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Der sterbende Yak

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Eine der zentralen Verhaltensregeln des Buddhismus empfiehlt, sich des Tötens zu enthalten. Nicht, weil es ein Gott empfohlen oder befohlen hat oder das Leben nicht uns selbst gehört, sondern deshalb, weil normalerweise für jedes Wesen das eigene Leben das höchste Gut darstellt. Im Tibetischen Buddhismus wurde dieses Gebot so weit ausgelegt, dass man vom Umstechen eines Gartens oder Ackers Abstand nahm, weil man dabei ja einen Regenwurm zerteilen könnte …

Wenn man, von Tingri (Tibet) kommend, mit einem Allradfahrzeug in Richtung des Himalaya-Hauptkamms fährt (in diesem Falle zum sechsthöchsten Berg der Welt, dem Cho Oyu), dann gebietet irgendwann einmal ein kleiner, scheinbar unbedeutender Gletscher dem imperialistischen Größenwahn des chinesischen Kommunismus Einhalt.

Es ist ein kleiner, wenngleich bewegter Gletscher. Hier ist Schluss mit dem Straßenbauen, denn der kleine, unbedeutende Gletscher, der sich unauffällig aus der Nordflanke des Cho Oyu durch ein Moränental heranschiebt, kaum mehr als hundert Meter breit, schiebt jede Baumaschine, sei sie europäischer, amerikanischer oder chinesischer Herkunft, mit seiner Fließgeschwindigkeit von vielleicht fünfzig Metern im Jahr vor sich her und zermalmt sie in kürzester Zeit zu Brei. Hier also war das Ende der Straße, und von hier aus startete unsere kleine Karawane.

Der Gletscher hatte auf seinem langen Weg vom Fuß des Cho Oyu riesige Massen von Geröll und Erde zur Seite geschoben und als Randmoränen aufgetürmt. Auf einer dieser Seitenmoränen schlängelte sich nun unser schmaler Weg verheißungsvoll dem Berg entgegen. Kurzes, schütteres Gras zitterte sich unter der aufgehenden Sonne vom Tau trocken, und der Bergwind trug uns den Duft von Heilkräutern in die Nasen. Das friedliche Läuten von Yak-Schellen begleitete uns.

Wir hatten neben unserer nepalesischen Stammmannschaft, die aus Sherpas bestand, auch einige tibetische Nomaden dabei. Sie hatten die Yaks mit unseren Lasten beladen und trieben sie nun unter stetigem Pfeifen vor sich her. Über ihren nackten Oberkörpern trugen sie Schaffelle und am Gürtel mittelgroße Schwerter, eine Feuersteintasche mit Zunder und eine kleine Tasche mit Nähzeug. All dieses Pfeifen, Bimmeln und stete Dahinzuckeln ließ uns beinahe vergessen, dass diese Menschen nicht mehr Herren im eigenen Land waren, sondern unterjocht von Chinesen, die etliche Jahrzehnte vorher das beinahe schutzlose Land überfallen hatten.

Wir verbrachten die Nacht in den Zelten, die unsere Sherpas in einer einladenden Senke aufgeschlagen hatten, und am nächsten Tag bummelten wir vergnügt weiter über den Moränenrücken. An diesem zweiten Tag zogen Wolken über den Horizont, helle, ja durchdringend weiße Wolken, wie von innen beschienen und doch an ihren Rändern scharf gegen das schwarze Blau des Himmels abgegrenzt. Sie hatten die Formen von Schiffen und großen Köpfen und Tieren, und ich begriff, warum die Tibeter einen jahrtausendealten, vertrauten Umgang mit dem Universum pflegen.

Unser Freund Helge war schon etwas voraus, aber Maria Peters und ich gingen knapp hintereinander und blieben auch fast zeitgleich stehen, als wir unterhalb unseres Weges einen Yak liegen sahen. Er lag dort mutterseelenallein. Sein braungraues Fell hob sich kaum vom kurzen, dürren Gras ab, als wäre auch er aus der umgebenden Landschaft geformt. Maria und ich nutzten den Anblick, um eine kurze Pause zu machen und zu verschnaufen. Der Yak bewegte sich lange Zeit überhaupt nicht, er lag nur ergeben da, und da erkannten wir, dass mit dem Tier irgendetwas nicht stimmte. Dann bewegte es seinen Kopf, aber nur ganz wenig und wie unter großen Mühen, und wir dachten, dass es im Sterben läge, weil es von hier aus abgestürzt oder altersschwach oder anderweitig verletzt war. Schließlich setzten wir unseren Weg fort und errichteten am nächsten Nachmittag unser Hochlager auf ziemlich genau sechstausend Metern Höhe.

Von hier konnten wir fast eben zum Nangpa La blicken, jenem berühmten, vergletscherten Pass, über den etwa fünfhundert Jahre früher die Sherpas, aus Osttibet kommend, nach Nepal gezogen waren und sich dort auf immer niedergelassen hatten. Wir wussten, dass dieser Pass noch immer auf einer der wichtigsten Fluchtrouten der Tibeter lag, wenn sie ihr besetztes Heimatland verlassen wollten oder mussten. Und genauso wussten wir, dass – ähnlich wie einst an der Berliner Mauer – ein genereller Schießbefehl seitens der chinesischen Behörden diese Fluchtversuche vereiteln sollte und dass dieser Befehl auch befolgt wurde. (Fünfzehn Jahre später sollten alle Erwachsenen einer Gruppe hier, auf der Flucht, von mit Zielfernrohren ausgerüsteten Militärs erschossen werden. Es waren sechzehn Erwachsene. Ihre Leichen warf man in Gletscherspalten und ihre Kinder brachte man in staatliche chinesische Erziehungsheime. Das Massaker ereignete sich Ende September 2006 unter den Augen von Bergsteigern und Sherpafreunden und wurde sogar von einem bulgarischen Kameramann in einem Film dokumentiert. Aber die Medien unserer westlichen Welt waren zu feige, über den Vorfall zu berichten.)

Wir selbst erkundeten in den folgenden Tagen den Zugang zum Palung Ri, einem Siebentausender gegenüber des Cho Oyu, und während unser Freund Salami Dawa nach einem brauchbaren Pfad zwischen den großen Felsblöcken suchte und auf einen toten Tibeter stieß, der auf der Flucht vor der chinesischen Polizei hier heroben – in der scheinbar friedlichsten Gegend der Welt, auf sechstausenddreihundert Metern – den Tod gefunden hatte, erhielten wir anderen im Lager Besuch von drei jungen Männern.

Sie torkelten mehr, als sie gingen, und beim Näherkommen erkannte ich, dass sie schneeblind waren. Wir legten sie auf eine Isoliermatte, und ich brachte ihnen Dexagenta-Salbe in die Bindehautsäcke ein. Sie hielten ganz ruhig und bewegten sich nicht. Als ich ihnen jedoch sagte, sie sollten liegen bleiben, um wenigstens eine halbe Stunde zu schlafen, sprangen sie auf und sagten, dass die Salbe schon wirke. Ja, sie wirke schon – und sie könnten wieder sehen, und überhaupt wäre ihnen die Polizei auf den Fersen. Sie würden erschossen werden, sagten sie, wenn sie erwischt würden, und ließen sich nicht aufhalten. Gleich darauf hielten sie auf große Felsblöcke hinter dem Lager zu, mit deren Grau sie bald verschwammen.

Einige Tage später machten wir uns wieder auf den Heimweg. Wieder war der Himmel wolkenlos, und sein dunkles Blau umrahmte die Konturen der langsam kleiner werdenden, weiß schimmernden Berge. Bergab und talauswärts schlenderten wir leichtfüßig dahin, und der Wind trieb uns den Duft von Wacholder entgegen und ließ die stumpfen, graubraunen Gräser schwanken und ihre silbrigen Unterseiten blinken, als gäbe es noch eine andere, unbekannte Seite an ihnen. Nach fünf oder sechs Stunden Marsch hatten wir wieder die Stelle erreicht, wo wir eine Woche zuvor den Yak gesehen hatten.

Er lag noch immer da, den mächtigen Kopf auf die Seite gelegt. Aber er hatte die Augen geöffnet, und wir sahen, wie er im Wind die Lider schloss und wieder anhob. Man hatte ihm einen großen Ballen Heu vor die Nase gelegt und eine Schüssel mit Wasser hingestellt, aber das Tier schien nicht mehr die Kraft zu haben, sich daran zu laben. So saßen wir lange da, Maria und ich, unterhielten uns leise und fanden schließlich, dass hier doch ein Gnadenschuss dem Leiden ein Ende machen könnte. Aber dann wieder schwankten wir in unserer Meinung wie das Gras im Wind, denn der Anblick des Yaks bewegte uns selbst. Wir schwankten und schwankten zwischen der im christlichen Glauben gründenden Vorstellung der Gnade, der die Möglichkeit miteinschließt, das Leid eines Tieres zu beendigen, wenn es denn unumgänglich wäre, und dann wieder der kompromisslosen Haltung der Tibeter, eines jeden Wesen Leben zu respektieren, weil es ihm eben selbst das höchste Gut darstellt.

Nach einer langen Zeit standen wir wieder auf und schulterten unsere Rucksäcke. In unerhörter Heiterkeit nickten uns kleine Glockenblumen am Wegrand zu, und nach Norden hin grüßten ocker- und magentafarbene Wellen aus Hügeln, deren glimmerhaltiger Sand alles Irdische in einen tintenblauen Himmel sandte. Ein Spiegel, so groß, wie die Welt nur sein konnte.

Dieses gleißende Land war das Universum eines Sven Hedin, eines Peter Aufschnaiter, eines Herbert Tichy gewesen. Wir hätten es einfangen wollen, in diesen Minuten, mit den Augen und, wenn es nicht anders ginge, mit den Händen, aber so wie alles Licht zerfloss es uns durch die Finger, und keine Kamera der Welt konnte festhalten, was das menschliche Auge nur für einen Augenblick zu sehen vermochte.

An der nächsten großen Biegung des Weges, bevor wir den Yak aus den Augen verloren, drehten wir uns noch einmal zu ihm um. Er hatte sich nicht mehr bewegt. In der graubraunen Landschaft bildete sein Fell einen kaum mehr wahrnehmbaren Fleck, wie die ferne, ferne Erinnerung an eine Zeit, als man dieses Land noch als heilig empfand.

Das Licht und der Bär

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