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Kapitel 6

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Ich war fünfunddreißig, als ich meiner ganz großen Liebe begegnete. Damals frisch geschieden, mit einem zehnjährigen Sohn, dessen Erziehung mir nicht gerade leicht fiel.

Mein Mann war ein Nachbarsjunge gewesen, mit dem ich praktisch aufgewachsen war.

Irgendwann hatten wir beide das Gefühl, etwas verpasst zu haben und so beschlossen wir, auseinander zu gehen.

Im Guten, ohne das berühmte „Schmutzige-Wäsche-Waschen“. Unsere Anwälte sorgten dafür, dass das nicht ganz so ablief, schließlich wollten sie ja beide etwas an uns verdienen.

Aber nach monatelangem Gerangel und Gezerre kam endlich der Gerichtstermin und wir waren wieder frei. Frei für ein anderes Leben, für Abenteuer, für neue Lieben.

Wir beeilten uns beide damit. Mein Mann war schon nach einem Vierteljahr wieder verheiratet und ich, wie schon erwähnt, traf meine große Liebe.

Dirk war Student, ewiger Student nennt man so etwas wohl. Er studierte Geografie und Tourismus, eine gelungene Kombination, fand ich. Irgendwie klappte es allerdings mit dem Diplom nicht so recht. Ihm fehlte einfach die Zeit, weil er neben dem Studium als Kellner jobben musste. Also zogen wir zusammen. Er sparte dadurch die Miete und ich bestritt unseren gesamten Lebensunterhalt, so dass er die Kellnerei an den Nagel hängen und sich endlich voll und ganz seinem Studium widmen konnte.

Es dauerte dann nur noch knapp drei Jahre, bis er seinen Abschluss in der Tasche hatte.

Euphorisch von so viel beruflichem Erfolg machte er hochtrabende Zukunftspläne.

Er wollte ganz groß ins Touristikgeschäft einsteigen.

„Bei meinem akademischen Background bietet sich das an“, erklärte er mir.

Als unser Reisebüro allerdings schon nach einem halben Jahr wegen Überschuldung wieder geschlossen werden musste, begann ich, an dem Vorteil eines akademischen Backgrounds zu zweifeln.

Aber Dirk hatte bereits neue Pläne geschmiedet. Wir zogen um an die Nordsee und eröffneten in der gesunden Seeluft eine kleine Pension.

„Haus Regina“ strahlte es von einem beleuchteten Schild herab und das machte mich richtig stolz. Natürlich musste ich meinen Job als Sekretärin an den Nagel hängen, denn nun hieß es, Frühstück für die Gäste zuzubereiten, Betten zu machen, Zimmer zu putzen und … und … und …

Aber es machte mir Spaß. Dirk wirkte als Maître Domo hinreißend und ich kam mit der neuen beruflichen Erfahrung ganz gut klar.

Was mir weniger Spaß machte, war die Erkenntnis, dass es viele alleinreisende Damen gab, die es ausgerechnet in unser kleines Nordseedorf zog. Dabei war mir völlig schleierhaft, wie man brennend vor Reise-, Lebens- und Abenteuerlust Norddeich als Urlaubsort wählen konnte, wo doch Mallorca oder Ibiza viel verlockender klangen.

An unseren Preisen konnte es jedenfalls nicht liegen, die waren gesalzen genug.

Dirk war da ganz anderer Meinung als ich. Er genoss es, weibliche Gäste zu bewirten (was allerdings eher meine Aufgabe war) und zu unterhalten (was er wesentlich besser konnte als ich).

„Haus Regina“ florierte. Dirks Gesichtsfarbe nahm eine gesunde Bräune an, während ich zunehmend blasser wurde. Vor Arbeit und vor Eifersucht.

Als Dirk sich eines Abends wieder besonders rührend um eine junge Dame aus dem Ruhrgebiet gekümmert hatte, ging ich wütend ins Bett, ohne im Gästeraum die Tische für das Frühstück einzudecken.

Heulend zog ich die Bettdecke über meinen Kopf und verfluchte die Schnepfe aus Essen. Wilde Träume verfolgten mich dann, grell geschminkt tanzte ich um ein Feuer herum, immer schneller und schneller wirbelte ich herum, schreiend, stampfend, tobend …

War es nur ein Traum oder hatte ich das schon einmal erlebt?

„Los, werd wach, du musst Frühstück machen!“ Dirks Stimme weckte mich am frühen Morgen.

„Inge muss abreisen, ihre Mutter hatte einen Unfall. Sie hat sich an einem Heizkissen verbrannt, musste in die Klinik. Nun mach schon, ich muss Inge um 9.00 Uhr zum Bahnhof bringen.“

Während Dirk sich Sorgen um Inge und die verbrannte Mutter machte, spürte ich eine wohlige Genugtuung.

Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, dachte ich.

Oder war es schon eine große Sünde gewesen? Egal, jetzt war sie weg. Und falls sie es wagen sollte, sich noch einmal anzumelden, würde sie einen äußerst bedauernden Brief bekommen, dass unsere Pension leider ausgebucht sei.

Doch Inge war kein Einzelfall. Ich hatte noch andere Damen zu vertreiben, junge und auch schon etwas ältere, Dirk legte sich da nicht so fest.

Meist waren es harmlose Dinge, die die Damen schließlich zur Abreise veranlassten. Mal eine starke Angina, mal ein Angehöriger, der plötzlich in der Heimat dringend Hilfe brauchte. Bei einer Boutique-Besitzerin aus Gelsenkirchen tauchte unerwartet ein Steuerprüfer auf. Da musste sie natürlich sofort heim und nach dem Rechten sehen. Dirk bedauerte das sehr.

Nur einmal ging es tragisch aus. Ich habe mich nachher oft gefragt, ob es wirklich so kommen musste. Ich hatte Angelika aus Emmerich gemocht.

Normalerweise ging ich nie mit zum Gästeabend, das überließ ich lieber Dirk. Doch diesmal fiel er auf unseren Jubiläumstag, den wir immer für uns allein reserviert hatten.

„Ich muss Angelika begleiten zum Gästeabend. Sie ist frisch geschieden, da kann ich sie nicht mutterseelenallein unter fremde Menschen lassen.“

Dirk fiel dabei überhaupt nicht auf, dass er selbst Angelika auch erst vor fünf Tagen kennen gelernt hatte. War er schon kein Fremder mehr?

„Okay. Dann geh ich eben mit!“

Ich hatte Dirks Augen gesehen, dieses Feuer kannte ich, ich wollte auf Nummer sicher gehen.

„Prima!“, rief Dirk so laut aus, dass ich zusammen-zuckte. „Mach dich aber schick, damit du mit Angelika konkurrieren kannst.“

Es sollte ein Scherz sein, aber dieser Satz traf mich tief.

Der Gästeabend war gut besucht. Der Große Saal im Haus des Gastes war bunt geschmückt. „Tanz in den Mai“ hieß das Motto und die Wände waren mit frischen grünen Birkenzweigen dekoriert. Dazwischen leuchteten rote Krepprosen und von den Decken strahlten riesige gelbe Sonnen herunter.

Die Band mutete eher bayrisch als ostfriesisch an. Sie spielten nicht besonders gut, dafür aber laut. Ihr Repertoire umfasste die gesamte NDR-1-Hitparade und kam bei den Gästen gut an. Ich fand es von Dirk sehr nett, dass er mich gleich beim ersten Tanz aufforderte.

„Weißt du noch, damals, als wir uns kennen gelernt haben?“

„Wie könnte ich das vergessen“, säuselte Dirk. „Du hattest ein blaues Kleid an mit einem tiefen Ausschnitt. Außerdem warst du blond damals.“

Ich verkniff mir eine Korrektur. Das Kleid war grün, die Haare rot.

Aber es waren ja viele Männer farbenblind!

Trotz der schrägen Töne der Band genoss ich den Tanz mit Dirk. Und das war gut so, denn es sollte der einzige des Abends bleiben.

Nach dem Anstandstanz mit seiner Partnerin widmete sich Dirk für den Rest des Abends der einsamen, frisch geschiedenen Angelika.

Ich sah, wie er sein Knie unter dem Tisch gegen ihres drückte, als er ihr zuprostete. Der Wein schmeckte mir plötzlich sauer, mit jedem Schluck vermehrte sich meine Magensäure. Sie verätzte nicht nur meinen Magen, sie stieg hoch, sauer, brennend in meine Speiseröhre, verursachte einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Ich schluckte, schluckte, schluckte, um zu verhindern, dass Galle aus meinen Mundwinkeln lief.

Als Dirk und Angelika auf der Tanzfläche ihren Flirt fortsetzten, bestellte ich mir den ersten Schnaps. „Schluck“ hieß so etwas in Ostfriesland und obwohl ich es nicht gewohnt war, schluckte ich eine ganze Menge davon.

Da die beiden meine Anwesenheit offensichtlich völlig vergessen hatten, bemerkten sie meinen Zustand nicht. Erst als ich „nimm dich in Acht, ich bin nämlich eine Hexe“ lallte und Angelika meinen drohenden Zeigefinger unter die Nase hielt, brachte Dirk mich nach Hause.

„Wie kannst du dich so betrinken? Was soll Angelika von dir denken?“, schimpfte er mich aus.

„Ist mir total egal, die denkt bald gar nichts mehr“, nuschelte ich, während Dirk mir die Treppe zu unserem Schlafzimmer hoch half.

Trotz meines Alkoholpegels konnte ich nicht einschlafen, hörte die Tür zuschlagen, als Dirk wieder ging und wollte heulen. Aber es ging nicht. Die Säure in meinem Magen hatte alle Flüssigkeit meines Körpers in sich aufgesogen, für Tränen war nichts mehr da.

Ich steckte mir den Finger in den Hals, wollte die Galle und all das Elend in mir herauskotzen. Es funktionierte nicht. Nur ein trockenes Würgen war die Folge und ein grässliches Brennen im Hals.

Am nächsten Morgen erwachte ich von einem Martinshorn, dass unbarmherzig in meinen Ohren dröhnte.

„Steh auf“, herrschte Dirk mich an. „Mach Frühstück für die anderen Gäste. Ich muss weg. Angelika suchen. Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Mein Gott, hoffentlich ist sie nicht ins Watt gelaufen!“

Ich befand mich in einem schrecklichen Zustand. Zu dem galleartigen Geschmack war jetzt auch noch Trockenheit in meinem Mund entstanden. Meine Zunge klebte dick an meinem Gaumen. Mein Kopf dröhnte, ein Schmerz kroch vom Nacken hinauf bis zur Stirn und machte mir das Denken unmöglich.

„Wieso Watt. Was macht sie denn im Watt?“

Dirk konnte mich schon nicht mehr hören, er war längst davon gestürmt.

Ich ging ins Bad, stellte die Dusche an und ließ mir kaltes Wasser über Kopf und Körper laufen. Vor meinen geschlossenen Augen entstand das Bild einer jungen Frau, die durch knietiefes Wasser watete. Schon bald gingen ihr die Fluten bis zu den Hüften, sie ruderte mit Händen und Füßen und geriet immer mehr in Panik. Sie trieb genau auf ein Priel zu, warf die Arme hoch und schrie und schrie und schrie.

Ich stellte die Dusche aus, trocknete mich ab, zog mich an und bereitete das Frühstück für die Gäste.

Dirk kam gegen Mittag mit unserem Dorfpolizisten zurück. „Ich muss noch ein Protokoll aufnehmen, Dirk“, hörte ich den Beamten sagen.

Ich blieb im Flur stehen, damit die beiden mich nicht sehen konnten. Ich wollte hören, was Dirk zu berichten hatte.

„Du bist also um ca. 1.00 Uhr mit ihr nach Hause gegangen, Dirk?“

„Ja, die Band hat bis 0.30 Uhr gespielt, danach haben wir noch etwas getrunken, dann sind wir aufgebrochen.“

„Direkt nach Hause?“

„Nein, wir sind noch etwas spazieren gegangen. Die Luft war ja schon so mild. Gar nicht kalt. Wir sind bis zum Wattenmeer gelaufen. Ich habe es ihr gezeigt, habe auch erklärt, wie gefährlich es ist, dort allein herumzulaufen, wenn die Flut kommt.“

„Wann wart ihr zu Hause?“

„Gegen 2.00 Uhr, genau weiß ich das nicht mehr. Sie ist sofort auf ihr Zimmer gegangen.“

„Vielleicht hat sie sich nur von dir verabschiedet und ist noch einmal allein losgegangen. Vielleicht, weil der Abend so mild war.“

„Nein, sie ist auf ihr Zimmer gegangen. Ich weiß es genau.“

„Du weißt es genau? Warst du dabei?“

„Ehhm, ja, ich war dabei. Aber bitte halt die Klappe. Regina braucht das nicht mitzubekommen.“

„Schon klar, Dirk, mach dir keine Sorgen. Aber irgendwann ist Angelika noch einmal herausgegangen. Hattet ihr vielleicht Streit?“

„Na, ja, sie machte gleich einen auf große Liebe und so. Ich habe ’ne Weile mitgespielt, aber dann wurde es mir zu viel. Ich hab ihr deutlich gesagt, dass nach dem Urlaub alles zu Ende sein muss. Und das Regina nichts erfahren darf.“

„Könntest du dir vorstellen, dass sie absichtlich ins Wattenmeer gelaufen ist, Dirk?“

„Ich weiß es nicht. Sie war eigentlich nicht der Typ für so etwas. Aber man weiß ja nie …“

Ich schlich leise aus dem Flur in die Küche. Dort stand das Frühstücksgeschirr noch herum. Ich begann, es in die Spülmaschine zu räumen und blickte erstaunt auf eine Träne, die aus meinen Augen in eine Kaffeetasse gefallen war.

Um wen weinte ich? Um Angelika, um Dirk, um mich?

Ich wusste es nicht, aber ich wollte es auch nicht wissen.

Angelikas Leiche wurde zwei Tage später auf Norderney angespült.

Eine Woche später, als alle gerichtsmedizinischen Untersuchungen und die Obduktion abgeschlossen waren, wurde sie in ihre Heimatstadt Emmerich überführt.

Ein Bruder war angereist und begleitete seine tote Schwester im Leichenwagen.

Torsten, mein Sohn, war heilfroh, als wir nach Kamen zurückzogen. Er hatte sich in Ostfriesland nie einleben können.

Und Dirk hatte er sowieso nicht gemocht.

Die Hexen von Kamen

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