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Wolfi, der Dhaulagiri und die blauen Bomber
ОглавлениеDas Bergsteigen erzählt nicht allein eine Geschichte der Triumphe, wie es manches Mal den Anschein hat, sondern vielleicht mehr noch eine Geschichte des Scheiterns. Es gibt Berge, die sich als Schauplätze des Scheiterns besonders gut eignen, und der Dhaulagiri gehört zweifelsohne dazu, weil sich durch seine schiere Größe, Höhe und Exponiertheit jede aufziehende Schlechtwetterfront an seinen riesigen Wänden bricht. Ausgerechnet dorthin wollten wir, um unser Mütchen zu kühlen.
Weil die meisten von uns mittellos waren, wie damals und auch heute noch fast alle Bergsteiger, nahmen wir gern Hilfe von außen in Anspruch. Zur finanziellen Unterstützung durch einen Pharmakonzern, der Hausmann & Boche oder so ähnlich hieß, mussten wir uns allerdings verpflichten, ein neuartiges Schlafmittel auszuprobieren, das damals noch nicht auf dem Markt war. Wir willigten ein, teilten uns brüderlich die zwanzigtausend Schweizer Franken und fuhren los. Der durchschlagenden Wirkung wegen und aufgrund der Form und Farbe dieser Tabletten sollten wir das Schlafmittel wenig später „den blauen Bomber“ nennen.
Voller Vorfreude auf unser Abenteuer, aber des langen Fluges wegen ziemlich übermüdet in Kathmandu gelandet, tranken wir auf meinem Hotelzimmer noch einen Whisky, um mit dem darauf folgenden Nachmittagsschläfchen dem Jetlag den Garaus zu machen. So saßen wir zu dritt, Wolfi und ein anderer Expeditionsteilnehmer und ich, und prosteten uns fröhlich zu.
Ich habe schon immer eine gewisse Schwäche für medizinische Selbstversuche gehabt und fand es deshalb eine gute Idee, den bislang unerprobten blauen Bomber gleich hier und jetzt, in der Sicherheit des Hotelzimmers, zu verkosten. Flugs war die ansehnliche blaue Pille mit einem Schluck Whisky hinuntergespült. Wenig später wurden die Gespräche auffallend philosophisch. Der Expeditionskamerad stellte eine komplexe Frage und Wolfi hörte schweigend zu. Meine Antwort war in einem solchen Maße verdichtet und intelligent und umfassend, dass ich noch heute überzeugt bin, den bedeutendsten Satz meines Lebens von mir gegeben zu haben. Wolfi blickte mich verständnislos an (und ebenso der andere Kamerad), rang sich jedoch zur Feststellung durch: „Das habe ich jetzt nicht verstanden!“
Ich übte mich in Geduld.
„Schau“, sagte ich, „das ist doch einfach und so kristallklar.“ Dann versuchte ich die Antwort zu wiederholen, merkte aber dieses Mal am Ende des Satzes, dass die kristallene Klarheit in meinem Gehirn nicht mehr bis zur Zunge gelangt war. Irgendetwas war hier auf einmal nicht mehr koordiniert. Dann weiß ich von nichts mehr. Meine Kameraden erzählten mir, ich sei im gleichen Moment mit dem Stuhl umgefallen und auf der Stelle eingeschlafen, worauf sie mich zu Bett brachten und zudeckten. Das war der Auftakt unserer medizinischen Forschungsfahrt zum Dhaulagiri.
Damals begann der Anmarsch zum Berg in Pokhara, weil es ja noch keine Straße ins Khali Gandaki gab. Wir campierten also auf dem Fußballplatz von Pokhara und sortierten den ganzen Nachmittag unsere Ausrüstung. Eine Menge Einheimischer stand an einem Zaun und beobachtete neugierig unser Tun.
Ein halbes Jahr vorher hatten mich hier nächtens einige Räuber überfallen. Sie hatten mit einem Messer ein Loch in meine Zeltwand geschnitten und meinen Rucksack hinausgezogen. Bis ich begriff, was mir geschehen war, und ich durch den Eingang des Zeltes nach draußen geschlüpft war, hörte ich nur mehr das Patschen von Füßen, das sich im strömenden Regen verlor.
Im Rucksack waren alle meine Besitztümer gewesen und auch das gesamte Geld, das für die Träger bestimmt war. In diesen Monaten hatte es mehrere solche Vorfälle und auch noch weit tragischere Vorkommnisse gegeben, und ich nahm mir vor, dieses Mal mehr Vorsicht walten zu lassen und nach verdächtigen Gestalten Ausschau zu halten. Tatsächlich waren da drei verwegene Typen, die uns schon seit Stunden, hinter einem Steinmäuerchen stehend, aufmerksam beobachteten. Genauso musste es vor gut sechs Monaten gewesen sein, als sie den Expeditionsleiter, also mich, ausgekundschaftet hatten, denn damals waren zwar alle unsere Zelte aufgeschnitten worden, aber nur meinen Rucksack hatte man gestohlen.
So schlich ich mich, nicht ohne freudige Erwartung der Bosheit im Herzen, im weiten Bogen von hinten an sie heran. Sie unterhielten sich halblaut und bemerkten mich nicht. Sie standen mit dem Rücken zu mir und eng genug beieinander, dass ich mit dem lauten Ruf „Hab ich euch endlich erwischt, ihr Spitzbuben!“ die äußeren beiden beim Genick packte und sie mit dem dritten in der Mitte an den Köpfen zusammenstieß. Eine solche Kommunikation muss, um Erfolg zu haben, immer im Dialekt des Angreifers stattfinden, in diesem Falle eben Tirolerisch, und ich sah zufrieden zu, wie sie erschrocken hintereinander davonrannten, sich in sicherer Entfernung an einer Hausecke kurz umdrehten, sich die Schläfen massierten und gleich nicht mehr zu sehen waren.
Am nächsten Tag zog unsere Karawane los, und wir erreichten, auf und ab über die Höhenrücken des Kali Gandaki wandernd, nach einigen Tagen Beni, den letzten größeren Ort auf unserem Anmarsch zum Berg. Hier gab es eine Polizeistation und eine Militärkaserne, und wir machten es uns auf der Holzveranda eines Bauernhauses bequem. Ein Gewitter nahte, wie man es nur im Khali Gandaki erleben kann, wo die Tiefebene des subtropischen Terai fast nahtlos in das Hochgebirge der Achttausender übergeht. Entsprechend beeindruckt lauschten wir dem Krachen des Donners und dem minutenlangen Leuchten der Blitze. Bald trommelte der Hagel auf das Schindeldach der Veranda, aber das Prasseln hörte sich weich und vertraut an, und aus unserem Weg war ein kleiner, lustiger Bach geworden, in dem die Hagelkörner trieben. Der Wind trug den Duft der frühsommerlichen Felder durch die Räume des Hauses.
Wir verbrachten die Nacht auf Reismatten, und als wir am nächsten Morgen aufwachten, sah ich, wie Wolfi sich verzweifelt in der Bauchgegend kratzte. Auch ich kratzte mich, aber nicht in der Bauchgegend, sondern an Armen und Beinen, den bevorzugten Jagdgründen der Flöhe, und da wusste ich, dass Wolfi sich aus den Reismatten wieder einmal die Wanzen geholt hatte (die als Jagdgründe den Bauchgürtel bevorzugen) und ich eben die Flöhe. So wie in früheren Jahren. Aus unerklärlichen Gründen hatte Wolfi bei solchen Gelegenheiten immer die Wanzen und ich die Flöhe. Wir würden die Viecher erst auf fünftausend Metern wieder loswerden, wegen des Sauerstoffmangels.
Wir wanderten weiter taleinwärts. Untertags ließen uns die Viecher in Ruhe, denn schließlich mussten auch sie einmal schlafen. Wir unsererseits summten vor jedem Schlafengehen nun einige Takte von Jacques Offenbachs Cancan, denn wir wussten, dass die Wanzen und Flöhe in Erwartung der kommenden Freuden in unseren Schlafsäcken Cancan tanzen würden. Doch wir wussten auch, dass ihre Freuden nicht ewig dauern würden, denn in etwa zehn Tagen hätten wir die Höhe von fünftausend Metern erreicht, dann wäre Schluss mit Cancan. Denn haben Sie, verehrte Leserinnen und Leser, schon einmal eine Wanze mit Sauerstoffgerät gesehen? Außerdem warfen wir uns jetzt vertrauensvoll vor dem Schlafengehen einen blauen Bomber ein. Die Wirkung war vorzüglich und ohne erkennbare Nebenwirkungen.
Es muss vor Dharapani gewesen sein, als wir das tief eingeschnittene Flusstal des Myagdi steil aufwärts verließen und ebenso ansteigend taleinwärts stiegen. Hier nun kamen wir zu einer Passage, die das Abenteuerlichste war, was ich jemals im Anstieg zu einem Dorf erlebte: Mitten in den steilen, um nicht zu sagen fast senkrechten Graswänden war eine Felswand, in deren Risse und Spalten die Einheimischen Holzknüttel und Äste getrieben hatten. Auf diese Äste hatte man Bretter und Kanthölzer von etwa zwanzig Zentimeter Breite gelegt, und das war der Zugangsweg zum nächsten Dorf.
Schurli, unser Expeditionsarzt, war damals schon sechsundfünfzig Jahre alt. Sein schneeweißes Haar ließ ihn uns jungen Recken noch älter erscheinen, die Sherpas nannten ihn liebevoll und unter Gelächter Baci, den Großvater, und er war zu allem Überfluss nicht schwindelfrei. Es half ihm nicht sehr, dass einige aus der Gruppe ihn hier nun unter Zurufen von Scherzworten und Gelächter beobachteten, wie er unter Todesangst und ohne in die fast senkrechten, Hunderte Meter abfallenden Wände hinunterzuschauen, sich über die leicht schwankenden Kanthölzer bewegte. Aber er schaffte es bravourös, und danach ging es über steile Berghänge hinauf, entlang von verkohlten Wiesen und Sträuchern. Unsere Sherpas erzählten uns, dass hier vor einigen Tagen eine fünfköpfige Familie bei einer Brandrodung vom Feuer eingeschlossen worden und in den Flammen gestorben war. Schließlich fand einer unserer Vorausgehenden noch zwei oder drei Köpfe der Familienmitglieder, und Wolfi und ich machten einen Umweg, um uns selbst den Anblick zu ersparen.
Schließlich erreichten wir das Dorf, und die Zelte wurden aufgeschlagen. Auf unseren armen Doktor, der eben den Horror vom Klettern an Kanthölzern über einem senkrechten Abbruch überstanden hatte, wartete schon eine lange Schlange von Kranken, die teilweise in tagelangen Märschen hierhergekommen waren, in der Hoffnung auf Heilung. Schurli war todmüde und selbst schon dem Einschlafen nahe, aber ohne Murren begann er unverzüglich mit den Behandlungen, begleitet vom Gezirpe der Grillen und dem Murmeln des Baches. Es waren die üblichen Magen- und Knie- und Tonsillitisgeschichten, und das Vorzimmer seiner Praxis begann sich zunehmend zu leeren. Weit hinten stand aber noch bescheiden und still ein alter, offensichtlich blinder Mann, gestützt von seinen beiden Enkelinnen. Als er endlich an die Reihe kam, bat ihn Schurli mithilfe eines übersetzenden Sherpas, sich auf die Isoliermatte vor seinem Zelt zu legen. Der alte Mann folgte seinen Anweisungen, legte den Kopf auf einen kleinen Polster und war im gleichen Moment vertrauensvoll eingeschlafen. (Man erzählte uns, dass er drei Tage lang mithilfe seiner Enkelinnen marschiert war, um den rettenden Doktor zu erreichen.) Die Augenhöhlen des alten Mannes sahen schrecklich aus, und Eiter und Blut liefen aus seinen Augenwinkeln. Schurli untersuchte ihn, dann drehte er sich zu mir und sagte leise, mit tiefem Bedauern in seiner Stimme: „Ich kann ihm nicht mehr helfen. Eine … Fliege. Kein Arzt der Welt kann ihm mehr helfen. Er wird blind bleiben.“
Als der letzte Kranke den Platz verlassen hatte, ging ich zu Wolfi in ein nahe gelegenes Bauernhaus hinauf, und wir beschlossen, die kommende Nacht abermals auf der Terrasse des Hauses auf Reismatten zu verbringen. Denn Flöhe und Wanzen hatten wir ohnehin schon ausgefasst. Als nach dem Abendessen das letzte Licht an den Vorgipfeln des Dhaulagiri verschwunden war, summten wir vergnügt den Cancan, genehmigten uns vor dem Eintreffen unserer Quälgeister einen blauen Bomber und spülten ihn mit Whisky hinunter. Wir schliefen vorzüglich und ohne Nebenwirkungen, doch am nächsten Morgen stellten wir fest, dass auch unsere kleinen Mitbewohner Gefallen am Geschmack von Whisky gefunden haben mussten, denn besonders Wolfis Bauch war noch geröteter und zerstochener als in den Tagen vorher. Anderntags stiegen wir das Myagdi Khola weiter hinauf und hinein und erreichten schließlich das Basislager des Dhaulagiri. Wir waren von Phokara bis hierher dreizehn Tage unterwegs gewesen.