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Das Licht und der Bär
ОглавлениеIhr Bergsteiger kennt alle das erschöpfte Licht, das sich nicht zwischen Tag und Nacht entscheiden kann und doch eine Schärfe unseres Sehens und eine Klarheit unserer Gedanken bewirkt, wenn wir bis in diese Stunden der Dämmerung hinein eine lange Zeit unterwegs waren und erschöpft genug sind, dass uns die Erinnerung daran bis zu unserem Ende begleiten wird. Die Sehkraft stärkt sich ab einem Grad der Ermüdung, weil es eben notwendig ist, und die Geschwindigkeit und Ausdauer des Körpers steigen bis zu jenem Zustand, der autochthon zu nennen ist, während uns nur mehr die Geräusche und Gerüche unserer Umgebung und unser eigener Herzschlag erreichen. Dann sind wir wir selbst und eben deshalb glücklich und einverstanden mit unserem möglichen Ende, weil wir erkennen, dass alles endlich ist, und gleichzeitig unser Leib uns ein jahrtausendealtes Vertrauen in die Idee der Schöpfung wieder zurückgegeben hat.
Was möchte man nicht alles darum geben, wenn man diese Minuten oder Stunden des Müdewerdens nach vielen Stunden der Bewegung und zugleich dieses Lebens, auf immer in sich bewahren könnte. Es ist, als wenn die Leere uns ausfüllen würde, und wir erkennen, dass keine Kraft der Welt imstande wäre, uns diese Fülle noch jemals zu nehmen.
Das ist der Zustand jenseits der Erschöpfung, ein Delirium, das aus fernen Speichern gespeist wird. Ein Zustand, den jeder Bergsteiger kennt und der dem Einsamen bescheinigt, dass er nicht allein in diesem Kosmos ist.
Ich war allein von Nepal aus über den gut fünftausendsiebenhundert Meter hohen Nangpa La in das verbotene Tibet gegangen und in die früh einsetzenden Winterstürme geraten. Diese Winterstürme, die mit dem die Erde umspannenden Windsystem des Jetstreams zusammenhängen, haben ihren Ausgangspunkt in Sibirien und brechen sich etwa ab Mitte Oktober an der gewaltigen Mauer des Himalaya. Der mit dem eiskalten Wind einhergehende Temperaturwechsel hatte einen Bruchharsch auf dem Gletscher bewirkt, was mich nun bis über die Knie mit meiner schweren Last einbrechen ließ. Ich hatte drei Wochen lang kein lebendes Wesen mehr gesehen, außer einem Raben, der mich an den ersten zehn Tagen begleitete, und als ich nun mit gebücktem Kopf langsam gegen den Sturm in Richtung Passhöhe stieg, sah ich auf einmal in etwa zweihundert Metern seitlicher Entfernung eine Yak-Karawane mir entgegenkommen. Die Yaks wechselten sich im Spuren ab, indem der jeweils erste mit seinen Vorderbeinen in die Höhe stieg und sich dann mit seinem mächtigen Oberkörper wie ein Eisbrecher in den Schnee fallen ließ. Zwei Frauen und ein Mann begleiteten die Karawane, die aus etwa dreißig schwer beladenen Tieren bestand.
Wahrscheinlich hatten sie von Tibet das begehrte Salz der Inlandsseen, übrig geblieben aus der Auffaltung der Hochebene durch den Schub des indischen Subkontinents vor hundert Millionen Jahren, also frühes Meeressalz, nach Nepal gebracht. Nun, auf dem Rückweg, befanden sich in ihren Lasten Leder, und vielleicht Armbanduhren und Edelsteine aus Bangkok, von Händlern aus Manang nach Nepal gebracht, und in ihrem Anhang Yakkälber. Sie waren in diesem Schneefegen wie ein Bild aus einer anderen Welt, und ich blieb stehen, und auch sie mussten mich wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt wahrgenommen haben, denn ohne dass ich ein Kommando vernommen hätte, blieben alle, die Tiere und die Yaktreiber, mit einem Schlag wie festgewurzelt stehen.