Читать книгу Seewölfe Paket 17 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 48
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ОглавлениеAm Nachmittag des 12. April 1593 – zehn Tage nach den Ereignissen mit den beiden Verrückten, die nach wie vor in der Zelle der Hafenkommandantur einsaßen – liefen die „Isabella IX.“ und die „Wappen von Kolberg“ in den Hafen von Helsingör ein und vertäuten an der Pier.
Die Wachboote unten bei Saltholm hatten sie ungehindert passieren lassen. Das hatte seinen besonderen Grund. Denn Philip Hasard Killigrew, der Kapitän der „Isabella“, hatte einen Revers des Hafenkommandanten, auf dem verbrieft war, daß er, gleichgültig, wie oft er den Sund durchsegelte, keine Zollgebühren mehr zu bezahlen brauchte.
Diese Sondergenehmigung kam nicht von ungefähr, sondern war viel mehr eine Dankesschuld des Hafenkapitäns Eric Hornborg an die Seewölfe, die einen schlimmen Bösewicht zur Strecke gebracht hatten: Aage Svensson und seine Sundpiraten.
Im Geleit der „Isabella“ hatte auch die „Wappen von Kolberg“ Arne von Manteuffels den südlichen Zugang zum Sund passieren dürfen, ohne daß man sie zur Kasse bat.
Beide Galeonen hätten ohne weiteres sofort weiter in das Kattegat segeln können, aber Hasard hatte einen triftigen Grund, Helsingör anzulaufen: er wollte einen Gefangenen loswerden, nämlich den polnischen Generalkapitän Witold Woyda, der nachweislich den dänischen Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal oben am Rigaer Meerbusen ermordet und beraubt hatte.
Da war wieder das „Gold der Ostsee“ – Bernstein – im Spiel gewesen, das die polnische Krone für sich beanspruchte. Daß im Vollzug dieses Anspruchs Morde passierten – um nämlich die privaten Bernsteinhändler auszuschalten –, verstieß gegen allgemeines, gültiges Recht und war nicht damit zu entschuldigen, daß man im Auftrag der polnischen Krone handelte. Mord blieb Mord, und Macht ging eben nicht vor Recht.
Hasard maßte sich nicht an, den Richter zu spielen und den Mörder an die Rah zu knüpfen – was er durchaus hätte tun können, zumal Witold Woyda auch über die kleine „Wappen von Kolberg“, Arnes früheres Schiff, hergefallen war und es nach tapferer Gegenwehr versenkt hatte. Ein Teil von Arnes damaliger Crew war bei diesem Kampf gefallen oder ertrunken.
Nein, Hasard hielt es für richtig, den Mörder den dänischen Behörden zu übergeben, denn der Ermordete war ein Däne gewesen. Mochten die Dänen entscheiden, was mit Witold Woyda geschehen sollte. Sie waren dafür zuständig, nicht er. Und in Helsingör war die letzte Gelegenheit, den Mann von Bord zu geben, bevor sie nach England zurückkehrten. Hier kannte er ja auch den dicken Hafenkapitän, der ihm zu Dank verpflichtet war. Er würde sich um den Mörder kümmern müssen und ihn dem Gericht zuführen.
Das war also der Grund, warum er Helsingör angelaufen hatte. Was das allerdings zur Folge haben würde, dazu hätte keine noch so verwegene Phantasie ausgereicht, sich das auszumalen, geschweige denn vorauszuahnen.
Der Zufall, dieser windige Bursche, dieser Zauberer und Scharlatan, war mit im Spiel und hatte bereits die Karten gemischt. Den Seewölfen sollten gerade die Haare zu Berge stehen.
Merkwürdig war nur, daß in diesem Fall Old Donegal Daniel O’Flynn total versagte, kein Jucken im Holzbein hatte und auch keinerlei spiritistische Impulse empfing – nichts da.
Er lümmelte gähnend am Schanzkleid, betrachtete die Hafenszenerie und dachte an gar nichts. Nur als der dicke Hafenkapitän eilfertig und schnaufend heranwatschelte, verzog er das wetterharte Gesicht zu einem herablassenden Grinsen.
„Da ist ja unser Dickerchen“, sagte er zu Smoky, der gleich ihm am Schanzkleid lümmelte, sich allerdings nicht für den Hafenkapitän interessierte, sondern in eine andere Richtung peilte, deren Endpunkt ein wohlgerundetes Frauenzimmer war, das hinten über den Kai lustwandelte und dabei sehr hübsch die Hüften schwenkte.
„Wie?“ fragte er desinteressiert und peilte weiter in seine Richtung, wobei er an vieles dachte, was mit runden Formen und dem Paradies zu tun hatte.
„Wo schaust du denn hin?“ sagte Old O’Flynn erbost und wollte noch einiges Moralische hinzufügen, aber Hasards Stimme schnitt dazwischen.
Er sagte, ein bißchen klirrend: „Ist hier vielleicht jemand an Bord, der so freundlich wäre, die Stelling auszubringen? Aber bitte, ich kann’s auch selbst tun, wenn die Gentlemen anderweitig beschäftigt sind.“
Smoky zuckte zusammen, und Edwin Carberry röhrte in altgewohnter Manier los, daß er es bald leid sei, sich von morgens bis abends mit einer verlausten Bande von Tagedieben, Nichtsnutzen, Faulenzern und gesengten Affenärschen herumschinden zu müssen, die dem lieben Gott die Zeit klauten und nur in die Hände spuckten, wenn’s was zu fressen oder zu saufen gäbe.
„Und wer steckt den Anschiß ein?“ brüllte er Smoky an.
„Du, weil du der Profos bist und ein breites Kreuz hast“, sagte Smoky, und weil sich Carberrys Brustkasten wie ein riesiger Blasebalg aufblähte, fügte er hastig hinzu: „Ich muß jetzt die Stelling ausbringen, Ed!“
Und schon flitzte er zur Kuhl, wo Paddy Rogers, Jan Ranse und Luke Morgan bereits die Stelling aus dem Laderaum wuchteten und zum Schanzkleid schleppten.
Carberry öffnete die Pforte und war am Knurren wie eine gereizte Bulldogge.
Ein paar Minuten später konnte der Hafenkapitän über die Stelling an Bord marschieren, lächelnd wie ein Posaunenengel.
„Freunde!“ rief er und breitete die Arme aus, als wolle er alle umarmen. „Daß ihr wieder da seid! Nein, wie ich mich freue!“
Nils Larsen übersetzte grinsend.
Hasard sprang auf die Kuhl hinunter und begrüßte den Dicken. Daß er jetzt wieder lachte, verbuchte der grimmige Profos zu seinen Gunsten. Schließlich war die Stelling ja noch rechtzeitig auf die Pier geschoben worden.
Der Hafenkapitän zwinkerte Hasard listig an.
„Na, war mein Tip für Wisby gut, Kapitän Killigrew?“ fragte er.
Hasard hatte ihn vor zwei Monaten nach einer Bezugsquelle für Bernstein gefragt, und da hatte ihm der Dicke ebenso augenzwinkernd wie jetzt den Namen eines Kaufmanns in Wisby auf Gotland genannt: Jens Johansen.
Hasards Miene verdunkelte sich, nachdem Nils Larsen übersetzt hatte.
„Jens Johansen ist tot“, sagte er, „ermordet.“
Der Dicke starrte ihn bestürzt an. „Ermordet?“
Hasard nickte. „Genau das. Ich wollte Sie in diesem Zusammenhang sowieso sprechen. Die polnische Krone setzt alles daran, den Bernsteinhandel an sich zu reißen. Dabei scheut sie auch nicht vor Mord zurück. Ein anderer Fall passierte in Hapsal oben an der estnischen Westküste. Dort hatte sich ein anderer Bernsteinhändler niedergelassen, ein Däne namens Thorsten Tyndall. Auch er wurde ermordet. Kennen Sie ihn vielleicht oder haben von ihm gehört?“
Jetzt war der Dicke geradezu entsetzt. „Thorsten Tyndall, Sohn von Thor Tyndall? Natürlich kenne ich ihn. Ein feiner Mann. Mein Gott, das sind ja schlimme Nachrichten. Was für eine Welt!“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, und seine Augen waren gar nicht mehr listig, sondern sehr betrübt. „Gerüchteweise hörte ich schon davon, daß sich die Polen in den Bernsteinhandel einschalten wollten, was uns Dänen gar nicht recht ist. Daß sie aber dabei Gewalt anwenden, verschlimmert die Sache. Gleich zwei Morde! Diese Unholde!“
„Den Mörder von Thorsten Tyndall haben wir an Bord – als Gefangenen“, sagte Hasard. „Das ist auch der Grund, warum wir Helsingör anliefen, Mister Hornborg. Wir waren der Ansicht, daß er vor ein dänisches Gericht gehört. Darum möchten wir Ihnen diesen Mann übergeben. Selbstverständlich bin ich bereit, daß Sie meine Aussage zu diesem Fall protokollieren, damit die Anklage gegen den Mann erhoben werden kann. Er selbst hat erklärt, im Auftrag der polnischen Krone gehandelt zu haben, was ihn jedoch nach meinem Rechtsempfinden nicht entschuldigt. Aber bitte, das sollen Ihre Richter entscheiden. Übernehmen Sie den Mann?“
„Natürlich, Kapitän Killigrew. Ich werde sofort ein paar Soldaten herbeordern, die ihn in Empfang nehmen können.“
Hasard winkte ab. „Wenn es Ihnen recht ist, besorgen das meine Männer. Wir haben unsere Erfahrungen mit solchen Kerlen. Darum möchte ich Sie auch warnen. Lassen Sie den Mann scharf bewachen, und vergessen Sie nicht: Bei ihm geht es jetzt um Kopf und Kragen. Bei uns hat er bereits einen Ausbruch versucht.“
Der Dicke nickte beklommen.
Hasard wandte sich zu Carberry um: „Ed, hol bitte den Kerl aus der Piek. Nimm Sten und Matt mit. Und seht euch vor. Löst ihm nur die Fußfesseln, verstanden?“
„Alles klar, Sir.“ Carberry winkte Stenmark und Matt Davies zu sich, schnappte sich im Vorbeigehen einen Belegnagel aus der Nagelbank des Großmastes und marschierte mit den beiden ab.
Während Hasard dem Hafenkapitän nähere Einzelheiten über den Mordfall mitteilte – inzwischen war auch Arne von Manteuffel auf der „Isabella“ erschienen und wurde dem Dicken vorgestellt –, suchten Carberry und seine beiden Begleiter die Vorpiek auf und entriegelten das schwere Schott. Matt Davies leuchtete mit einer Öllampe in den miefigen Raum, der an Bord fast aller Schiffe für arme Sünder vorgesehen war. Hier wurden sie gewissermaßen weichgekocht und durften darüber nachdenken, warum sie in diesem Loch hockten.
Dieses Loch war ein Prüfstein. Hier zeigte sich, aus was für einem Holz ein Mann geschnitzt war, aus Hartholz oder aus Weichholz, ob kernig oder morsch.
Witold Woyda, seines Zeichens Generalkapitän in der polnischen Flotte, war morsch. Er blinzelte aus trüben Augen in den Lichtschein, seine Lippen zitterten, in seiner Miene spiegelte sich eine Mischung von Angst, kriechender Unterwürfigkeit und Haß.
Das Äußere dieses Mannes hatte während des Zwangsaufenthaltes in der Vorpiek arg gelitten. Seine aufwendige Kleidung hatte naturgemäß allen Glanz verloren. Der Generalkapitän war zu einem verluderten Landstreicher geworden. Die zottelige, schmutzige Perücke trug zu diesem Eindruck bei. Sie saß verrutscht und schief auf seinem Kopf.
„Jetzt ähnelt er unserem guten alten Plymmie in Plymouth“, sagte Matt Davies, „auch wenn ihm dessen Wabbelkinn fehlt.“
„Beleidige meinen guten Freund Nathaniel Plymson nicht“, knurrte Carberry. „Das ist ein honoriger Mensch gegen diesen Lausekerl.“ Er schabte sich mit dem Daumen das Rammkinn und wurde tiefsinnig. „Wenn ich da an unseren Kapitän denke – damals auf der ‚Marygold‘. Da mußte ich ihn auch mal aus der Vorpiek holen, wo er geschmort hatte. Wißt ihr noch?“
„Klar.“ Matt Davies grinste. „Da war er in Eisen geschlossen worden und hatte mit der Kette den Augbolzen aus dem Spantholz gedreht, um wenigstens eine Hand beim Kampf gegen die Ratten frei zu haben. Und zwei hat er dann mit der Kette zu Mus geschlagen.“
Carberry nickte. „Unser Kapitän war in der Vorpiek nicht kleinzukriegen. Der hat noch gelacht. Zeiten waren das, Mann, Mann.“ Und dann fuhr er Witold Woyda an: „Hopp! Hoch mit dir, du Mistgurke!“
Stenmark übertrug die Aufforderung Carberrys in die schwedische Sprache, die der Pole verstand. Aber er dachte nicht daran, aufzustehen. Auf dem Hintern rutschte er vom Schott weg, bis er mit dem Rücken gegen die Bordwand der Steuerbordseite stieß. Durch die wäre er am liebsten wohl auch noch durchgekrochen.
„Ich – ich will nicht!“ greinte er.
„Was hat er gesagt?“ schnauzte der Profos.
„Er will nicht“, sagte Stenmark.
„Thorsten Tyndall wollte auch nicht sterben!“ brüllte Carberry, zog sein Entermesser, sprang vor und zerschnitt die Fußfesseln des Generalkapitäns. Dann winkte er mit dem Belegnagel. „Steh auf!“ donnerte er. „Oder es setzt Hiebe mit dem Hölzchen hier!“
Witold Woyda schlotterte am ganzen Körper und rutschte jetzt seitwärts an der Bordwand entlang, als rechne er sich auf diese lächerliche Weise noch eine Chance aus, dem grimmigen Profos zu entgehen.
Der fackelte nicht lange, langte zu und hievte den Generalkapitän mit einem Ruck auf die Beine. Sofort sackte er wieder zusammen, als habe er Pudding in den Knien. Da packte ihn Carberry im Genick und schleifte ihn einfach neben sich her wie ein Bündel Lumpen, mit dem man auch nicht sehr sorgsam umzugehen braucht. In diesem Falle war es ein Bündel Knochen, zu denen keine Muskeln und Sehnen mehr zu gehören schienen, weil die Gliedmaßen herumschlackerten wie bei einer leblosen Gliederpuppe.
Witold Woyda markierte den toten Mann, was ihm jedoch auch nichts nutzte. Carberry nahm auf solche Mätzchen keine Rücksicht. Allenfalls brachte ihn ein solches Gebaren noch mehr in Braß, zumal er den Kerl schleppen mußte. Daher hatte er nichts dagegen, wenn ihm – er schleppte ihn rechts – eine Ecke oder ein Stützpfosten im Weg war. Es bumste ein paar Male, wenn der Generalkapitän mit dem Kopf irgendwo aneckte. Beim zweiten Bums verlor er seine Perücke, die dann von Stenmark und Matt Davies abwechselnd weitergekickt wurde, bis sie Carberry zwischen den Beinen durchflog, weil Matt zu heftig zugetreten hatte.
Auf so was war Carberry nicht geeicht. Nie hätte jemand zu behaupten gewagt, der eiserne Profos wäre schreckhaft. Ein Witz wäre das gewesen. Aber als dieses schwarze Zotteldings von hinten lautlos zwischen seinen Beinen hindurchhuschte und fast ebenso lautlos auf den Planken im Gang landete und sich überrollte, zuckte er zusammen und ließ den Generalkapitän fallen.
Er schnellte zu Matt Davies und Stenmark herum. „Was war das?“
Matt und Stenmark waren am Grinsen.
„’ne Perücke“, sagte Matt.
„Wie?“
„Die Perücke von unserem lieben Witold“, sagte Stenmark. „Er hat sie verloren, und wir haben ein bißchen mit ihr gespielt.“
Carberrys Stirnadern schwollen in beängstigender Weise an. Na, das kannten sie. Ein Vulkan war nichts dagegen, ein lächerlicher Pups war das. O ja, wenn Carberry Feuer spie, dann war Weltuntergang. Aye, aye, Sir, da konnte man nur noch die Ohren anlegen.
„Er türmt!“ brüllte Matt Davies, und der Hakenmann versuchte nun wirklich nicht, den Profos vom Feuerspeien abzuhalten.
Witold Woyda war wirklich gestartet und befand sich bereits dicht vor dem Niedergang.
Carberry warf sich herum und raste hinter ihr her. Daß einer seiner Stiefel dabei die Perücke zu einem Nichts degradierte, bemerkte er nicht. Hinter ihm her stürmten Matt und Stenmark. Das Spielen mit dem Ding war ihnen vergangen, weiß Gott.
Als Witold Woyda wie ein Irrer den Niedergang hochkletterte, war Carberry zur Stelle, hängte sich ohne Rücksicht auf Verluste an dessen Stiefel und riß ihn zurück.
Der Generalkapitän rasselte die Stufen hinunter, prallte rücklings auf Carberry, nahm ihn mit und überkugelte sich mit ihm auf den Gangplanken.
Über dieses Knäuel stürzten Matt und Stenmark, die nicht mehr abbremsen konnten.
Die Wuhling war perfekt. Unten lag Carberry, über ihm Witold Woyda, und über ihnen, besser auf ihnen herum zappelten Stenmark und Matt Davies.
Ein feines Durcheinander!
Vier Leiber zuckten, vier Paar Beine trampelten um sich, vier Paar Arme schlegelten und boxten. Der Profos war am Röhren, Witold Woyda quiekte wie ein Ferkel, Matt Davies fluchte, und Stenmark knurrte wie die Bordhündin Plymmie, der jemand den Knochen klauen will.
Witold Woyda langte kräftig in Matts scharfgeschliffenen Eisenhaken und steigerte sein Quieken zum Diskant. Es war so gellend, daß Matt das Fluchen vergaß. Zu diesem Zeitpunkt empfing Stenmark Carberrys Stiefelspitze unters Kinn, und sein Knurren erstarb abrupt. Dafür rutschte er seitwärts ab, und das war einer weniger, der auf Carberry und Witold Woyda herumturnte.
Der Profos benutzte die Gelegenheit und stemmte sich mit der ganzen Kraft seines gewaltigen Körpers hoch, und zwar ruckartig. Und damit war er frei. Der Generalkapitän und Matt schnellten davon, als seien sie von einem Katapult abgefeuert worden. Matt krachte zwischen den Niedergang, Witold Woyda landete hinten im Gang, wo’s wieder zur Vorpiek ging. Aber da wollte er nie wieder hin.
Wohin dann? Er fühlte sich wie eine in die Enge getriebene Ratte. Seine Augen zuckten hin und her. Die einzige Rettung war der Niedergang, aber von dort wälzte sich das Ungeheuer auf ihn zu, groß und drohend und zähnefletschend.
„Nein!“ schrie Witold Woyda. Und noch einmal: „Nein!“
„Doch!“ sagte Carberry mit klirrender Wut. Die Verneinung in den beiden Worten hatte er sehr wohl verstanden. Und seine Rechte schoß vor, dieser fürchterliche Hammer, der die fegende Wucht eines Orkans hatte.
Witold Woyda hatte den Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, sich im Zentrum einer Explosion zu befinden.
Das war auch alles, was er empfand.
Daß er zurück bis zur Vorpiek flog, spürte er schon nicht mehr. Carberry sammelte ihn dort auf und trat erneut und wie gehabt den Marsch zum Niedergang an.
Dort polterte ein Stiefelpaar die Stufen hinunter und mußte Matt Davies ausweichen, der sich gerade taumelnd aufrichtete.
Hasard!
Er blickte seinen Profos an, dann glitt sein Blick zu dessen rechter Faust, die das schlappe Bündel von Generalkapitän am Genick gepackt hatte.
„Ihr habt wohl Ärger gehabt, wie?“ fragte Hasard.
„Nicht die Bohne, Sir“, brummte der Profos und wich den eisblauen Augen aus. „Äh – da war nur die Sache mit der verdammten Perücke, Sir, mehr war wirklich nicht, ehrlich, na ja, er wollte ein bißchen ausbüxen und so, und da mußte ich ihn stillegen …“ Der Profos verstummte und schielte zu Stenmark, der sich zum Sitz aufgerappelt hatte, sein Kinn betastete und etwas ächzte. „Weiß gar nicht, was der hat“, murmelte der Profos.
„Was war mit der Perücke, Mister Carberry?“ fragte Hasard sanft.
„Mit der Perücke? Ach so, ja!“ Der Profos kratzte sich links hinter dem Ohr. „Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Also, die Perücke, die hatte dieser Affe doch glattweg verloren. Aber schön war die ja sowieso nicht mehr, nicht? Ich meine …“ Carberry verstummte wieder.
„Ja?“ fragte Hasard, und seine Stimme war weiterhin sanft.
„Ja“, murmelte Carberry und schlenkerte den Generalkapitän ein bißchen hin und her, „ich – ich meine, daß Plymsons Perücken schöner sind und so. Findest du nicht auch, Sir?“
„Das mag schon sein“, sagte Hasard freundlich, „aber ich verstehe immer noch nicht, was an einer Perücke, die jemand verloren hat, so aufregend sein soll. War da nicht noch mehr?“
„Äh – hm. Wie soll ich das verstehen, Sir?“ Der arme Carberry starrte seinen Kapitän unglücklich an.
„Nun, ganz einfach“, sagte Hasard. „Witold Woyda hatte seine Perücke verloren, gut. Und was geschah dann?“
„Dann? Du meinst, nachdem er sie verloren hatte?“
„Richtig, mein Guter.“
Carberry zuckte zusammen. Er mochte es gar nicht, wenn ihn jemand „mein Guter“ nannte, und jetzt sagte das auch noch sein Kapitän.
„Ja.“ Carberry ächzte. „Wie war das doch gleich? Warte mal. Also, er hatte sie verloren, aber das war mir entgangen.“
„Aha. Und weiter?“
„Äh – Matt und Sten war das nicht entgangen, nicht wahr, Matt?“ Carberry schielte zu Matt Davies, der hinter Hasard am Niedergang stand. „Sag doch auch mal was, Mister Davies!“
„Na ja“, sagte Matt etwas bedrückt, „ich hab die Perücke durch deine Beine geschossen, Mister Carberry, aber das war bestimmt keine Absicht gewesen, das könnte ich beschwören …“
Hasard drehte sich zu ihm um. „Durch Mister Carberrys Beine geschossen? Wie das?“
„Sten und ich haben mit dem verdammten Ding gespielt. Wir gingen ja hinter Mister Carberry. Mit dem Fuß haben wir die Perücke immer ein Stückchen weitergestoßen, und da ist sie auf einmal bei Mister Carberry durch die Beine gesaust, was ihn sehr erstaunt hat, weil er nicht wußte, was das war. Und da hat er den Woyda fallen lassen, sich zu uns umgedreht und gefragt, was das gewesen sei. Wir haben’s ihm erklärt, und währenddessen ist der Hundesohn zum Niedergang getürmt. Aber da hat ihn Mister Carberry gleich wieder an den Beinen gehabt. Das war alles.“
„Soso. Und woher stammt die Beule auf deiner Stirn?“
„Ich glaube, ich bin hier gegen den Niedergang gekracht“, murmelte Matt Davies. Er fuhr mit den Fingern über die Beule, Stenmark betastete immer noch sein Kinn, und Carberry schlenkerte wieder aus lauter Verlegenheit den Generalkapitän hin und her. Normalerweise wäre jeder davon seekrank geworden, aber Witold Woyda befand sich ja jenseits der rauhen Wirklichkeit.
Hasard sagte: „Das Gebrüll, Geschrei und Gefluche war oben an Deck nicht zu überhören. Daraus war zu schließen – wenn man mit solchen Geräuschen vertraut ist –, daß hier unten gewisse Klosterbrüder – der Ausdruck stammt übrigens von Mister Carberry – bestimmt keine Gebetsstunde abhielten. Nun, ich hatte Mister Carberry ja gewarnt. Daß sich allerdings zwei Klosterbrüder damit beschäftigen würden, eine Perücke als Spielball zu benutzen, statt auf den Gefangenen zu achten, und daß der dritte Klosterbruder dann sein Interesse auch noch diesem Spielobjekt zuwendet, statt den Gefangenen am Wickel zu halten, das ist schlechterdings unfaßbar.“ Der Kapitän musterte seine drei Helden mit jenem Blick, der alles zu Eis gefrieren ließ. „Man sollte meinen, ihr werdet wieder kindisch. Dabei habe ich eher den Eindruck, daß ihr nachlässig werdet. Hatte euch noch nicht genügt, daß Gary Andrews außenbords gegangen war und eine endlose Zeit verging, bis das von euch überhaupt zur Kenntnis genommen wurde? Ihr solltet einen Mörder an Deck bringen – ich wiederhole: einen Mörder! Was muß noch passieren, damit endlich euer verdammter Schlendrian aufhört?“
Sie starrten auf ihre Stiefelspitzen, die Köpfe gesenkt und sehr stumm.
„Was mich freut“, fuhr Hasard fort, „ist immerhin die Tatsache, daß zwei Männer sofort an den Niedergang sprangen und sich dort mit gezogenen Pistolen aufbauten, als der Krach hier unten losging. Es waren Dan O’Flynn und Batuti. Dan sagte: Unser alter Profos scheint in Schwierigkeiten zu sein – dieser Affenarsch!“
Carberry zuckte zusammen. Das war ihm heute schon zweimal passiert.
Und dann knurrte er: „Ich war aber nicht in Schwierigkeiten, verdammt noch mal! Hier ist der Beweis!“ Und er schwenkte den weggetretenen Generalkapitän mühelos mit ausgestrecktem Arm auf und ab. „Der Kerl wäre nie bis an Deck gelangt – niemals! Da kannst du mich kielholen lassen, Sir. Auf Ehre!“
„Ein Profos, den man kielholen lassen muß, ist kein Profos mehr“, sagte Hasard seufzend. „Schon schlimm genug, wenn ein Profos wegen einer lächerlichen Perücke außer Fassung gerät. Das war’s doch, nicht wahr, Mister Carberry?“
Carberry brummelte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Wie bitte?“ fragte Hasard.
„Äh – ich sagte, Scheißperücke.“ Und dann polterte er los: „Warum mußten mir diese Säcke auch das Mistding durch die Beine schießen?“
„Das frag ich mich auch“, sagte Hasard. „Und vielleicht solltest du darüber einmal gründlich nachdenken, falls dich ein solches Nachdenken nicht überfordert. Na gut, fühlt ihr euch noch in der Lage, den Generalkapitän in die Zelle der Hafenkommandantur zu bringen? Ich meine, ohne mit Perücken oder sonstwas herumzuspielen? Oder sollen das lieber Dan O’Flynn und Batuti übernehmen?“
Oh, der Kapitän steckte es ihnen. Und wie! Hohn und Spott in seiner Stimme waren nicht zu überhören. Dabei sagte er es ganz betulich, etwa so, wie man mit kleinen Kindern spricht, die man ermahnt, schön brav zu sein, weil sonst der Butzemann kommt.
Es war erfreulich anzusehen, wie rot sie wurden, alle drei. Bei Carberry verfärbten sich sogar auch noch die Ohren. Sein Atem ging auch heftiger.
„Das erledigen wir!“ stieß er hervor. Die Betonung lag auf dem „wir“.
Darum schoß Hasard noch einen Pfeil ab und sagte: „Trotzdem begleite ich euch.“
Das hieß im Klartext: Bei euch Brüdern bin ich mir nicht sicher, nehmt’s mir nicht übel. Darum gehe ich mit.
Da bissen sie die Zähne zusammen, und das war auch wiederum sehr erfreulich, weil es zeigte, daß sie betroffen waren. Bei Carberry knirschte es, als zerbeiße er Eisennägel.