Читать книгу Die Hexen von Kamen - Roswitha Koert - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDer Verdacht, dass ich Menschen umbringe, wurde an einem regnerischen Vormittag im März des Jahres 2008 zur Gewissheit.
Ich schlug die Zeitung auf, überflog die Schlagzeilen und den politischen Teil um dann, eine Angewohnheit, die ich von meiner Mutter übernommen hatte, die Seite mit den Todesanzeigen aufzuschlagen.
Und da stand sie, Tommis Todesanzeige:
Ich wusste nicht, woran Tommi gestorben war, ob er einen Unfall gehabt hatte, ob es ein Herzinfarkt war oder eine Krebserkrankung. Manchmal ging so etwas ja ganz schnell, innerhalb weniger Tage …
Nur eins wusste ich ganz genau: Ich hatte damit zu tun, ganz sicher!
Irgendwie hatten mich diese Zufälle mein ganzes Leben lang begleitet.
Es fing in der Schule an, vielleicht sogar schon im Kindergarten, aber daran konnte ich mich nicht mehr so ganz genau erinnern.
Aber an das erste Zeugnis umso besser.
In der Größe eines Schulheftes, mit einer gelben Kunststoffschutzhülle, gespendet von der Sparkasse der Stadt Kamen. Mein Herz klopfte laut, als es vor mir auf dem Tisch lag.
Lesen konnte ich damals noch nicht. Nach dem ersten Halbjahr in der Schule war das auch nicht üblich. „Kurz muss das Wort sein“, hatte meine Mutter gesagt, „dann ist es gut.“
„Kurz muss das Wort sein“, hatte meine Mutter gesagt, „dann ist es gut.“
Das Wort war nicht kurz, im Gegenteil, es war so lang, dass die gestrichelte Linie gar nicht ausreichte. Das Wort war oberhalb der Linie noch weiter geschrieben worden.
Als ich meine Mutter am Zaun des Schulhofes erblickte, brach ich in Tränen aus. Heulend drückte ich ihr das gelbe Heft in die Hand. Sie las und schüttelte den Kopf. Da wusste ich, dass ich eine Versagerin war.
Erst zu Hause las Mutti mir den Satz vor.
Meine Welt brach zusammen. Dass ich nur einen teilweise guten, überwiegend aber wohl nur einen befriedigenden Anfang gemacht haben sollte, war eine Katastrophe. Ich hasste Inge Goll, meine Banknachbarin. Die Angeberin hatte mir das kurze Wort in ihrem Zeugnisheft gezeigt. Die Welt war ungerecht, denn ich war viel fleißiger als die doofe Inge, passte besser auf, meldete mich öfter.
Mein Kummer war auch nach den Kartoffelferien noch da. So schnell konnte ich ein Unrecht nicht vergessen.
Wer nicht mehr da war, war Inge Goll, meine Nachbarin.
„Inge ist krank“, verkündigte Frau Meisig. „Sie wird wohl lange Zeit nicht in die Schule kommen können, deshalb setzt sich Annegret nun mal nach vorne neben Regina.“
Mir war es recht. Annegret hatte auch einen befriedigenden Anfang gemacht, fand das aber nicht so schlimm.
Inge sah ich erst viel später wieder. Sie hatte Tuberkulose bekommen, Monate in einer Klinik verbracht und musste das erste Schuljahr wiederholen. Ich habe nie wieder mit ihr gesprochen.