheinander sah ich zu Iggy hinüber, der mit gerunzelter Stirn auf dem Klavierhocker saß und seine Mütze in den Händen knetete. Cora stand neben ihm und wirkte mit ihrer rot-weißen Weihnachtsmannmütze irgendwie verloren.

»Mel«, sagte Dad zu Mam, »warum wartest du nicht einfach zu Hause.«

»Auf keinen Fall!«, rief Mam empört. »Ich komme mit und suche nach meiner Tochter!«

Als Nächstes sah Dad mich an. »Macht es dir was aus hierzubleiben? Falls sie zurückkommt?« Dann tauschte er einen Blick mit Cora Fox-Templeton, der wohl bedeuten sollte, dass sie nun die verantwortliche Erwachsene hier war.

Als sie nickte, bimmelte das Glöckchen an ihrer Mütze.

»Haltet eure Handys bereit. Verlasst den Pub nicht«, sagte Dad und zog sich eine Jacke über die Soldatenuniform. »Wir geben euch Bescheid, wenn wir sie gefunden haben.«

Wenn. Das klang gut.

Und so wartete ich mit Iggy, seiner Mutter und seinem eigenartigen Huhn in der Sofaecke im Pub, während die Suchtrupps ausschwärmten.

Betreten schwiegen wir. Ich kannte die beiden ja kaum.

Schließlich sagte Iggy: »Meinen Vater haben sie auch gefunden.«

Fragend sah ich ihn an.

»Als ich klein war, ist er auch mal verschwunden. Die Polizei hat ihn zwei Wochen später in London gefunden, da hat er auf der Straße gelebt. Also …«

»Geht’s … geht’s ihm gut?«, fragte ich.

Seine Mutter sah abwesend aus dem Fenster.

Iggy nickte. »Ja. Er hat jetzt eine neue Familie. Aber nach Weihnachten kommt er mich besuchen, stimmt’s, Cora?«

Jetzt sah Cora ihn an. »Er will es versuchen, Iggy. New York ist nicht eben um die Ecke und du kennst ihn ja.«

Iggy sackte regelrecht in sich zusammen. Verlegen zog ich mein Handy raus und rief Tammy zum x-ten Mal an.

»Hallo, hier ist Tammy. Ich bin nicht da, hinterlasst mir eine Nachricht!«

Mir gingen die schlimmsten Gedanken durch den Kopf. Tammy ist entführt worden. Ermordet …

Aber wer sollte es gewesen sein? Und wie?

Deshalb erzählte ich Iggy und seiner Mutter die ganze Geschichte noch mal. In aller Ausführlichkeit berichtete ich von dem See, dem Summen und der Nebelsäule …

Sie hörten zu und nickten nachdenklich. Dann klingelte mein Handy. Es war Mam. Ich versuchte, mir keine großen Hoffnungen zu machen. Doch genau wie vorhin, als ich mir vorstellte, dass Tammy aus dem Wald auf mich zukommen würde, wünschte ich mir sehnlichst, Mam sagen zu hören: »Wir haben sie gefunden.«

Aber stattdessen sagte sie: »Nichts. Wir machen uns auf den Rückweg. Die Polizei kommt vorbei, bestimmt will sie mit dir sprechen, Ethan.«

Iggy kriegte auch ohne Lautsprecher alles mit und zuckte bei dem Stichwort »Polizei« merklich zusammen. Ich hatte schon vorher gewusst, dass es ernst war, doch jetzt hatte ich Gewissheit.

Das Kind vom anderen Stern

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