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ОглавлениеKaspar von der Zültz auf Wendisch-Wiesche war am Tag nach der Parade zeitig am Morgen von Berlin auf sein Gut heimgekehrt. Er brachte einen Herrn mit. Einen respektablen älteren Herrn mit goldener Uhrkette und leicht sächsischem Tonfall, der sich Krüger nannte. Mehr wusste er selbst nicht von ihm. Aber Przywow und Libochowitz und Rehfisch und wie all seine Berliner Agenten und Geldleute hiessen, hatten ihm geschworen, es sei ein seriöser Mann, ein entschlossener Käufer. Der Richtige für Wendisch-Wiesche. Wenn es gelang, ihm in letzter Stunde noch die Sandbüchse anzuhängen ... Mit dem Angeld liess sich wenigstens die verwünschte Geschichte wegen des Waldverkaufs aus der Welt schaffen — es war die letzte Rettung ... eigentlich nur noch ein Rettungsschimmer, aber Kaspar von der Zültz sprach unaufhörlich, nervös lachend, in seiner liebenswürdig-erregten Art, während er seinen Gast durch Höfe und Ställe des verwahrlosten Gutes führte: „Ich züchte hier ein Schwein!“ sagte er, als sie in den süsslich-scharfen Brodem der Saubucht traten, und machte rasch die Türe hinter sich zu, um die durch Ammoniakdünste zerfressene Decke möglich zu verdunkeln, „... ein Schwein ... ich möcht’ am liebsten immer den Hut abnehmen, wenn ich hier hereinkomm’ ... veredeltes Landschwein natürlich ... was tu’ ich mit Yorkshire — nicht wahr? ... Na ... hier haben wir nun den Kuhstall!“ Er wandte in der Zerstreutheit die erste Jungkuh rechts am Horn zur Seite, damit man nicht merkte, dass sie erst gestern verkalbt hatte „... Grossartige Absatzverhältnisse für die Milch ... Elf Pfennig zahlt die Dampfmolkerei! ... Magermilch kriegt man fast geschenkt zurück ... Hier ist’s eine Lust, Schweine zu mästen, bei den Kartoffeln ...“
Der Inspektor Wiegand, die rechte Hand seines Herrn, hatte schon dafür gesorgt, dass im Kartoffelkeller alles, was faul war, zu unterst lag. Oben sah man nur eine tadellose Sorte Magnum Bonum. Der stätige Hengst im Stall hatte seit dem Mittag vorher kein Wasser mehr bekommen. Er stand da wie ein Lamm. Kaspar von der Zültz pries die struppigen Ackergäule wie vorher seinen Breitenburger Schlag Kühe. Er donnerte bei den landwirtschaftlichen Maschinen, als der Besitzer eines Musterguts, der unerbittlich nach dem Rechten sieht: „Den Heuwender gerade rücken! ... Den Düngerstreuer mehr nach links! Der Exstirpator sieht wie ein Ferkel aus! ... Warum hat ihn niemand geputzt? So geht’s, wenn man einen Tag von zu Hause weg ist! ... Da sind die Sackschen Pflüge, Herr ... Herr ... Krüger ... Da die Walzen ... Da haben wir das Göpelwerk für das Wasser! Jedes Pony zieht es! ... Famos — was?“
Der Herr mit der goldenen Uhrkette nickte. Er war glatt rasiert und sah wie ein Landgeistlicher aus. Er sprach fast nichts. Offenbar, um sich nicht zu blamieren. Er verstand anscheinend blutwenig von alledem. Einmal öffnete er seine Brieftasche, um stumm etwas nachzusehen. In dicken Bündeln staken darin die Tausendmarkscheine. Kaspar von der Zültz tanzte es vor den Augen ... Ein Stossgebet: ‚Lieber Gott, steh mir bei!‘ Er hüstelte, lachte und begann wieder — zu verräterisch schimmerten die frischen Schnittflächen der Baumriesen des Parks, die er, um ein bisschen Geld ins Haus zu bekommen, hatte abholzen lassen: „Ja ... hier hat der Sturm bös gehaust! ... Es tut einem im Herzen weh ... Aber was soll man machen? ... Nu möcht’ ich Ihnen vorschlagen, Herr ... Herr Krüger, wir fahren mal draussen die Gutsgrenzen ab! ... Ein Boden ... rotkleefähig ist noch zu wenig! Und eine Jagd! ... Ich glaube, da draussen am Waldrand steht schon ein Rudel Wild ...“
„Ich sehe nichts!“ sagte der fremde Herr.
„Drei- und vierschnittige Wiesen ... jawohl: vierschnittig!“
„Nach der Karte steht das ja eigentlich alles meist unter Wasser!“ Der fremde Herr hatte auf einmal eine Generalstabskarte herausgezogen. Dem andern wurde es etwas schwül zumut. Er lachte jovial.
„Na ... jetzt im Frühjahr ... nach den Wolkenbrüchen ... Man muss auch nicht zu ängstlich sein, Herr ... Herr Krüger ...! Bitte ... betrachten Sie mal hier den Dampfdreschsatz!“
„Bezahlt?“
Wieder lachte Herr von der Zültz etwas gezwungen.
„Auf Abzahlung! Es steht ja noch ein Pöstchen ... Aber da ist der Wagen! Bitte steigen Sie ein! ... Prüfen Sie alles und dann entschliessen Sie sich am besten rasch! ... Sonst kommen Sie zu spät! ... Es sind eine Menge Bewerber da!“
Und hinter dem Rücken des Gastes raunte der Inspektor, würdigen Ernst auf dem roten Biedermeiergesicht: „Ich bin ein alter Praktikus ... Ich kann Ihnen nur raten: Steigen Sie in die Goldgrube ’rein, Herr ... Herr ...“
„Krüger ist mein Name!“ sagte der fremde Herr. „Ich bin königlich preussischer Amtsrat. Auch ein Praktikus. Ich suche auch nicht für mich, sondern für meinen künftigen Schwiegersohn! ... Na ... Ich will jetzt nach Berlin zurück! Hat mich sehr gefreut, Herr von der Zültz!“
„Wollen Sie nicht den Wagen ...?“
„Nee, danke! Ich geh’ das Stück bis zur Station.“ Der Domänenpächter blieb, auf seinen Stock gestützt, noch einmal stehen und nickte: „Ich bin nun bald vierzig Jahre Landwirt! Wollen Sie einen guten Rat von mir, Herr von der Zültz? ... So werden Sie das Ding nicht mehr los! Es gibt ja genug Dumme auf der Welt ... aber so dumm ...? Ich glaub’ nicht! ... Wünsch guten Morgen!“
Er stapfte bedächtig davon. Kaspar von der Zültz schaute ihm finster nach. Dann tauschten er und der Inspektor einen Blick. Beide sagten kein Wort, und der Herr auf Wendisch-Wiesche trat in sein Haus zurück.
Vom Flur aus sah er in dem grossen Eckzimmer seine Tochter Ilse mit ihrer Französin. Die Kleine sass zurückgelehnt, die Hände im Schoss, mit verdriesslichem Gesicht. Ein paar unordentliche dunkle Haarsträhnchen hingen ihr in die weisse Kinderstirne. Sie sagte halblaut und gottergeben einen Abschnitt aus der voyage de Télémaque auf. Weder sie, noch Mademoiselle Roger bemerkten den Hausherrn, der auf den Fussspitzen vorüberging. Er setzte sich in dem letzten Raum nach dem Garten zu auf ein Kanapee. Den nannte er sein Arbeitszimmer. Er hatte die Auswahl unter den vielen Gemächern. Im ganzen Hause waren ja nur er und das Ilschen und die törichte Französin. Er dachte sich: ‚Seit zehn Jahren ist meine Frau nun krank. Das ist’s ... das ist’s ...‘
Er zündete sich eine Zigarre an. Er sass ganz still — er, der sonst das Quecksilber selber war. Vor ihm stiegen blaue Wolken, kleine Ringe ... lösten sich ... sonderbar ... sonderbar war doch das Leben ...
In einem jähen Ruck schnellte er empor, öffnete das Geheimfach seines Schreibtisches, las wieder diesen verwünschten Brief, den Schluss: „... und kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Verkauf und die Bevorschussung des bereits anderweitig hypothekarisch verpfändeten Forsts gegen das Strafgesetzbuch verstösst. Wir ersuchen Euer Hochwohlgeboren, die Angelegenheit spätestens bis zum ersten Mai abends durch Rückzahlung des Vorschusses an unsere Firma zu regeln, und werden wir dann den Vertrag als annulliert betrachten. Andernfalls müssten wir zu unserm Bedauern der Staatsanwaltschaft ...“
Verflucht und zugenäht! ... Kaspar von der Zültz verschloss tiefsinnig den Brief. Er wunderte sich eigentlich immer noch! So viele Jahre war das nun gegangen! ... So viel Ruhe wie ein Seiltänzer! ... Schulden ... Schulden ... Ein Loch zu ... das andere auf ... mal auch ein gesegneter Abend im Klub in Berlin ... ein bisschen Luft ... man hielt sich doch über Wasser ... man gewöhnte sich daran ... Und nun auf einmal ... Man war doch immerhin ein anständiger Mensch! So hatte er das gar nicht gemeint, mit Rehfisch und Kompanie, Holzhandel und Güteragentur ... Die Bande war auch zu rigoros ...
Wenn man nun hier mäuschenstill sass ... ei was ... leg nur die Löffel an und duck dich! ... Sie schiessen dich doch wie ’nen Hasen im Lager! ... Sie kommen ... sie kommen ... heute noch ...
Kaspar von der Zültz stand wieder auf, goss sich Kognak ein und stürzte ihn herunter. Der Wandspiegel drüben warf ihm sein Bild zurück: Ein schmächtig-schlanker, schöner Mann in der ersten Hälfte der vierzig. Haar und Bart tief dunkel wie drüben bei dem Ilschen. In den Augen ... komisch: seinen Augen traute man nie! ... Nun noch, mit der infam-elenden Gesichtsfarbe. Wie ein ausgenommener Hering ...
Er war sonst ein Kind des Tages und der Welt. Und jetzt diese ungewohnte Stimmung. Über sein Leben hinaus. In das Leben rückwärts mit den Gedanken: Die Jugendzeit ... Lieber Gott, was hatte so ein Leutnant viel Sorgen? Gar, wenn einen nun noch der Erbprinz Freund nannte ... Flügeladjutant an dem kleinen Hof ... Kammerherr ... schöne Tage ...
Musste denn nun ausgerechnet der Erbprinz sterben? ... Wieder in die Front zurück? Kaspar von der Zültz zupfte sich an seiner Krawatte. Er redete sich selbst gut zu: Meine Frau hatte doch ein bisschen was, wie wir uns heirateten! Es war ganz vernünftig, dass ich mich angekauft hab’! ... Vielleicht zu gross ... aber wer kann das wissen? ... Man will doch mal sein eigner Herr sein ... Wenn meine Frau gesund geblieben wäre ...
Er fing beinahe an zu weinen. Er schlug die Knöchel der Finger aneinander. Sein schönes Abenteurergesicht war schmerzlich verzerrt: Die Frau für immer im Sanatorium. Selten mehr bei sich. Und ich nicht Witwer und nicht Ehemann, das Wurm, die Ilse, auf dem Hals — mit meiner Gabe, zu bummeln ... Kein Wunder ... Und was die Krankheit kostete ... Zwei Jahre war er nun bei der Anstalt im Rückstand gewesen ... Der leitende Arzt war ja ein anständiger Kerl, mit einer Engelsgeduld ... aber schliesslich hatte er doch gedroht, er müsse die Kranke nun zurückschicken ... ja ... wohin denn dann mit ihr ... um Gottes willen ... wohin? So war damals das Geschäft mit Rehfisch zustande gekommen ... Er war so überzeugt gewesen, noch irgendwie Deckung zu finden. Ein Vierteljahr war lang. Aber gestern war der erste Mai ...
Komisch, dass es einen gerade an den paar guten Eigenschaften packte, die man noch an sich hatte ... sonderbar ... das Leben: Wenn man’s jetzt überschaute, war’s, als hätt’ es so sein müssen. Man lief blindlings drauf zu ... ratsch in die Falle ... Wer das alles so leitete ... Herrgott, andere Menschen waren doch auch leichtsinnig ... Freilich sollte der Mensch nicht spielen ... Aber er tut’s doch nu mal ... er tut’s ...
Kaspar von der Zültz stand nachdenklich, die Hände in den Hosentaschen. Jetzt nur kalt Blut, sagte der Fuchs beim Kesseltreiben. Noch war nichts geschehen. Vor allem musste man hier ’raus, aus dem Haus. Den ganzen Tag über. Sonst kamen sie einem über den Hals. Und dann noch einmal zu den Nachbarn. Es war der letzte Versuch. Vielleicht half doch einer im Lande. Dumm nur: die Geschichte hatte sich schon ’rumgesprochen! ... Einerlei ... Nur jetzt keine falsche Scheu ...
„Anspannen, Johann!“ schrie er in den Hof. Dann ging er hinüber in das Eckzimmer. Da sass Ilse immer noch mit der Mademoiselle. Er fuhr der Kleinen mit der Hand über den seidendunklen Backfischscheitel.
„Na, min Döchting — willste mit? Ich fahr’ aus!“
„Ja, Papa!“
Ilse schnellte stürmisch empor. Der Télémaque bekam einen Schubs, dass er bis zum Tischrand glitt. Sie hatte das Temperament ihres Vaters. Die Französin sagte vorwurfsvoll: „Monsieur nimmt Ilse in letzter Zeit fortwährend mit!“
„Na ja ... wenn’s uns doch Spass macht! ... Was, Mausi?“
Der Hausherr lachte, immer das Unstete im Blick. Er sprach das fliessende Französisch des ehemaligen Hofmanns.
„Aber sie bleibt im Lernen zurück, Monsieur! ... Sie erkältet sich auch noch einmal bei dem Wind und Wetter. Ich übernehme keine Verantwortung!“
Kaspar von der Zültz wurde plötzlich wieder ernst. Bleich. Fünf Jahre älter.
„Nichts zu machen, Mademoiselle Roger! Es gibt Zeiten ... ich kann jetzt nicht allein sein ... Verstehen Sie ... ich muss immer jemanden um mich haben ... Hab’ aber niemanden ausser meiner Maus da ... Also man los! ... Pell dich gut ein, Ilse! ... So! ... ’s kann Abend werden, bis ich zurückkomm’! ... Wer unter Tags nach mir frägt, wird abgewimmelt! Nach Rhinow, Johann!“
Der Wagen rollte lautlos auf weichem Weg durch die weite, ebene Mark. Goldenes Sonnengeglitzer auf tiefblauen Seen, schwarzgrünes Luch und Bruch und lichtgrüne Saat und Föhrendunkel auf weissem Sand, Windmühlenflug auf niederem Hügel, braune Sturzäcker mit Reihen pflügender Gespanne, die Ziegelei da hinten, die Kirchtürme am Horizont ... es war alles wie sonst und schien, als könne es sich nie ändern, und als sei kein Berlin auf der Welt, und über Kaspar von der Zültz kam allmählich etwas von dem Frieden frischer Luft und würziger Scholle. Er sass gefasst, in seinen Mantel gewickelt, und rauchte, bis der Kutscher vor einem altmodischen, niederen, still in einen uralten Park gebetteten Gutshaus hielt. Ein junger Leutnant in blauem Attila trat zufällig auf die Freitreppe hinaus. Er erwiderte die Vorstellung des andern.
„Von Sillein! Jawohl! Mein Onkel ist daheim!“
Über der Türe zum Arbeitszimmer stand der Bibelspruch: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ Der alte, schlichte Herr von Zotzen-Rhinow war gerade in eine Besprechung mit Förster und Inspektor vertieft. Drei ernste, sonnengebräunte Köpfe staken da beisammen. Nun schickte er die beiden Angestellten weg, setzte sich Kaspar von der Zültz gegenüber und sagte, nachdem der mit seinem nervösen Hüsteln und Lachen kurze Zeit geredet, in seiner einfachen Art: „Wie viel oder wie wenig Sie auch brauchen mögen — ich hab’ es nicht! Ich bin kein reicher Mann. Ich bewirtschafte mein Rhinow und bin froh, wenn ich es meinem Sohn so hinterlassen kann, wie ich es von meinem Vater ererbt hab’! Mehr schaut heutzutage da nicht heraus!“
„Ich dachte auch nur, wenigstens eine Unterschrift zum Gutsagen!“
„Da sei Gott vor! Ich werde mich hüten und dem Teufel den kleinen Finger geben!“
„Nun denn ... adieu!“
Der stille Christ begleitete seinen Besucher bis zum Tor. Unterwegs sagte er, und der andere merkte, dass jener schon etwas von der Holzgeschichte wusste: „Beten Sie, Herr von der Zültz. Es liegt Kraft im Gebet!“
Die kleine Ilse wartete im Wagen. Sie sass stillvergnügt und liess sich von der Sonne bescheinen, froh, die Lerchen zu hören, statt der Vokabeln der Mademoiselle Roger. Als sie wieder mit ihrem Vater durch den weiten Rhinower Forst fuhr, frug der plötzlich mit erstickter Stimme: „Kind, kannst du das Vaterunser?“
„Natürlich, Papa!“
„Bitte ... bet es einmal!“
Die Kleine war verwundert. Aber sie faltete die mageren Kinderfinger und fing an: „Unser Vater, der du bist im Himmel ...“ Und Kaspar von der Zültz krampfte die Hände ineinander und schaute vor sich nieder und bewegte kaum die Lippen, bis es in dem Frühlingswind verklang: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit! Amen!“ Eine wilde Angst zog ihm das Herz zusammen. Nein. Umsonst. Da rührte sich nichts Rechtes. Da war kein Glaube. Keine Hoffnung. So rasch holte man das in zwölfter Stunde nicht nach ...
„Zültz!“ schrie eine heisere Stimme vom Grabenrand. „Zültz! ... ’Morjen, oller Schwede! ... ’Morjen, Ilseken! ... Na — wo führt Sie denn der Deibel her?“
Ein kleiner runder Herr stand da, im Jagdanzug, die Flinte in der Hand, das Hütchen über dem krebsroten Kopf bis in den Stiernacken zurückgeschoben, einen Zwicker auf der scharfgebogenen Nase, unter der ein Schnurrbärtchen kriegerisch starrte. Die wasserblauen Äugelchen blickten schlau in die Welt. Der Gurt der Joppe wölbte sich über dem spitzen Bäuchlein. Trotzdem sprang der Fünfziger gelenkig über den Graben und trat an den Wagen heran.
„Guten Morgen, Leggien! Ich wollte eben zu Ihnen nach Bernöwel.“
„So? Schön! Hohe Ehre! Da fahr’ ich mit!“ Er stieg ein. „Bleib sitzen! ... bleib sitzen, Ilseken! Oder soll ich Sie zu dir sagen, mein Kind ...? Na ... wie du willst!“ Er nahm neben von der Zültz Platz. „Krähen hab’ ich geschossen! Die Biester gehen mir an meine Fasaneneier! Da versteh’ ich keinen Spass ... Na ... Wie steht’s bei Ihnen? Was macht das Futter? Gut? Ja ... aber wissen Sie: ich schimpf’ doch! Ich schimpfe immer! Auf alle Fälle! Schliesslich zahlt der Landwirt ja doch die Zeche!“
„Na ... Sie gewiss am wenigsten!“
Der kleine dicke Junker lachte. Man war jetzt schon auf seinem Grund und Boden. Dort hinten lag Bernöwel. Das war kein altfränkischer Herrensitz wie bei den Zotzens. Das erinnerte an eine Fabrik, mit dem hohen Turm der Brennerei, den Schornsteinen der Dampfmolkerei, den linienweise wie blaugestrichene Batterien aufgefahrenen landwirtschaftlichen Maschinen, den Wellblechschuppen für die Sachsengänger, den endlosen Reihen von Schweineställen, der kleinen Feldbahn in die Torfmoore hinaus — an eine Fabrik kaufmännischer Grossindustrie zur Erzeugung von Branntwein, Schinken, Butter und Mehl, mit dem Hauptbuch im Kontor.
„Ein toller Betrieb — was?“ sagte der von Leggien stolz. Um sie herum waren bunte Kopftücher, fremdartige Gesichter, slawische Laute. Ungarn. Galizier. Russen.
„Ja ... nu geht die Kampagne los! Anno Tobak war’s gemütlicher! Aber jetzt muss sich der Mensch wehren — gegen Berlin! ... Wissen Sie: Ich mag trotz alledem die Berliner gern! ... Sie haben so was Naives!“
„Da sind Sie auch der erste Mensch, der das ...“
„Doch! Doch! ... Sehen Sie mal: die Berliner halten jeden, der Kartoffeln baut, für dumm! ‚Jotte doch! So ’n Ajrarier!‘ Da zuckt schon der Jüngling an der Heringstonne mitleidig die Achseln. Ein Segen fürs Geschäft! ... Ich kann ein Gesicht machen, töricht wie ein Waisenknabe, wenn es sein muss! Ich reiss’ die Leutchen nicht aus ihren Illusionen!“
„Ja. Sie ...“
„Wollen Sie mit mir frühstücken, Zültz? Ich seh’s der kleinen Gnädigen an: sie hat Hunger! Ich hab’ einen Bordeaux — noch ehrenfeste Bremer Ware, nicht das moderne Gesöff! ... Tröstet einen bei den schlechten Zeiten! ... Das Geld ist knapp! Ich bin froh, dass ich bei meiner Bank Kredit habe! Aber wie so ’n brauner Lappen in Natura ausschaut, das weiss ich kaum mehr! Nee — Spass beiseite ... wahrhaftig, Verehrtester!“
Dabei zwinkerte er den andern treuherzig aus seinen kleinen wässerigen Augen an. Das war deutlich genug. Es hiess: ‚Gib dir keine Mühe! Ich weiss schon alles! Aber hier jibt’s nischt! ... Keinen polnischen Groschen!‘ Kaspar von der Zültz begriff das. Er stieg entschlossen wieder in den Wagen. Der Bernöweler heuchelte Erstaunen.
„Und ich dachte, Sie hätten mir was zu sagen?“
„Ach nee — lieber nich!“
„Na, denn: ’Morjen!“
„’Morjen!“
Als sie ausser Sicht der grossen Spiritus- und Schinkenfabrik waren, sagte Ilse kläglich: „Papa! Ich hab’ aber wirklich Hunger!“
Ihr Vater fuhr aus seinen Gedanken auf und strch sich über die Stirne, auf der trotz des lauen Maiwindes kalte Schweisstropfen perlten.
„Ja, ja!“ sagte er. „Die Gäule müssen ja auch verschnaufen!“
Sie frühstückten unter alten Linden vor einem Dorfkrug. Ilse fütterte die Hühner und streute Krümel für die Spatzen und ahmte als sachkundiges Landkind das gereizte: ‚Kauder! Kauder!‘ des grossen Truthahns nach, bis dem vor Zorn der ganze Hals blaurot schwoll. Ihr Vater sah sie, den Kopf auf die Hand gestützt, gramvoll von der Seite an, wie sie, seelenvergnügt kauend, in ihrem weissen Kleidchen dasass, auf dem durch das noch halbkahle Lindengeäst hindurch die goldenen Sonnenkringel tanzten, das zarte, schmale Kindergesicht mit den dunklen Augen von dem grossen Strohhut überschattet. Dann fuhren sie weiter. Auf Rosenrade zu. Das war kein schlichter Edelsitz wie die andern. Das war ein Schloss, neuerbaut, mit ragenden Türmen, inmitten eines englischen Parks. Hier kam es aufs Geld nicht an. Die Herrin des Hauses stammte aus Hamburg und hatte die drei wilden Schwäne im Wappen derer von Machwitz neu vergoldet. Ihr Gatte war reicher, als es seine Vorfahren hier in sechshundert Jahren je gewesen. Er war ein blonder, eleganter Mann mit einem langen Heidelberger Durchzieher über die linke Backe, Dr. juris, Kammerherr, mit seiner Frau mehr in seiner Stadtwohnung in Berlin, bei Hof und in der Hofgesellschaft zu Hause als hier draussen. Zu ihm kam man nicht so leicht wie zu den andern. Ein Haushofmeister meldete an, ein Lakai verschwand mit der Karte, ein zweiter führte den Besucher geräuschlos in das Arbeitskabinett.
„Bitte, nehmen Sie Platz! Womit kann ich dienen, Herr von der Zültz?“
Es klang äusserst kühl. Zurückhaltend bis zur Möglichkeit. In seiner gesellschaftlichen Stellung vermied der Kammerherr von Machwitz auf Rosenrade alles, was nicht ganz zweifelsohne war, so ängstlich wie mit Lackschuhen eine Pfütze am Wege. Der andere fühlte das. Er sagte sich: ‚Was fahr’ ich eigentlich bei all den Leuten herum? Es hilft ja nichts! Ich bin ja im Kreise bekannt wie ’n bunter Hund!‘ Aber er war nun einmal da. Er lachte und hüstelte und fing zu reden an. Nicht lange. Dann machte Herr von Machwitz eine Handbewegung.
„Ersparen wir uns das weitere, Herr von der Zültz! Ich bin leider ganz ausserstande ...“
„Ja, aber lassen Sie mich nur ...“
„... völlig ausserstande, mich mit Ihren Angelegenheiten zu befassen! Diese Berliner Geschäfte sind nicht nach meinem Geschmack ... bitte, verargen Sie mir meine Offenheit nicht!“
„O bitte sehr!“
Der Kammerherr begleitete mit der Höflichkeit, die ihn nie verliess, seinen Gast bis an die Schwelle des Schlosses. Er begrüsste auch Ilse, die im Wagen aufstand und knickste, mit einer Verbeugung, als sei sie schon eine Dame. Das schmeichelte der Kleinen. Sie war vor Verlegenheit rot geworden. Wieder trotteten die Gäule dahin. Sie liessen die Köpfe hängen. Es ging im Schritt. Die Räder mahlten in weichem Sand. Kaspar von der Zültz schrak empor: „Wo sind wir denn zum Kuckuck?“
„Bei Görtzke, gnädiger Herr!“
Der Kutscher deutete mit der Peitsche nach dem kaum hundert Schritt entfernten Gutshof hinüber. An den grenzte ein See. Ein grauköpfiger, grossgewachsener, hagerer Herr ging da still spazieren, der verwitwete Generalleutnant von Stobberow, dessen beide Söhne 1870 an einem Tag gefallen waren. Es hatte keinen Zweck, den einsamen, weltabgeschiedenen Mann erst aufzusuchen. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit der Rettung. Kaspar von der Zültz rang mit sich, fuhr sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen, als würgte ihn da etwas, und stiess endlich heiser hervor: „Nach Sommerwerk! Zu Exzellenz von Bornim!“
Die Sonne stand tief am Horizont. Die Schatten der Bäume wurden lang. Wilde Enten strichen schweren Flügelschlags über den See zur Linken. Wanderstare schwatzten schlaftrunken zu Tausenden im Schilf. Fledermäuse huschten. Kaspar von der Zültz sagte plötzlich: „Ja, damals, wie die gute Mama noch gesund war, Ilse — das war ein Leben ...“
Und dann, weich: „Da hab’ ich nicht so auf den Landstrassen herumgelegen. Da war ich daheim. Ich hab’ sie sehr lieb gehabt, Kind!“
Und endlich: „Ich hab’ sie auch jetzt noch lieb! ... Dich auch, Ilse!“
Seine Augen waren feucht. Die Kleine bemerkte es im Dämmern nicht. Sie war müde. Drüben blitzten Lichter. Das war das mächtige Herrenhaus von Sommerwerk, dem grössten Dominium rings im Lande. Man unterschied nur noch undeutlich die hohen Giebel und die weiten Dächer der Stallungen und Speicher dahinter. Kaspar von der Zültzs Herz pochte. Er dünkte sich sonst in seiner selbstbewussten, lässigen Art jedem überlegen. Aber vor dem alten Bornim hatte er einen Heidenrespekt, wie alle Welt. Er war förmlich froh, als er gebeten wurde, einen Augenblick im Salon zu verziehen. Exzellenz seien noch über Land, würden aber bald kommen.
In der Tat fuhr gleich darauf ein hochräderiger Break vor, in dem Wilke von Bornim und zwei andere alte Herren sassen. Sie nahmen vor dem Hause voneinander Abschied. Von der Zültz hörte durch die offenen Fenster, wie der eine raunte: „Überhaupt — was macht Minnigerode jetzt in Berlin? Die Wahlen sind doch erst im Herbst!“
Darauf ein gedämpftes: „Kommen Sie diesen Sommer mal nach Varzin, Bornim?“
Ein Nicken.
„Also dann sagen Sie ihm, dass wir ...“
Das weitere erstarb in einem Gemurmel. Der Schatten Bismarcks lag einen Augenblick über den drei Junkern. Dann zogen die Pferde an. Die beiden andern fuhren weiter. Wie zwei alte Geier sassen sie mit ihren scharfen, verwitterten Köpfen, in ihre Mäntel gewickelt, oben auf dem Wagen, und Wilke von Bornim trat in sein Haus.
Diese unheimlichen, leuchtenden blauen Augen! In denen lag so etwas von selbstlosem Fanatismus ... rücksichtslosem Einsetzen der eigenen Persönlichkeit ... ein: ‚Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!‘ ... Es war Kaspar von der Zültz gar nicht wohl zumut unter dem Blick des alten Herrn. Sie sassen einander gegenüber. Er konnte keine Umschweife mehr machen. Er war ganz matt und kaputt. Er brach nach wenigen Sätzen los: „... und kurz und gut: Wenn ich nicht heute noch Zwanzigtausend Mark auftreib’, so werde ich einfach verhaftet ... vielleicht schon diese Nacht ...“
In dem hundertfach gefurchten Antlitz des alten Bornim regte sich nichts. Die Lampe beschien hell sein aufrechtstehendes, weisses Haar, den kampflustig gesträubten, schlohweissen Schnurrbart. Er rauchte. Er sprach kein Wort. Der andere sprang auf. Er lachte heiser.
„Herrgott — das ist ja grässlich, Exzellenz! ... Reden Sie doch wenigstens irgend einen Ton!“
„Ich weiss nichts, Herr von der Zültz!“
„Aber, was soll ich denn machen?“
Wieder keine Antwort.
„Ich soll mich totschiessen — meinen Sie? ... He?“
Schweigen.
Der Wendisch-Wiescher rang die Hände. Er flehte beinahe. Die Stimme überschlug sich ihm.
„Exzellenz ... Sie sind doch hier im Kreis sozusagen unser mahnendes Gewissen ... unser Vorkämpfer ... unser Vorbild ... Alles schaut mit Verehrung zu Ihnen auf ... Sie haben die höchsten Würden erreicht ... Sie kennen das Leben wie keiner ... Herrgott ... Sie sind doch ein Christ ...“
Das wirkte. Exzellenz von Bornim hob das Haupt.
„Ich bin ein alter Mann!“ sagte er. „Und das Leben hat mich gelehrt, dass man alle Leute retten kann, nur die Spieler nicht! ... Sie sind ein Spieler. Waren’s immer. Mein zweiter, der Lüdecke, der Kavallerist, jeut auch und wird einmal daran um die Ecke gehen. Das weiss ich jetzt schon ... Und was Sie betrifft: Sie wären in einem Jahr wieder gerade so weit wie jetzt, Herr von der Zültz, und das Geld wäre ins Wasser geworfen.“
„Und da soll ich nun so einfach, mir nichts, dir nichts, verloren sein — was? Keiner streckt die Hand aus, um mir zu helfen?“
„Seien Sie nicht ungerecht!“ sprach der alte Herr ernst. „Sie wissen genau: Es hat Ihnen jeder hier schon einmal geholfen. Ich selbst schon dreimal. Und es war immer umsonst. Und diesmal ist die Geschichte einfach schmuddelig ...“
Das Feuer in seinen blauen Augen verstärkte sich. Er stand auf und stampfte mit dem Fuss.
„Eine verfluchte Schmuddelei ist es, Herr von der Zültz! Das mit dem Holzverkauf. Das wollen wir doch einmal offen aussprechen. Da geh’ ich nicht mit. Das können Sie nicht verlangen. Es tut mir weh genug, dass so was möglich ist! Was soll ich denn im Reichstag sagen, wenn man mir solche faulen Sachen meiner Standesgenossen unter die Nase hält? ... Das Maul muss ich halten, wie ein dummer Junge! Ich schufte für uns alle, und Sie machen mir hier meine Arbeit zunichte! ... Wenn wir die Ersten im Lande Preussen sein wollen, Herr von der Zültz, dann müssen wir ’ne weisse Weste anhaben, so weiss, wie sie gerade von der Plättfrau kommt! Auch nicht ein Stäubchen drauf! ... Nee ... Nee ... da hab’ ich kein Mitleid mehr ... nee ... nee ... tut mir leid ...“
Der alte Herr ging ein paarmal stürmisch durch das Zimmer. Dann blieb er stehen.
„Wenn Ihnen mit dem Geld nach Amerika gedient ist, das können Sie haben! Auf der Stelle!“
„Herr von Bornim ...“
„Sie brauchen gar nicht aufzubrausen! Was faul ist, fällt vom Stamm. Mehr kann ich nicht tun. Soll ich das Geld holen?“
Kaspar von der Zültz fing an, nervös zu schluchzen. Er überragte die kleine Exzellenz vor ihm um zwei Haupteslängen. Aber er stand vor ihm wie vor einem Richter. Der alte Bornim sah ihn mit unverhohlenem Widerwillen an. Ein weinender Mann ... Pfui ... Plötzlich stiess der andere einen unartikulierten Ton aus, stürzte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, lief durch den Flur, sprang in den Wagen ... Wilke von Bornim sah im Dunkel des Hofs die beiden Laternen sich bewegen, die Pferde anziehen ... Wer lehnte denn da noch neben dem Unglücksmenschen auf dem Rücksitz? ... Ein halbwüchsiges Mädchen, den Kopf schlaftrunken vornübergesunken, friedlich schlummernd ... Ach so ... die kleine Ilse ... seine Tochter ...
Das Antlitz des alten von Bornim wurde noch ernster. Er ging hinüber in seinen grossen Arbeitsraum. Dort sah es nicht so aus wie sonst bei den Landjunkern. Wohl fehlten auch hier die Schriftstücke der Gutsverwaltung nicht, Holz- und Korn- und Lohntabellen, Abrechnungen mit der Dampfmolkerei, Spiritus- und Steuerkorrespondenzen, Briefe an das Kirchenpatronat und den selbständigen Gutsbezirk Sommerwerk, aber sie verschwanden neben den Aktenstössen, die den mächtigen Schreibtisch, die Stühle, den Fussboden bedeckten, die Regale an den Wänden füllten: die Drucksachen des Reichstags und des Herrenhauses, die Verhandlungen des Provinziallandtags und des Kreisausschusses, der General- und der Provinzialsynode, des Kriegervereins und des Johanniterordens, des patriotischen Wahlvereins und der Brandschätzungskommission, Schreiben von Parteifreunden aus nah und fern, Zeitungsnummern mit blau angestrichenen politischen Artikeln, Zuschriften aus den Ministerien ... Aus diesem niederen, von Tabakrauch durchzogenen, mit Rehgehörnen geschmückten Raum, von diesem unscheinbaren kleinen Herrn, der in ihm sass, strömte ein zäher, unbändiger Wille zur Macht hinaus über das Land, über Preussen und das Reich.
Über dem Schreibtisch hing ein Kruzifix. Auf das richtete der alte Bornim die Augen. Er sann. War das nicht eine Unterlassungssünde? Der, den er eben in die Nacht und in sein Schicksal hinausgesandt, der besass eine kranke Frau, ein unmündiges Kind. Die durften nicht für ihn leiden. Denen musste man beispringen. Das war Christenpflicht.
Diese Sorge begleitete ihn zum Abendessen, das er allein mit seiner Frau einnahm. Die drei Töchter waren für den Abend zu den Zotzens nach Rhinow geladen, wo sich durch einen merkwürdigen Zufall auch der Neffe dieses Hauses, der Husarenleutnant von Sillein, seit Wochen aufhielt. Die beiden alten Leute, die in einer lächerlich glücklichen Ehe lebten, sassen bei Tee und kalter Küche und taten, was sie zum Zeitvertreib immer bei der Lampe taten — sie stritten sich über Gott und die Welt, diesmal über das Datum ihrer Ankunft in Innsbruck auf ihrer Hochzeitsreise vor dreissig Jahren, bis Herr von Bornim scheinbar böse wurde und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug: „Hoho ... Malwinchen! Da muss ich aber doch sehr bitten ...“
Und ebenso entrüstet sie, die rundliche Exzellenz: „Wilkchen ... du bist manchmal wirklich komisch ...“
Gleich darauf taten sie, als sei gar nichts geschehen, und Philipp, der greise Diener hinten am Büfett, verzog keine Miene. Er kannte das seit einem Vierteljahrhundert. Als er hinausgegangen, schob Wilke von Bornim seinen Teller zurück und sagte plötzlich: „Weisst du, Malwinchen: ich hab’ wirklich allen Grund, unserm Herrgott dankbar zu sein. Er hat mich gnädig geführt!“
„Du verdienst es auch, Wilkchen!“
„Die Eitelkeit der Welt mein’ ich nicht! Ob ich abends meine Orden wegschliess’, oder meine Hosenträger abknöpf’, das ist mir egal. Aber, dass ich dich bekommen und behalten hab’ und die Meinen und mein Haus und Dach ... Ich weiss einen, Mallichen, der muss morgen von Haus und Hof, und seine Frau ist unheilbar krank, und was aus seinem Kind wird, weiss keiner ...“
„Hilf ihm, Wilkchen!“
„Nicht wahr, Mutter?“ sagte der alte Herr. „Ich muss doch!“
Er fand diese Nacht keinen Schlaf. In ihm klang das Wort der Schrift: ‚Was du tust, das tue bald!‘ ... Was konnte jetzt, zwischen Eulenruf und Hahnenschrei, alles drüben in Wendisch-Wiesche passieren? Ein Mensch wie der Zültz, der gleich toll aufflackerte wie ’ne Strohmiete im Blitzschlag! ... der unsinnige Abenteurer! ... Exzellenz von Bornim stand auf. Ging unruhig auf und nieder. Um halb vier Uhr morgens weckte er selbst den Kutscher und liess anspannen.
Es war noch dunkel draussen, als er nach Wendisch-Wiesche fuhr. Morgenkühle. Totenstille. Kaum hörbar das Janken der Bauernköter in der Ferne. Sanftes Unkenklagen und breites Fröscheknarren aus dem Bruch. Dann erhellte sich allmählich die Welt. Weisse Schwaden wallten über der Erde, hingen im Parkgeäst von Wendisch-Wiesche. In tiefem Schlaf, mit geschlossenen Fensterläden lag unter ihnen, undeutlich in dem zähen fliessenden Grau, das Herrenhaus.
Wilke von Bornim stieg aus und klingelte. Klingelte wieder. Lange und durchdringend. Ein schlaftrunkener Diener schlürfte endlich auf Pantoffeln durch den Flur, machte das Haustor auf, erkannte die Exzellenz, liess ihn erstaunt, mit tiefem Bückling, eintreten. Im selben Augenblick öffnete sich im Oberstock ein Fenster und wurde sofort wieder klirrend zugeworfen ... kurze Stille ... dann, deutlich vernehmbar, ein Schlag ... oder Fall ... oder Schuss ...
Und zugleich fuhr es dem alten Bornim durch den Kopf: ‚Um Himmels willen ... er hat den Wagen gesehen ... das Läuten gehört ... er hat geglaubt, das Gericht kommt, ihn zu holen‘ ... Er stürzte hinter dem Diener die Treppe hinauf. Oben roch er in der Luft, ganz leise, ganz fein, einen Pulverdampf, wie bei der Jagd ... Die Türe zum Schlafzimmer war unverriegelt ... sie flog auf ...
Da lag der Zültzer auf dem Bett. Im Nachthemd. Ein blosses Bein am Boden. Daneben ein schwach dünstender Revolver. Er hatte die Augen geschlossen. Blut träufelte aus Mund und Nase auf das weisse Kissen. Wohin er sich in den Kopf geschossen, war nicht zu erkennen. Er röchelte. Er lebte noch ...
Der alte Bornim war 1870 als Johanniter mitgewesen. Hatte Lazarette unter sich gehabt. Wusste Bescheid: Hier war keine Zeit zu verlieren. Zum Arzt! So rasch wie möglich! Jetzt war er noch daheim. Die Kreisstadt nur eine Viertelstunde raschen Trabs entfernt. Zum Glück hatte der Diener die Ackerknechtskräfte seines früheren Berufs. Er trug fast allein den Bewusstlosen, in eine Decke gewickelt, hinab in den Wagen. Exzellenz von Bornim half ihm, so gut er konnte, und setzte sich auf den Vordersitz. Gegenüber der Diener, im Schoss den wunden Mann. Vorwärts! ... Niemand sonst im Hause hatte etwas gemerkt. Es schien einem selber wie ein böser Traum vor Tag und Thau ...
Als Wilke von Bornim nach einer guten Stunde allein wieder vor dem Herrenhaus von Wendisch-Wiesche hielt, lachte goldener Sonnenschein und zwitscherten die Vögel. Innen hantierten ahnungslose Mägde. Schwatzten. Trällerten vor sich hin. Machten grosse Augen beim Anblick des alten Herrn. Der hatte seine Pflicht getan: den Verwundeten, der immer noch atmete, dem Arzt und Krankenhaus übergeben. Nun befahl er: „Wecken Sie mal gleich das Fräulein Ilse. Sie möchte so gut sein und sofort aufstehen und herkommen! Und ihre Mademoiselle auch!“ Und als die Französin hinter ihrer verschlossenen Türe etwas von: „Mon Dieu!“ piepste, wurde er ärgerlich auf das unnütze Frauenzimmer.
„Keine Sperenzchen, zum Kuckuck! Sonst fahr’ ich ohne die dumme Trine ab ... Oh ... da sind Sie ja, Ilschen!“ Seine Stimme war sofort freundlich, väterlich, gütig. Er nahm die Hand des Kindes, das verwundert, aber ganz vergnügt und mit klaren Augen vor ihm stand, in seine runzlige Rechte. „Papa lässt Sie grüssen! Er hat plötzlich nach Berlin müssen und mich gebeten, Sie wieder für ein paar Tage zu uns nach Sommerwerk zu nehmen. Möchten Sie?“
„O fein!“ sagte die Kleine erfreut. Das war ihr nichts Neues. Sie war ja erst vorgestern mit den Bornims zusammen gewesen. Sie kletterte flink in den Wagen. Dass die Französin auch mitkam, war ihr einziger Kummer. „Nach Hause!“ befahl Herr von Bornim und gab dem Kutscher durch ein Stirnrunzeln ein Zeichen, zu schweigen. Der nickte stumm im Einverständnis. Die Pferde liefen. Die kleine Ilse sagte plötzlich: „O pfui!“
„Was denn, Kind?“
„Sie haben ja Blut am Ärmel, Exzellenz!“
Der alte Herr biss sich auf die Lippen. Er ersann rasch etwas. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten ... natürlich ... heute im Dunkeln ... Aber Ilse von der Zültz dachte schon nicht mehr daran. Sie sass still da, ein Lächeln um den Mund. Die Morgensonne stand schon ziemlich hoch. Sie übergoss ihr zartes, feingeschnittenes Gesicht mit einem geheimnisvollen rötlichen Schein. Und die grossen dunklen Augen. Das seidenweiche Haar. Die schlankknospende Gestalt. Wilke von Bornim sah sie von gegenüber an, und es ging ihm, zum erstenmal, unwillkürlich durch den Kopf: ‚Herrgott ... wird das Mädel mal schön ...‘
... Und das Temperament des Vaters in den Adern ... Und keine Mutter ... kein Elternhaus ... kein Geld ...
Aus der jungen Wintersaat am Wege stiegen die Lerchen mit hellem Schlag empor ins weite, unendliche Blau. Ilse folgte ihnen mit dem Blick und lächelte träumerisch. So fuhr sie in das Leben hinaus.