Читать книгу Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea - Страница 12

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Die Verzögerung auf der kanadischen Baustelle erlaubten Sven am Ende seines Aufenthaltes bei der Firma Wegener in Esslingen noch einmal, wie geplant, für die Dauer seines Jahres- urlaubes zu seinen Eltern nach Hamburg zu fahren. Als der Zug bei der Einfahrt zum Hamburger Hauptbahnhof mit reduzierter Geschwindigkeit über die alte Brücke der Norderelbe fuhr und unser Heimkehrer zwischen den Eisenstreben der Brücke die Hafen-becken samt der dahinter aufragende Silhouette der Innenstadt mit den Türmen der Michels-,Nikolai- und Petrikirche sowie des Rathauses sah, merkte er, dass er trotz der aufregenden und zweifellos interessanten Ereignisse der letzten Zeit, noch immer ein besonderes Verhältnis zu dieser Stadt hatte. Vielleicht verursachte aber auch gerade dieser Blick im Vergleich mit der Fremde die unterbewusste Sehnsucht nach der alten Heimat. Er verstärkte auf alle Fälle seine freudige Erwartungshaltung auf das bevorstehende Wiedersehen mit den alten Freunden und Bekannten, im Besonderen zunächst mit den Eltern, die ihn in Bergedorf am Bahnhof abholen wollten.

Als er sie auf dem Bahnsteig erkannte. auf sie zulief und herzlich begrüßt wurde, erwiderte er natürlich ihre Umarmungen. Gleichzeitig beschlich ihn das unbewusste Gefühl, im Gegensatz zur vertrauten Umgebung nicht mehr im alten Gleichklang mit ihnen zu sein. An ihrer äußeren Erscheinung konnte es kaum liegen. Der Vater kam gerade vom Büro und trug noch, wie gewohnt, seinen mausgrauen Anzug mit der dazu passenden, hellblauen Krawatte. Voller Stolz blickte er seinen Sohn mit den graublauen, ovalrunden, von einem blassen, hageren Gesicht eingerahmten Augen in prüfender Erwartung an.. Die Mutter dagegen strahlte voller Freude mit ihrem rundlichen Gesicht, den glitzernden braunen Augen und den leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln, die ihm als Zeichen uneingeschränkter Zuneigung vertraut waren. Ihr dunkelgrünes Kostüm mit der dazugehörigen weißen Bluse kleideten sie gut, zeigten aber gleichzeitig eine gewisse konservative Zurückhaltung, die wiederum zum Erscheinungsbild ihres Mannes passte.

Sven musste sich eingestehen, dass im Gegensatz zu seiner früheren Rückkehr von Reisen nicht seine Eltern sondern er selbst durch die Erlebnisse und Eindrücke in Kanada eine neue Ausrichtung erfahren hatte, die er jedoch noch nicht genau definieren konnte und deshalb beim Besuch seiner Eltern noch als unbestimmtes Gefühl verbergen und zurückdrängen musste. Während ihrer Fahrt nach Hause interessierte sich der Vater in erster Linie für die Berufsaussichten seines Sohnes. Dieser erzählte von seinen Begegnungen in Esslingen, dem guten Verhältnis zu seinen neuen Kollegen und schloss mit dem Satz: „Die Schwaben sind ein besonderes Völkchen, aber auf ihre eigene zielstrebige Art auch sehr weltoffen. Durchaus risikofreudig, spüren sie überall die sich ergebenden Gelegenheiten auf und nutzen sie, um ihre oft eigenwilligen Vorstellungen beharrlich zum Erfolg zu führen.“´Der Vater, dem althergebrachten Beziehungsgeflecht der Hamburger Kaufleute verhaftet, schwieg zunächst und antwortete schließlich nachdenklich, ohne seinen Sohn dabei anzusehen: „Deine Beschreibung der spontanen, von der jeweils gegebenen Situation geprägten, unkonventionellen Vorgehensweise deines neuen Arbeitgebers passt zu dir. Ich merke deine Begeisterung, mit der du bei den gleichgesinnten Kollegen ein geeignetes Umfeld erkennst, um damit deine oft eigenwilligen Entscheidungen besser durchzusetzen .“Sven gab zu: „Du hast recht! Gerade das reizt mich, um mich so zu verwirklichen.“

Die Mutter schwieg bei dieser Unterhaltung, weil sie nicht recht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits freute sie sich, dass ihrem Sohn die neue Stelle gefiel. Andererseits fühlte sie, dass dessen schon immer spürbares Eigenleben durch die Selbstbestimmung in der Fremde die altgewohnte Bindung an die Familie noch mehr ersetzte. Sie hatte damit eigentlich das allgemein anerkannte Ziel der elterlichen Erziehung erreicht. Trotzdem überkam sie dieses Eingeständnis zu plötzlich und verursachte ihr eine momentane Sprach- und Ratlosigkeit, die sie schließlich mit der ihr vertrauten, mütterlichen Fürsorge überwand, indem sie ihn ebenfalls prüfend anblickte und fragte: „Du bist schlank geworden. Bekommst du nicht genügend zu essen?“ Sven entgegnete lachend: „Doch, doch! Nur nicht mehr so regelmäßig und nicht immer so gut wie bei dir.“ Unwillkürlich löste diese kleine Randbemerkung die Spannung und als sie zu Hause ankamen, freuten sich wiederum alle und erwarteten voller Neugier auf die Erzählung ihrer jeweiligen Erlebnisse.

Zum Essen komplettierte Svens Bruder Paul die Familie. Er kam von der Arbeit und begrüßte den Heimkehrer ohne die elterliche Erwartungshaltung, wie einen engen Verwandten, den er eine Weile nicht gesehen hatte. Sein durchaus aufgeschlossener Gesichtsausdruck war gleich- zeitig von einem skeptischen Blick seiner großen, braunen Augen begleitet, die er von der Mutter geerbt hatte. Obwohl beide Brüder dieselbe schlanke, hochgewachsene Statur besaßen und sich in der Art ihrer Bewegungen ähnelten, trennte sie ein beträchtlicher Altersunter- schied. Sven kannte Paul nur als den zehn Jahre Jüngeren, dem die Eltern alle Streiche erlaubten und den er trotz aller Proteste und Streitereien im Alleingang zu erziehen versuchte. Er unterlag jedoch ständig gegenüber der Mehrheit in der Familie und konnte nicht ver- hindern, daß sie sich mit zunehmendem Alter völlig unterschiedlich entwickelten und er schließlich zum Außenseiter abgestempelt wurde.

Paul blieb der Heimat treu, wohnte zu Hause, ließ sich, wie von klein auf gewohnt, von der Mutter verwöhnen und beschränkte seinen Ehrgeiz auf die lokale Anerkennung, die er als junger Angestellter bei der Bergedorfer Kreissparkasse anstrebte. Seine umgängliche Art verschaffte ihm einen großen Freundeskreis und nicht zuletzt auch die Zuneigung vieler Frauen seines Alters , deren Bekanntschaft er zwar häufig wechselte, die ihn aber trotzdem verehrten und als soliden Bestandteil ihres gewohnten Umfeldes für einen aussichtsreichen Ehekandidaten hielten, den sie gerne erobern wollten.

Den Außenseiter überkamen bei diesen Gedanken heimlich direkt so etwas wie Neidgefühle. Er merkte, dass er diese Geborgenheit und die damit verbundene Beständigkeit gegen die Hektik und Ungewissheit eines ruhelosen Einzelkämpfers eingetauscht hatte. Paul holte ihn in die Gegenwart zurück, indem er ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte und ausrief: „Willkommen zu Hause, du alter Ausreißer! Hat dich die Kälte wieder aus Kanada vertrieben?“ Erstaunt sah er den Bruder an und antwortete: „ Als ich Ende Juli Toronto verließ, erreichte die Sommerhitze des dortigen Kontinentalklimas gerade 35 Grad Celsius und dieses bei 90 % Luftfeuchte, beides dazu angetan, dich anstelle der Kälte schnell nach Hause zu schicken.“ Enttäuscht wollte Paul bereits aufgeben. Der verängstigte Blick der Eltern, die eine Neuausgabe der alten Streitereien zwischen den Brüdern befürchteten, veranlasste ihn jedoch, seine zweifellos limitierten Kenntnisse von Kanada noch einmal zu testen und etwas versöhnlicher nachzuhaken. „ Hast du auch schon den Vorteil der vielen kanadischen Seen genießen können?“ Svens Blick heiterte sich auf und er berichtete ihnen von seinem gelungenen Segelbootsausflug auf dem Ontariosee.

„Stellt euch vor, ich hatte keine Ahnung von der Größe dieser Wasserfläche. Die Ausrüstung der Boote entspricht der Takelage derjenigen, die bei uns für Fahrten auf der Nord- und Ostsee benutzt werden. Mein Kollege Jim Shaw hatte mich nur für einen Tagesausflug mitge- nommen. Seine Bootsausrüstung eignete sich aber auch für einen Wochentörn, den dieses Binnenmeer mit Abstechern zu den verschiedensten Orten in USA ermöglicht. Jim prüfte meine Fähigkeiten und ich hatte Mühe, seinem großzügigen Angebot als Skipper gerecht zu werden. Arne Erikson, ein Bekannter von Jim, den ich an der Bar des Segelclubs kennen- lernte und der ein eigenes Boot besitzt, hat mich anlässlich eines Besuches bei ihm zu Hause auf einen Bootsausflug am Wochenende nach Buffalo im Staate New York und zu den dortigen Niagarafällen eingeladen. Ich freue mich bereits darauf, wenn wir den Plan nach meiner Rückkehr verwirklichen. Zusätzlich bedeuten für mich als Hamburger diese Kontakte den notwendigen Rückhalt in der Großstadt, um ab und zu der Einsamkeit der Wälder um die Baustelle in Bancroft, 300 km nordöstlich von Toronto, zu entfliehen.“

Jetzt war Paul derjenige, der seinen Bruder beneidete; hatte er doch bisher in Bergedorf, trotz der Nähe zur Elbe in Altengamme und Geesthacht, noch keinen Gönner gefunden, der ihn auf einer Segeljacht mitgenommen hätte. Alle mussten sich schließlich eingestehen, dass jeder auf seine Art mit den Vor- und Nachteilen der von ihm gewählten Lebensweise auskommen musste. Die Erziehung der Eltern hatte bei dem großen Altersunterschied ihrer Kinder zwangsläufig zu deren entgegengesetzter Ausrichtung geführt, die nur mit Hilfe einer toleranten gegenseitigen Anerkennung auch in Zukunft ihrer familiäre Bindung einen dauerhaften Bestand als bedeutender Teil ihres Wesens ermöglichte.

Sven sehnte sich nicht nach seiner Tätigkeit bei der Firma seines Vaters zurück, genoss aber gleichwohl das wiedererwachte Gefühl des Geborgenseins, das ihm das Zusammensein mit der Familie vermittelte. Er erinnerte sich daran, dass sie bei schwierigen Situationen stets die Köpfe zusammengesteckt hatten und so, ähnlich den Bewohnern einer belagerten Festung, die aussichtsreichsten Befreiungsschläge gemeinsam berieten und meist auch erfolgreich umsetzten.

Gleich nach dem Abendessen bekundete Paul allerdings die beim Gleichklang ihres Verständnisses eingetretene Veränderung. Er stand auf und verkündete zur Überraschung der anderen: „ Entschuldigt mich bitte! Ich muss zu einer Vorstandssitzung des Gesangvereins, die ich leider nicht mehr absagen konnte.“ Dieser plötzliche Aufbruch verkürzte in jeder Hinsicht das Wiedersehen mit dem Bruder. Sven gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen und trotz des abgeänderten Programmes, bei den Eltern mit der Erzählung der Einzelheiten seiner kanadisch-schwäbischen Erlebnisse die maximal mögliche Anteilnahme zu erzeugen, damit ihre Kommentare mangels Kenntnis nicht nur Kritik sondern, wie früher, eine wertvolle Korrektur und Unterstützung seines Vorgehens auslösten.

Am anderen Morgen schlief sich der Heimkehrer nach den Strapazen der Reise und im Wohlgefühl des lang vermissten, eigenen Bettes erst einmal aus und verpasste Vater und Bruder, die frühzeitig zur Arbeit fuhren. Die Mutter begrüßte ihn zum Frühstück und verwöhnte ihn mit frischen Brötchen und selbstgemachter Brombeermarmelade, einfache Leibspeisen, die ihm zusammen mit einer Tasse starkem, schwarzen Kaffee hervorragend schmeckten. Während ihrer Unterhaltung versuchte sie Svens gute Laune auszunutzen, indem sie Pauls plötzliches Verschwinden am Vorabend mit den Worten entschuldigte: „Du musst verstehen, dass Paul bei der Sparkasse am Schalter viele Kunden bedient, die ihn deshalb besonders schätzen, weil sie ihn auch privat kennen. Sein Chef aus Lüneburg besitzt nicht denselben Kontakt zu den Einheimischen und fördert deshalb Pauls Ehrgeiz, sich mit dem ihm entgegengebrachten Vertrauen als Anlagenberater zu qualifizieren. Besondere Kunden besucht er auch am Abend und vermehrt seine Beziehungen, indem er als ehrenamtlicher Kassenwart die Konten verschiedener Vereine betreut.“ Dieser ungewöhnliche Arbeitseifer und der bis dahin kaum in Erscheinung getretene Ehrgeiz seines Bruders ließen Sven vermuten, dass das „Goldstück“ mal wieder mit viel Rücksicht auf die Gefühle der Mutter den Anteil der Damen an seiner abendlichen Beschäftigung elegant verschwiegen hatte. Er baute damit seine Vorzugsstellung als „Lokalmatador“geschickt weiter aus. Sven blieb nichts anderes übrig, als den Schmeichler mit der ihm bei seinen Auslandsaufenthalten zugewachsenen größeren Toleranzbreite zu ertragen und sich damit den weiteren Zugang zum Elternhaus zu erhalten.

Mit dieser Erkenntnis bewaffnet, überging er jetzt kommentarlos die Ausführungen der Mutter und fragte sie stattdessen: „So viel ich mich erinnere, ist heute Markttag. Wollen wir zusammen hingehen und Obst und Gemüse besorgen?“ Er hatte ein gutes Stichwort gewählt, bei dem sich ihr Gesicht sofort aufheiterte und sie, alles andere vergessend, sofort aufstand und antwortete: „Wir müssen uns beeilen, weil sonst die besten Sachen bereits ausverkauft sind. Ich ziehe mich nur schnell um und dann marschieren wir los.“

Bald darauf gingen sie einträchtig oberhalb eines mit Büschen wilder Rosen und verschiedenen Sommerblumen bepflanzten Abhanges der Bille und des anschließenden Schwimmbades entlang und bogen am Ende nach links in die Marktstraße, die sich hinter dem Schlossgarten entlang zog. Der bunte Anblick der Stände mit ihren verschiedenen Auslagen, die hauptsächlich von dunkel gekleideten, beschürzten älteren Bäuerinnen aus den benachbarten Vierlanden angeboten wurden, gehört ein seiner Einmaligkeit zu Svens bleibendem Heimatbewusstsein. Ähnlich wirkte nur noch die Fassade des Fachwerkturms der alten Schlosskirche aus dem 17.Jahrhundert und dahinter, versteckt zwischen den Bäumen des Parks, das Schloss selbst, ein weniger bedeutender, finsterer, viereckiger Backsteinbau, der als Wasserschloss von einem dunkelgrauen, fast schwarzen Wassergraben umgeben war.

Wieder zu Hause verschwand die Mutter in der Küche, um das eingekaufte Gemüse zu verstauen und ihnen ein leichtes Mittagessen zuzubereiten. Sven verzog sich ins Wohnzimmer, setzte sich in den braunen, vom Vater etwas abgewetzten Ohrensessel und probierte den neu, erstandenen Tabak, der ihm, wie versprochen, mit dem milden Aroma in seiner Lieblingspfeife sehr gut schmeckte. Der Nierentisch vor dem Sofa und die alles beherrschende, eichene Schrankwand auf der gegenüberliegenden Seite entsprachen zwar nicht seinem Geschmack, ließen aber alte Jugenderinnerungen aufkommen, die er jetzt ungestört überdenken konnte.

Je länger er überlegte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er nicht mehr hierher gehörte und seine Erfahrungen der letzten Zeit nicht zu diesem althergebrachten Umfeld passten. Ihn störten nicht nur die Möbel sondern auch die Denkweise der Bewohner. Selbst der enge Kontakt zur Mutter litt, weil sie mit der Verteidigungsrede für den Bruder ihre Verwurzelung in den festen Werten der Tradition bekundete, aber Svens in der Fremde geschultem Blick auf die Wirklichkeit nicht stand hielt. Ihm blieb ein Erholungsurlaub, den er als Abschied von der andersartigen Vergangenheit so angenehm wie möglich verbringen wollte.

Der Ruf aus Kanada

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