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Biratnagar

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Im Südosten Nepals, im Hügelland des Terai, knapp an der indischen Grenze, liegt die Stadt Biratnagar. Am westlichen Stadtrand verfügt Biratnagar über einen Flughafen. Dieser Flughafen ist wohl der einzige Grund, warum man als Bergsteiger diesen Ort aufsucht. Denn hier nehmen die Flugverbindungen zu den Hochgebirgsregionen im Osten von Nepal ihren Ausgang.

Von hier waren wir mittels einer kleinen, zweimotorigen Twin Otter nach Suketar geflogen, einer kleinen Siedlung auf zweitausendsiebenhundert Metern Höhe, die ein nicht asphaltiertes STOL-Flugfeld aufweist (Short Take Off and Landing). Wir umwanderten in einer Schleife von etwa dreihundert Kilometern in den nächsten drei Wochen das Kangchendzönga-Massiv, den dritthöchsten Berg der Erde, und Harald Riedl, der an einem bestimmten Tag uns weit vorauseilte, konnte dabei auf einer Lichtung sogar einen Roten Panda beobachten, in der freien Natur ein äußerst seltenes Schauspiel, weil es wahrscheinlich im gesamten Himalaya nur mehr dreihundert von ihnen gibt. Insgesamt war es eine eher verregnete Tour. Tausende von Blutegeln lauerten uns überall auf, und wir entfernten sie mit Messern, Salz oder Feuerzeugen von unseren Schuhen. Dennoch mussten wir an jedem Abend feststellen, dass es vereinzelte dieser Plagegeister durch die Ösen der Schuhe ins Innere geschafft hatten, sich dort drinnen an unseren Füßen satt tranken und dann fett und aufgeblasen zerplatzten. Abends, beim Herausschlüpfen aus den Schuhen, war dann immer ein Blutbad zu sehen, und weil man das Blut auch nicht mehr wirklich entfernen konnte, nahmen diese Schuhe nach einigen Wochen eine olfaktorische Note an, die bei jedem Aasfresser ein Glücksgefühl hervorrufen musste. Wir lagerten unsere Schuhe wohlweislich immer außerhalb unserer Zelte und erreichten nach besagten drei Wochen wieder wohlgemut den kleinen Flugplatz von Suketar, ohne von einem Tiger oder Bären in näheren Augenschein genommen worden zu sein.

Harald, Renate und ich waren die einzigen Touristen hier. In wenigen Minuten würden wir in das tropisch heiße Biratnagar auf nur siebzig Metern Meereshöhe fliegen. Plötzlich stupfte mich Harry in die Seite. „Da drüben liegt ein alter Mann“, sagte er. Ich konnte nicht sogleich etwas erkennen, weil eine Gruppe von zehn oder fünfzehn Menschen dicht gedrängt beieinander stand, doch nahm ich meinen Rucksack mit der Expeditionsapotheke und ging hinüber. Die Zuseher machten eine schmale Gasse frei, und wirklich lag ein alter Mann an der kleinen Böschung, die die Längsseite des Flugfeldes begrenzte. Er war ganz in Weiß gekleidet, und auch sein Haar und sein Bart waren weiß und sehr gepflegt. Sein gefurchtes, schmales Gesicht verriet große Schmerzen, und er wies mit seiner rechten Hand immer wieder auf seine Brust und seinen Hals. Er sagte, dass seine Speiseröhre brenne, und verlangte seltsamerweise nach Knoblauch. Ich konnte nur einen Herzinfarkt vermuten und legte ihm ein Nitrolingual unter die Zunge. Wenig später wirkte er entspannter, und da hörten wir auch schon die Twin Otter sich nähern und auf dem Flugfeld landen.

Die Maschine rollte aus und kam zum Halten, und wir halfen dem alten Herrn auf die Beine und über die kleine, schwankende Gangway hinauf, wo wir von einer jungen, hübschen, in einen Sari gekleideten Stewardess empfangen wurden. Wir setzten den alten Mann auf einen Sitz gerade vor meinem eigenen, und die Piloten starteten die Motoren und jagten das Flugzeug über die holprigen Graspolster in den makellosen Himalayahimmel hinein.

Der Flug von Suketar nach Biratnagar dauert nicht sehr lange, vielleicht zwanzig oder dreißig Minuten, aber auf halber Strecke krümmte sich der Oberkörper des alten Mannes wieder unter großen Schmerzen, und ich löste meinen Sicherheitsgurt und verabreichte ihm erneut eine Dosis Nitrolingual. Wieder wurde der Mann ruhig. Ich drehte mich zur Stewardess um, die hinter mir saß, und bat sie, zu den Piloten im Cockpit vorzugehen und über Funk einen Krankenwagen zum Flughafen zu bestellen. Sie tat, wie ich ihr geheißen hatte, verschwand für kurze Zeit im Cockpit und kam dann zurück. Ihr Gesicht verriet keine Regung. „Es tut mir leid“, sagte sie, „ihren Wünschen nicht entsprechen zu können.“

„Warum?“, fragte ich. „Das wird doch das Selbstverständlichste der Welt sein!“

„Leider nein“, sagte sie. „Die Vorschriften lassen es nicht zu, Sir.“

„Warum nicht?“

„Der Herr“, sie wies mit der Hand auf den alten Herrn vor mir, der vollkommen regungslos dasaß, „hat keine Verwandte dabei. Ohne Verwandte wird er nicht im Krankenhaus aufgenommen.“

Ich bemühte mich, gegenüber der jungen Frau gefasst zu bleiben, schickte sie aber ziemlich gereizt noch einmal zu den Piloten in die Kanzel und ließ ihnen mitteilen, dass wir – Harald, Renate und ich – für die Behandlungskosten aufkommen würden. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis sie zurückkam, ganz offensichtlich kommunizierten die Piloten mit dem Krankenhaus.

„Leider nein“, sagte sie erneut, als sie sich unverrichteter Dinge wieder vor meinem Sitz aufbaute. „Es sind die Vorschriften, Sir“, ergänzte sie mit steinernem Gesicht.

Wir landeten in Biratnagar. Durch die geöffnete Flugzeugtüre schlug uns die ungewohnte Hitze des Tieflandes entgegen. Wir stützten den alten Herrn hinaus in die flimmernde Luft. Das Flughafengebäude von Biratnagar, ursprünglich ein weißgetünchter Betonbau, hatte nach kurzer Zeit, wie alle diese Gebäude in den Tropen, eine graue Farbe angenommen. Großflächiger Schimmel rahmte die hohen, schmutzigen Fensterscheiben ein. Wir lehnten den Mann im Schatten eines großen Baumes an die Außenmauer des Gebäudes. Harry und Renate versuchten noch einen Taxifahrer zu motivieren, den alten Herrn ins Krankenhaus zu bringen, hatten aber keinen Erfolg.

Für uns war es Zeit, das Anschlussflugzeug nach Kathmandu zu besteigen.

An der Ecke zur Abflughalle drehte ich mich um. Der alte Mann saß regungslos und mutterseelenallein im Gras. Ich ging noch einmal zu ihm zurück und drückte ihm eine weitere Nitrolingual in die schlaffe, hohle Hand. Dann durchschritten wir die lärmende Halle und traten wieder ins gleißende Sonnenlicht und über die Gangway hinauf in diese nun größere Maschine. Dabei fiel mir ein Ausspruch über die Hindus ein, den man Mark Twain zuschreibt. Er musste ihn im Jahre 1896 anlässlich seiner Indienreise von sich gegeben haben: „Sie sind ein merkwürdiges Volk. Ihnen scheint alles Leben heilig zu sein – bis auf das menschliche.“

Das Flugzeug hob ab, und vielleicht hoffte ich im Stillen, dass es eine Schleife fliegen würde und ich den alten Mann noch einmal sehen könnte, um mich aufzuraffen, mit den Piloten dieses Flugzeugs über ihn zu reden. Aber das Flugzeug flog keine Schleife mehr; es befand sich im Steigflug gegen den Wind in gerader Richtung nach Kathmandu, und vielleicht hatte auch mich das dauernde Elend dieses Landes stumpf und gleichgültig gemacht.

Das Licht und der Bär

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