Читать книгу Religion und Mythologie der Germanen - Rudolf Simek - Страница 9
2. Odin sei bei uns! Junge Heiden und ihre alten Götter
ОглавлениеRecht verschieden von dieser stillen Manifestation des Glaubens an Fruchtbarkeitsgöttinnen am Niederrhein sind ganz andere Äußerungen eines scheinbaren Glaubens an heidnische germanische Götter. Denn wenn sich junge Menschen in Deutschland, Dänemark, Schweden oder anderswo einen kleineren silbernen Thorshammer um den Hals hängen, könnte dies auf den ersten Blick auch als nostalgische Erinnerung an den ehemaligen, germanischen Glauben verstanden werden, dessen fortdauernde Wirkung man sich entweder wünscht oder an ihn glaubt. Natürlich soll hier nicht jedem oder jeder, der oder die einen Thorshammer aus den Museumsläden der großen skandinavischen Museen als Schmuckstück um den Hals trägt, unterschoben werden, er oder sie würden sich damit automatisch zu einer Religion des Gottes Thor bekennen. Als dessen Symbol gilt allerdings der Thorshammer Mjöllnir seit den letzten Jahrhunderten des germanischen Heidentums – also spätestens seit dem 9. Jh. – immer noch, aber damit auch als Symbol einer Religion, welche seit 1000 oder 1200 Jahren tot und vom Christentum überholt ist. Viele benützen demnach den ursprünglich als heidnisches Zeichen des Gottes Thor dem christlichen Kreuz entgegengesetzten Thorshammer als Ausweis ihrer Zugehörigkeit zu Kreisen, die sich bewusst vom Christentum ab- und der Religion einer recht fernen Vergangenheit zuwenden.
Ein wesentlicher Unterschied zum stillen, fast heimlichen Glauben an die Matronen ist der aktuelle politische Hintergrund der „Asengläubigen“, also derjenigen, die an die Götter des altskandinavischen Pantheons glauben wollen. Es geht hier nicht (nur) um eine Religion, sondern auch um den Versuch, einer gesellschaftspolitischen Unzufriedenheit eine gewisse geistige Struktur zu geben. Derartige Missstimmungen werden in Veröffentlichungen von solchen „Neuheiden“ durchaus verbalisiert, so etwa in dem Buch Midgards Morgen des Neugermanen-Gläubigen H. W. Hammerbacher:
„Heute ist Wolfszeit wie damals. Untergang, Wirrsal, Gemeinheit, Falschheit, Hinterlist, Landraub, Wucherung der Großstädte wie Krebsgeschwüre, Aussaugen des Landes und Ausverkauf der Heimat wie eine Ware, der Bruder steht gegen den Bruder, Trümmer, Siechtum und Verrat sind weithin die Wahrzeichen der Zeit.“1
Es sind aber nicht (nur) die Ewiggestrigen, die ihre eigene Zeit so sehen oder sehen wollen, es sind vielfach auch die Unterprivilegierten, die kaum eine andere Wahl haben, als unsere Zeit so zu sehen. Ihnen geben Werke wie das genannte ein Sinnangebot oder, besser gesagt, den Traum an eine heile, andere Welt, den ihnen das Christentum oder andere zeitgenössische Ideologien nicht mehr geben zu können scheinen:
„Wir aber wollen, dass die reine Welt unserer Vorväter wieder erstehe, nicht durch die Rückkehr in die damalige Zeit, sondern geläutert durch die Erkenntnis unserer eigenen Schwächen, aber auch im Wissen um die unvergänglichen Quellen unserer Kraft.
Wir rufen alle Gutwilligen auf, die noch den göttlichen Grund in sich spüren, die das Erbe ihrer lebendigen Abstammung von Midgards Söhnen und Töchtern nicht verraten und verschwendet haben.
Wir rufen alle hoch gewachsenen, hellen, geraden Menschen mit reiner Seele und freiem Geist auf, in den Ländern, die uns stammverwandt sind. Midgard hört nicht auf und fängt nicht dort an, es umfasst alle Deutschen und germanischen Verwandten, ganz gleich, wo sie sich heute befinden. […] einig, einig, einig im Glauben, in der Gesinnung, in der Tat für Deutschland, für Midgards heiliges Reich, jetzt und immerdar! Midgards Morgen naht!“2
Dies dürften in der Tat optimistische Worte für jene sein, denen Deutschlands untilgbare Schuld an den Gräueln der Vergangenheit eine möglichst rasch zu vergessende Schmach ist, die an das anknüpfen wollen, was sie für die große Zeit des deutschen Volkes halten. Da dies in der jüngeren Geschichte ohne Geschichtsfälschung nicht gut möglich ist, machen sie einen großen Sprung zurück zu einer alten, vermeintlich noch unverdorbenen, unschuldigen Ideologie, nämlich dem archaischen und zweifellos primitiveren Heidentum der Germanen. Aber diese Einstellung allein reicht noch nicht als Erklärung für eine Zuwendung zu den heidnisch-germanischen Göttern aus, denn nicht alle rechtsradikalen Kreise verschreiben sich einer Wotansreligion, und nicht alle Asengläubige sind notwendigerweise rechtsradikal.
Selbstverständlich sind es nicht nur frustrierte deutsch-nationale Kreise, die sich der neuheidnischen Bewegung anschließen, denn sonst könnte man ihren Zulauf in Skandinavien oder den USA kaum erklären. Es sind eine ganze Reihe von nicht immer in Verbindung stehenden Gründen, warum und welche Menschen sich noch an der Wende vom 20. zum 21. Jh. einer neugermanischen Religion zuwenden. Dazu zählen Rassismus und Fremdenhass, die eine sog. „arteigene“ Religion als Antwort auf die internationalisierten Hochreligionen erscheinen lässt; auch zählt dazu die Unzufriedenheit mit einem besonders heute scheinbar „schwachen“, durch Massenaustritte geschwächten, von Skandalen geschüttelten und oft kaum mehr für die Gesellschaft repräsentativen Christentum; ferner gehören dazu Kulturpessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit wie in dem eingangs erwähnten Zitat, wie berechtigt er nun sein mag oder nicht; und letztlich gehört dazu auch – vielleicht überraschenderweise – ein ökologischer Fundamentalismus, der in der Kombination von „Blut und Boden“ das zweite Element favorisiert und in einer Vereinigung von völkischem, esoterischem und ökologischem Gedankengut mit der Rückkehr zu einer vorindustriellen, agrarischen Religion eine Lösung der umweltpolitischen Fragen anstrebt. Zu diesen Ursachen kommt noch der Druck eines politischen Systems am Ende der Periode der Sozialstaatlichkeit, das von vielen Jugendlichen in Form des überzogenen Bürokratismus und den einseitigen Kriterien einer nur mehr auf Leistung orientierten Gesellschaft ausschließlich als Zwangsjacke empfunden wird, ohne ihnen eine festen ökonomischen, geschweige denn ethischen Boden unter den Füßen zu verschaffen.3 Das Christentum als Staatsreligion in den mittel- und nordeuropäischen Staaten wird damit leicht zu einem verlängerten Arm der Staatsgewalt, wie viele Jugendliche schon in der Schule beobachten können. Mit der Abkehr vom Staat geht damit die Abkehr vom Christentum einher. Da nach dem Ende des real existierenden Sozialismus auch der politische Atheismus marxistischer Prägung seine Grundlagen weitgehend verloren hat, sind es häufig genug esoterische Bewegungen, die ein Sinnangebot vermitteln wollen, und die „Religion der alten Germanen“ ist nur eine aus einem breiten Spektrum von Pseudoreligionen, aber eine, die besonders an völkisch-nationale Kreise appelliert.
Glaubt heute tatsächlich jemand an Odin und Thor als Götter in ihrer numinosen Mächtigkeit? Dies ist zwar eine Frage, die angesichts der politischen Seite der Neugermanen-Gruppen als nebensächlich erscheinen mag, ist aber nicht unwesentlich, was eine etwaige potente religiöse Bindung der „Gläubigen“ an ihre Religion angeht, die für das längerfristige Überleben der neuheidnischen Gruppierungen relevant sein wird.
Der beste Kenner der Szene, der inzwischen verstorbene Friedrich-Wilhelm Haack, hat 1981 versucht, dieser Frage auf den Grund zu gehen:
„Für die alten Germanen waren ihre Götter ohne Zweifel richtige Götter. Donar meldete sich im Donnerhall ebenso persönlich und wollte persönlich beschwichtigt sein, wie Wotan, dessen wilde Jagd in Sturmnächten über das Land und die Wälder fegte.
Diese Götter waren nicht Symbol-Gestalten, Sinn-Gespenster ohne Fleisch, Blut und Wirklichkeit. Sie lebten, kämpften, zechten, und sie konnten dereinst in der Götterdämmerung sogar sterben. Für die Neugermanen-Gläubigen ist eine solche unmittelbare Göttergläubigkeit nicht möglich. Für sie bleiben eigentlich nur zwei Wege: Eine Art aufgelockerter Eingott-Glaube (‘Allvater’), bei dem die Götter nur Erscheinungswesen des einen Ur- und Zentral-Gottes sind, oder ein Glaube an eine ‘göttliche Kraft’, die in allem Leben vorhanden, am stärksten aber im Menschen selbst vorfindlich ist. (Pantheismus)
In den Schriften des Armanen-Ordens-Gründers Guido (von) List findet sich diese letztere Gottesvorstellung.“4
Sollte diese Einschätzung richtig sein, so besteht wohl kein Grund, auf religiösem Gebiet die Wiederkehr einer echten Odins- oder Thorsreligion zu befürchten. Selbst im Dritten Reich hat man sich von offizieller Seite ausgesprochen davor gescheut, eine Rückkehr zu einer Religion der heidnisch-germanischen Götter zu propagieren, sondern hat im Gegenteil ein „deutsches Christentum“ gefördert, auch wenn man seit Oktober 1933 einen Zusammenschluss einer ganzen Reihe von deutschgläubigen Gruppen als Religionsgemeinschaft duldete, vor allem deshalb, weil diese es nie über wenige 100.000 Mitglieder brachte. Nur ein geringer Prozentsatz davon gehörte allerdings zu den sog. „Nordischen“, also Asen-Gläubigen. Der Ausdruck deutschgläubig ist aber schon beträchtlich älter, stammt aus der Zeit vor der Jahrhundertwende und zwar vom österreichischen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), aus dessen Umfeld auch der später weithin verwendete Spruch stammte:
„Ohne Juda, ohne Rom, wird erbaut Germaniens Dom! Heil!“5
Aber selbst dieser Spruch ließ Raum sowohl für Deutsch-Christen als auch für die Asen-Gläubigen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg entstanden dann eine ganze Reihe von neuheidnischen Vereinigungen, darunter der neu gegründete Armanenorden mit seiner Zeitschrift Irminsul, die Gylfiliten mit ihrer Zeitschrift Odrörir, der Treuekreis Artglaube Irminsul oder der Godenorden. Aber selbst die Anhänger einer „harten“ Organisation wie der Ludendorffianer verwehren sich ausdrücklich dagegen, heidnische Götter anzubeten, sie seien „keine Wotansanbeter“.6
Eine kleine Gruppe aber, die eher nicht am äußersten rechten Rand der Szene angesiedelt ist, sucht dennoch die alte Religion wiederaufleben zu lassen:
„Wenn hier von Neuheiden gesprochen wird, so ist das ein wissenschaftlicher Begriff, der betont, dass es keine nachweisbare lebendige alteuropäisch-heidnische Tradition gibt. Praktizierende ‘Neuheiden’ lehnen diese Bezeichnung oft ab, da sie – wie z.B. die verschiedenen Schulen des international aktiven Wiccakults – darauf beharren, archaisches rituelles Erbe weiter zu pflegen. Als Neuheide wird ein spirituell orientierter Mensch bezeichnet, dessen Religiosität von alten Mythen und Göttern inspiriert wird. Heute glaubt nur eine Minderheit unter ihnen an die reale Existenz heidnischer Götter wie z.B. Wodan, Freyja oder Balder. Vielmehr werden diese als unzerstörbare seelische Archetypen gedeutet.“7
Hier zeichnet sich auch eine Entwicklung ab: Hat z.B. der Armanenorden anfangs unter dem Stichwort Wotanismus noch den Glauben an konkrete heidnische Götter propagiert, so wendet er sich neuerdings eher diffus-esoterischem Gedankengut zu.8
Insgesamt schätzte Haack die Zahl der Mitglieder all dieser Vereinigungen in der alten BRD auf immerhin 44000,9 dennoch ist heute in der Öffentlichkeit in Deutschland so gut wie keine Tendenz zu neugermanischem Heidentum zu spüren. Dagegen sind in Schweden und Dänemark unter Skinheads Manifestationen des Neuheidentums zu finden, hier allerdings als zwar öffentlichkeitswirksame, aber periphere Gruppierung, in Island sind die Asatrúarmenn („Angehörige des Asenglaubens“) sozial durchaus akzeptabel,10 und in den USA haben sich Anhänger einer „Odinic Religion“ in einer ganzen Reihe von hearths („Herden, Feuerstellen“) vereinigt.
So bleibt heute nur ein stilles und, wie ich meine, weitgehend ungefährliches Neuheidentum, das zu anderen esoterischen Sekten zu stellen ist und selbst innerhalb des Rechtsradikalismus keine politische Relevanz hat, sondern sich vielleicht auch hier nicht zu Hause fühlt; zu dieser Situation passt das Stimmungsbild in einem Zeitschriftenartikel von 1991:
„Die Gruppe bekennt sich in aller Stille zum Neuheidentum. Sie feiert hier ihre Wintersonnwendzeremonie. Das Feuer ist ein Lichtsignal für die Sonne, die nun allmählich die Erde mit längeren Tagen beglückt und in der Zeit der anschließenden Raunächte – so erzählen es alte Mythen – die tief im Erdboden schlummernden Samen erweckt. Gleichzeitig soll das flackernde Feuer die Sonne magisch anziehen und näher zu den Menschen bringen. Der Gruppenleiter opfert etwas Salbei, Johanniskraut und Brot. Die Gaben sollen den Dank an die Geistwesen der Natur ausdrücken, mit denen sich die Gruppe verbunden fühlt. So wie Tausende von Neuheidenzirkeln in aller Welt, versucht auch diese Gmeinschaft, das uralte, heute noch von vielen Ureinwohnernationen gepflegte Ritual der Wintersonnenwende neu zu beleben.“11
Wie auch dieses Beispiel zeigt, so haben selbst die religiösesten der Neuheiden äußerst wenig mit der eigentlichen germanischen Religion zu tun – und die Kenntnisse darüber sind meist mehr als bescheiden. Ein Wiederaufflackern der wikingerzeitlichen Religion Thors, Odins und Freyrs und damit eine Wiederbelebung der germanischen Mythologie ist also im Neuheidentum nicht zu sehen.