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Die Schwestern schliefen noch. Die Eltern erst recht. Alles, was herrschaftlich war in Sommerwerk, stak noch in den Federn. Nur sie, Eva-Marie von Bornim, die Jüngste des Hauses, war schon auf den Beinen. Treppauf, treppab. Durch Küche und Keller. Haus und Hof. Einer musste sich doch darum kümmern ... Es juckte einem ja in den Fingern ...

Der blonde Kopf des Landfräuleins zwängte sich durch die Luke einer Falltüre ans Tageslicht. Sie war unten, in der winterlichen Russenstube, gewesen, um zu sehen, wie der dortigen Rattengemeinde die Phosphatpillen bekommen waren. Sie betrat jetzt, frisch, drall, mit blühenden Backen, den mächtig gewölbten, dämmerigen Kuhstall, in dem es leise von Milch plätscherte und die Schweizer, auf ihren Schemeln kauernd, mit nervigen Fingern die weissen Strahlen aus den Eutern fliessen liessen. Draussen harrte schon der Wagen, um die Blechkannen auf die Bahn nach Berlin zu bringen. Natürlich wurde Milch gestohlen ... die Abrechnungen stimmten nie. Aber wo? Wie? ... Es war ein Rätsel ...

Da stand der dänische Zuchtstier in seinen Ketten, stumpfsinnig, mit blutunterlaufenen Augen. Das junge Mädchen fürchtete sich nicht. Sie ging dicht an dem Bullen vorbei, tätschelte flüchtig die Schädel der im Verschlag zusammengedrängten Saugkälber, öffnete dann kräftig mit ihrer weissen, nicht eben kleinen Hand die Türe und schlich lauernd auf den Fussspitzen, wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, um die Ecke, dem säuerlichen Geruch des Hühnerhauses zu. Einmal musste sie doch die Eierdiebe fassen! ... Nein — wieder nichts ... nur geschäftiges, vielstimmiges Gegacker der Orpingtons und Wyandotten um die alte Mamsell. Mit der pflog das Fräulein von Bornim eine lange und ernste Unterredung über die elenden Freitagsfische, die vorgestern als Deputat vom See gekommen waren — winzige Hechte, lächerliche Schleien, Aale wie Regenwürmer ... Wer die grossen Fische fing? Lieber Gott ... man sah ja des Nachts deutlich die Lichter auf dem Wasser ... Die Diebe arbeiteten womöglich mit Dynamit ...

Und wo man hinsah in Sommerwerk, dieselbe Wirtschaft. Im Gemüsegarten die Glasscheiben der Mistkästen vom Hagel zerschlagen, weil niemand rechtzeitig die schützenden Läden darübergedeckt hatte, die Spargelbeete versandet, in den Blumenrabatten vor dem Hause kratzten die Italienerhühner den Samen aus der Erde, während ihr Hahn abseits einen heldenmütigen und aussichtslosen Zweikampf mit dem grossen Puter ausfocht, dass die Federn stoben und das Blut rann. An den Apfelbäumen fehlten die Kalkringe ... gute Zeiten für die Blutlaus! Dicke Raupen schmarotzten im jungen Lindengrün. Nirgends Ordnung. Nirgends das Auge des Herrn. Eva-Marie von Bornim seufzte, sah auf die Turmuhr, die nun schon die achte Morgenstunde wies, und ging den Weg vom Gutshof zur Chaussee und auf dieser weiter mit blossem blonden Scheitel, so wie sie war, zuweilen nach vorn spähend, die Hand vor den Augen. Nun hemmte sie den Schritt. Ein Jagdwagen bog in raschem Trab um die Ecke. Drei junge Leute sassen darauf. Ihre Brüder, die aus Berlin und Potsdam für den Sonntag herauskamen. „He, Christian! Halt!“ Geschrei und Gelächter. Die Schwester wurde ohne viel Umstände von sechs Armen gepackt und auf das hohe Gefährt gehisst. Lüdecke, der Gardekavallerist in grauem Urlaubszivil, deklamierte dabei:

„Ziehet, ziehet — hebt

Sie bewegt sich ... schwebt!“

Er hatte ein rötliches, süffisantes Gesicht, das durch die Bartkoteletten zu beiden Seiten älter erschien als seine achtundzwanzig Jahre. Wenn für irgend jemanden, so passte für ihn das Monokel ohne Rand und Band im rechten Auge, dessen Lid er noch gemeinhin humoristisch zwinkernd zusammenkniff. Sein älterer Bruder, Hans Christoph, der Assessor im Auswärtigen Amt, war sein gerades Gegenteil — länglich in Antlitz und Gestalt, peinlich korrekt in der Haltung, ängstlich genau nach Londoner Schnitt gekleidet, fast immer stumm. ‚Weil ihm nischt einfällt!‘ meinte Lüdecke, vor dessen Kasino-Ulk nichts in- und ausserhalb der Armee, mit Ausnahme Seiner Majestät, sicher war. Eva-Marie aber wandte sich, als sie Platz genommen, händeringend an den dritten: „Junge ... Junge ... wie siehst denn du aus?“

Quer über das flaumbärtige, verwegene Gesicht des Fähnrichs von Bornim zogen sich zwei dicke, halbverblasste blaue Streifen. Er machte eine verächtlich abwehrende Handbewegung. Vor Frauenzimmern renommierte man mit derlei nicht! Nachher bei Papa ... das war etwas anderes. Neben ihm erkundigte sich Lüdecke: „Evchen ... dass mir die Damenwelt nachläuft, bin ich ja gewohnt! Aber dass einem sogar die schwesterliche Liebe entgegenkommt ...“

„... Wegen der grässlichen Geschichte in Wendisch-Wiesche! Sonst liefe ich mir wegen euch weiss Gott nicht die Beine ab ... Herr von der Zültz hat sich doch vor vierzehn Tagen eine Kugel in den Kopf geschossen ...“

„Lebt!“ sagte Lüdecke. „Liegt in Berlin und lebt. Bleibt der Mitwelt erhalten!“

„Das weiss ich. Seine Tochter, die Ilse, ist immer noch bei uns in Sommerwerk. Papa und die andern im Kreis haben gesammelt, um sie für vier Jahre in ein Pensionat in der Schweiz zu schicken, bis sie gross ist. Denn das Gut kommt natürlich unter den Hammer!“

„Und für den Ollen interessiert sich der Staatsanwalt!“ ergänzte Lüdecke.

„Lass doch diese Fatzkenart! Die Sache ist wahrhaftig traurig genug. Also hört mal: die Kleine weiss von nichts! Soll auch vorläufig von nichts wissen. Sie bildet sich ein, ihr Vater sei verreist. Ihre Französin denkt es auch. Die war ja dumm wie Bohnenstroh. Wir haben sie vorgestern nach Paris heimgeschickt. Also seid so gut und nehmt euch, wenn die Ilse gerade da ist, in acht!“

Achim von Bornim neben ihr nickte. Da lag Schloss Sommerwerk. So wie immer. Seit Anbeginn der Dinge. Als man zur Wenden- und Sorbenzeit hier noch auf allen vieren lief und Albrecht der Bär das Kreuz hob über Luch und Bruch der Mark. Die Bornim waren immer dagewesen. Ihr Herrenhaus freilich stammte aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Das alte hatten die Russen im Siebenjährigen Krieg verbrannt, das noch frühere die Schweden im Dreissigjährigen Krieg, eine sagenhafte Wasserburg vorher hatte die ‚Faule Grete‘ des Burggrafen von Nürnberg niedergestreckt. In den Freiheitskriegen hatten noch die Franzosen böse gehaust. Einerlei: hier und rings im Lande wuchs ein zähes Volk. Das liess sich nicht kleinkriegen. Trotzig prangte unter dem steinernen Torbogen der Einfahrt der Wappenspruch:

„Glück herein! Unglück hinaus!

Das ist der Bornim ritterlich’ Haus

Seit sechshundert Jahren.

Gott wolle bewahren

Geschlecht und Haus!“

Um das niedere, langgestreckte, von zwei Türmen flankierte Barockgebäude mit der grossen Freitreppe grünte der uralte Park, dehnten sich hinten, gegen die bemoosten Schilfdächer des Dorfes hin, die weiten Scheunen und Ställe des Gutshofs. Exzellenz von Bornim, der Schlossherr, stand vor seinem Haus. Er hatte die Stimmen seiner Söhne gehört und lachte jetzt über sein verwittertes altes Gesicht beim Anblick des Jüngsten und schwenkte den Stock.

„Haste ihn vertobackt, Junge!“ schrie er vergnügt. „Haste ihn vermöbelt? Haste ihm heimgeleuchtet ... dem Lauckardt oder wie der Kerl heisst? Recht so! Sich nur nichts gefallen lassen! Immer ’raus mit der Plempe!“

Seine blauen Augen flammten über dem weissen Schnurrbart. Er straffte die hagere, kleine Gestalt. Auch in ihm, der wegen seines schwächlichen Körpers nie gedient hatte, kochte das Blut des wilden alten Junkergeschlechts vor den Toren Berlins. Sein Sprössling meldete aufgeregt: „Also ... es war in der Turnhalle, Papa ... Erst wurden wir bandagiert ... Und dann wurde gefragt: ‚Sind die Herren fertig?‘ ... Und nu los ... Sauhiebe hatte der Lauckardt gleich an sich ... Aber das Rappier ist doch viel leichter als ein Pallasch. Da ging alles bei ihm flach ... verfluchte Backpfeifen ... ich dacht’, ich müsst’ Zähne spucken! ... Nu wurd’ ich wild ... und passt’ auf wie ein Schiesshund und fuhr ihm in die Blösse ... und da sah ich auch schon gleich drüben Rot ...“

„Famos! Famos!“ sagte der alte Herr.

„Da rief der Unparteiische Halt, und der Lauckardt schweisste mächtig an der Stirn. Aber er war so wütend. Er wollte weiter. Gut. Nu war er aber schon unsicher, und ich langte ihm mit ’ner Prim übern Deetz, dass es nur so krachte ... denk nur ... da flog ihm gut ein Talerstück Kopfhaut mit dem Haar glatt weg. Sein Sekundant hat’s aufgehoben und zwischen zwei Fingern hochgehalten. Es war aber schon ganz dreckig vom Staub ... man konnt’ es nicht mehr brauchen ...“

„Pfui!“ versetzte Eva-Marie schaudernd. Die männlichen Bornims lachten alle herzlich. Achim schloss: „Noch nicht genug! Geschnauft hat er vor Zorn! Er hat sich anständig gehalten. Das muss ihm der Neid lassen. Aber nu kriegt er eins in die Backe ... klatsch ... die Backe klappte auf wie ’ne Butterstulle ... die Zähne dahinter! Da hat ihn der Stabsarzt endgültig eingeheimst! ... Zehn Märker hat jeder von uns dem Stabsarzt geben müssen, Papa ...“

„Da hast du sie!“ sagte der Alte, die zarte Anspielung verstehend, und steckte ihm ein Zwanzigmarkstück in die Hand. „Na — und was macht er denn nun?“

„Er liegt noch im Lazarett. Über seinem Bett hängt von der Decke eine lange Strippe und daran eine Eisblase. Die hat er auf dem Kopf. Sonst geht’s ihm gut!“

„Na ... und du ...“

„Gott ... ich ...,“ meinte der Fähnrich etwas verlegen.

„Kleine Reise in die Schweiz ... was?“

Nun lachte Achim von Bornim und gestand: „Ja, Papa! Acht Tage gelinden Arrest wegen unkameradschaftlichen Benehmens. Ich war ja auch dumm: Sie haben mir tüchtig den Kopf gewaschen. Was mir eigentlich einfiele? Der alte Lauckardt sei ein tadelloser, hochangesehener Herr, bei dem der Kommandierende und der Oberpräsident verkehrten ... klotzig reich ... hat als Landwehrhauptmann das Jahr siebzig mitgemacht und das Eiserne Kreuz ...“

Er zögerte und setzte freimütig hinzu: „Weisst du, Papa ... da hab’ ich mich doch eigentlich hinterher recht geschämt! Und wie ich aus dem Arrest war, hab’ ich am Sonntagnachmittag meinen Helm aufgesetzt und bin zu dem Lauckardt in das Lazarett gegangen und hab’ ihn aus freien Stücken um Verzeihung gebeten, dass ich ihn immer mit der Seife so gepiesackt hätte ... Wir haben uns die Hand gegeben! Nun ist Friede! Ausstehen kann ich ihn freilich immer noch nicht ...“

Der alte Bornim legte seinem Jüngsten die Hand auf die Achselklappe des Gardeinfanterierocks.

„Gut so! ... Man muss sein Unrecht eingestehen. Weisst du noch, was ich euch als kleine Jungens hab’ lernen lassen:

‚Der ist nicht flugs ein Edelmann,

Der geboren ist aus grossem Stamm‘ ...?“

„Ja, Papa ... ich kann das Ganze noch auswendig!“

„Nun, siehst du — das hast du wohl verstanden. Ich bin zufrieden mit dir, Junge! Aber nun kommt mal endlich ins Haus!“

Er trat mit seinen Söhnen durch das Tor von Sommerwerk. Lüdecke als der letzte. Wie immer ausserstande, ernst zu sein. Er blinzelte gerissen: „Evchen — was macht denn der bläuliche Husar?“

Das Fräulein von Bornim wurde feuerrot und schwieg. Ihr Bruder schnitt ein tieftrauriges Gesicht: „Das weisste doch, Maus: Mit dem Geld ist’s bei den Silleins man mau! Aber äusserst! Nischt haben sie ausser ihrer schlesischen Klitsche! ... Auch der blaueste Husar braucht Kommissvermögen, so gut wie andere Sterbliche ... Gott ... da kommt das Ilschen! Wo hast du denn deine Puppen, Kind? ... Was? Du spielst nicht mehr mit Puppen? Du wirst vierzehn? Respekt! ... Ihren Arm, meine Gnädigste! ... Siehst du ... so macht man das bei Hofe ... Voraus der Mann mit dem grossen Stock ...“

Das Kind lachte. Er führte es gravitätisch, sein Spazierstöckchen wie einen Hofmarschallstab aufstossend und auf den Fussspitzen wippend, in das Dunkel der Halle. Er musste schauspielern und Witze reissen. Er konnte nicht anders. Kaum dass er in der Kirche nachher, beim Gottesdienst, dem alle Bornims beiwohnten, eine dienstliche Ergebung zur Schau trug und nur durch die Nase gähnte. Als man wieder in die Sonnenhelle hinaustrat, frug Achim von Bornim seine jüngste Schwester, neben der er gesessen: „Sag mal: Warum bist du denn eigentlich so tiefsinnig, Evi? Der olle Schörlin geht einem doch nicht so an die Nieren! ... Der predigt doch seinen gewohnten Stiefel herunter ...“

Das blonde Landfräulein gab nicht gleich eine Antwort. Als sie eine Strecke hinter den übrigen zurückgeblieben waren, sagte sie merkwürdig aufgeregt, gar nicht die sorglose Arbeitsbiene wie sonst: „Du bist noch der Vernünftigste von euch dreien! Der Lüdecke ist überhaupt nichts und Hans Christoph ist nicht sehr gescheit. Merkst du denn gar nicht, Achim, dass hier bei uns nicht alles so ist, wie es sein sollte?“

„Wieso denn?“

„Ja, ich weiss selber nicht ... Es ist so ein drückendes Gefühl: Alles geht zurück ... langsam ... unaufhaltsam ... Niemand sieht’s! Niemand sorgt sich drum! ... Es ist, als müsst’ es so sein! ... Ich schufte weiss Gott strenger als ’ne Mamsell! Mir kann keiner Faulheit vorwerfen! Aber was ich unter mir hab’: Milch und Eier und das bisschen Geflügel und Gemüse, das macht den Kohl nicht fett. Es handelt sich eben um das ganze grosse Gut ... Ich werd’ den Verdacht nicht los, dass da schlecht gewirtschaftet wird ... rein in den Tag hinein!“

„Das lasse doch Papas Sorge sein!“

„Papa! Das ist ja eben das Elend! Papa merkt doch nichts!“

Ihr Bruder lächelte mitleidig. Dumm waren doch manchmal die Frauenzimmer! Nicht zu sagen!

„Du Schaf!“ sprach er. „Wenn du freilich unsern Vater zu den Minderbegabten rechnest ...“

„Was Papa ist, weiss ich so gut wie du! Aber hast du nicht beobachtet, wie er die Zeitung liest? Er hält sie ganz weit von sich. Er ist weitsichtig geworden. Er schaut nur noch in die Ferne: Zum Beispiel ... nein ... jetzt sei mal still und lass mich reden ... da ist Papa in der Budgetkommission vom Reichstag! Unter zweihundert Millionen Mark fangen die da gar nicht erst an. Und im Herrenhaus hat Papa vorigen Monat den preussischen Etat bewilligt. Das war, glaub’ ich, gleich ’ne Milliarde. So Zahlen freuen Papa! In denen lebt er. Was unterdessen hier aus Sommerwerk wird ...“

„Quatsch!“ sagte der Fähnrich.

„Und wenn er sich auch darum kümmern wollte, er hat ja nie Zeit! Und hat ja auch nie Landwirtschaft getrieben. Er war doch immer im Staatsdienst, sein Leben lang. Von euch wird ja auch keiner Landwirt. Manchmal kommt es mir vor, als wärt ihr alle hier blind und ich allein hätte die Augen auf ...“

Das Fräulein von Bornim brach ab. Ihr Bruder zog ein unmutiges Gesicht: das fehlte einem noch gerade, wenn man mal aus der Potsdamer Tretmühle heim zu Muttern kam, dann dies Ge-Unke und Geklöne.

„Ach, lass mich mit dem Zeug in Ruhe!“ sagte er. „Wo willst du hin? In die Räucherkammer, nach den Schinken sehen? Ja, tu das nur! Adieu!“

Er war aber doch recht nachdenklich, als er allein in die Vorderräume von Sommerwerk trat. Er tat, was er sonst nie tat: Er setzte sich auf einen Stuhl und schaute müssig vor sich hin. Es war niemand im Zimmer. Von nebenan hörte er die Stimme des Pfarrers Schörlin, der nach alter Gewohnheit, als früherer Hauslehrer der Söhne, am Sonntagvormittag im Herrenhaus vorsprach und der tauben Tante Brigitte seine Neuigkeiten in ihr Hörrohr trompetete.

„Die Cholera in Marseille wächst!“ schrie er, und die alte Dame, starkstimmig wie die meisten Schwerhörigen, schrie noch lauter: „Gottes Strafe! Gottes Strafe!“

„Das kommt davon, wenn man Bussgebet durch Petroleum und Karbolsäure ersetzt!“

„Hei und der Affenkultus! ... Menschen, die den neuen Schimpansen im Zoologischen Garten anbeten! ...“

„Bismarck hat sich dieser Tage dort auch die Raubtiere angesehen und ist dann weitergeritten!“

„Er ist selber ein Raubtier!“ schrie die alte Dame. Sie stand für ihre Person mit dem Reichskanzler auf gespanntem Fuss. Schon seit der Deklarantenzeit. Dann wurde es stiller. Die beiden, der Landpfarrer und das alte Fräulein, vertieften sich in einen Bericht über die lutherische Pastoralkonferenz in Köslin und das evangelische Diakonissenhaus in Kairo. Die kleine Ilse kam zu Achim herein. Sie prustete vor Lachen.

„Du ...“ — sie und der Nachbarssohn nannten sich seit Kinderbeinen ‚Du‘ — „der Lüdecke hat jetzt ein Rennpferd — das heisst Mäuschen, vom Flohtanz aus der Maus! Zu affig — nicht?“

„Tu mir den einzigen Gefallen und lass mich jetzt in Ruh’!“

Der Fähnrich ärgerte sich über den kichernden Backfisch. Er hatte jetzt Ernsteres im Kopf. Ilse von der Zültz meinte schnippisch: „Gott ... hab’ dich doch nicht so ... Du hast’s überhaupt nötig. Wo sie dich eben auf acht Tage eingesperrt haben! ... Ich hab’s schon gehört ...“

„Wie wär’ es denn, Ilse, wenn du jetzt wieder an deine Rechenaufgaben gingst?“

Der künftige Leutnant sagte das in dem freundlichen Ton eines Erwachsenen gegenüber einem Kind. Die dunkelhaarige, schwarzäugige Kleine stand eine Sekunde da, überlegte eine patzige Antwort, sagte dann, nur verächtlich die Achseln zuckend: „Pah!“ und lief, von einem neuen Gedanken erfasst, aus dem Zimmer und in langen Sprüngen, dass ihr die Zöpfe flatterten und die weissen Röckchen um die dünnen Beine flogen, über den Rasen hinüber zu Eva-Marie, die sie vom Fenster aus beim Verfüttern von gehackten Brennesseln und Eigelb an die jungen Puten gesehen. Ganz erhitzt und zerzaust kam sie später zu Tisch und hob da bittend ihren Suppenlöffel: „Lüdecke ... Erzähl doch wieder was Komisches!“

„Bin ich der urkomische Bendix?“ frug der Kavallerist entrüstet. Aber er fing sofort an, seinen Regimentskommandeur bei der Kirchenparade nachzumachen — wie die alte knackstiebelige Durchlaucht da widerwillig zu Fuss vorbeiwankte, geistesabwesende Fischaugen unter dem Monokel, unergründliche Verachtung um den halb offenen Mund — Ilse von der Zültz schrie vor Entzücken und trommelte mit ihren roten, mageren Kinderfäusten auf den Tisch, am Büfett hinten kicherte der alte, zahnlose Philipp still in sich hinein, auch die andern lachten. Exzellenz von Bornim aber sagte, als der Diener draussen war, verdriesslich: „Du bist und bleibst ein Kasinofatzke — weiter nichts!“

Lüdecke schwieg mit süffisantem Lächeln. Das machte den alten Herrn noch zorniger: „Wann schneidest du dir denn endlich die verdammten Bartkoteletten ab? Du siehst aus wie ein Hotelier!“

„Nur im schlichten Gewand des Bürgers!“ widersprach Lüdecke und lächelte, die Hände gleich einem Gastwirt ineinanderreibend, die kleine Ilse über den Tisch hinüber verbindlich an, dass sie von neuem losplatzte. Die anderen mit. Auch Achim. Und doch, sonderbar: Eine gewisse Nachdenklichkeit wollte nicht von ihm weichen. Diese dumme Eva-Marie! ... Nach Tisch bummelte er mit blossem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, eine Zigarette im Mund, allein hinüber in den Hof. Vor der mächtigen Düngerstätte, auf der heute, im Sonntagsfrieden, nur die Hühner scharrten und die Spatzen die Haferkörner aus den Rossäpfeln pickten, stand breitbeinig, im guten Rock, die feiertägliche Festrübe rauchend, froh, sich einmal nicht mit den Vögten ärgern zu müssen, der Inspektor Dönges. Der Fähnrich ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Sie sprachen vom Wetter, von der Ernte. Der lederbraune Landwirt meinte: „Ja — wenn der Roggen man gut körnt ... Wir könnten ’ne anständige Ernte brauchen!“

„Na ... ihr habt doch in Kunstdünger gewütet, sagt meine Schwester!“

„Dat haben wir! Aber wer kommt heute nachmittag? Der Herr Aust!“

„Der Getreidefritze?“

„Ja. Sehen Sie, Herr Achim ... dat is ja die Zwickmühle: Dünger brauchen wir für die Ernte. Aber um den Dünger zu zahlen, müssen wir Vorschuss auf die Ernte nehmen. So geht dat nun Jahr um Jahr ... Schliesslich schuftet man nischt mehr ’raus als die Hypothekenzinsen.“

Auf Achim von Bornims sorglosem Fähnrichsgesicht lag wieder ein Schatten: „Sagen Sie mal, Dönges: woher kommt denn das nun?“

„Ja Gott, Herr Achim ... die Zeiten werden anders! Es geht nicht mehr so wie früher! ... Wie ich ein junger Scholar war, da war’s noch einfach: Dreifelderwirtschaft und Brache und Punktum. Streusand drauf! ... Heutzutage, wo sie aus Russland und Argentinien und Amerika einem mit dem Getreide über den Hals kommen ...“

„Und dann, Herr Achim“ — der Inspektor warf seine Zigarre weg und zertrat vorsichtig den glimmenden Stummel — „wo wollten früher die Leute im Dorf hin? Die waren froh, wenn sie’s Leben hatten. Da hat zu meiner Elevenzeit noch der Grossvater mit dem Enkel zusammen bei der Herrschaft Kartoffeln gebuddelt. Aber jetzt: Wozu hat der Mensch die Eisenbahn? Immer man ’rin nach Berlin! Berlin ist gross! Da bleiben sie! Und wir können uns hier mit den Sachsengängern herumhauen. Ein Geld kosten die Brüder! Um das ’rauszuschlagen, muss man höllisch auf dem Posten sein ... Ich bin man bloss ein Angestellter! Exzellenz haben nie die Zeit. Und die jungen Herren haben ja alle einen anderen Beruf. Leben wo anders ...“

Immer derselbe Kehrreim! Wie bei der Eva-Marie. Das Gut war ein geduldiger Packesel, dem man immer mehr und mehr aufhalste, ohne sich sonst um ihn zu kümmern. Der Himmel blieb den ganzen Nachmittag wolkenlos blau. Trotzdem wurde der Fähnrich von Bornim das Gefühl nicht los, als hinge ein Schatten über Sommerwerk. Schliesslich: Was ging es ihn an? Er war der Jüngste. Er wollte einmal nichts von diesem Boden. Weder Rechte, noch Lasten. Blieb sein Leben lang Offizier, auf den Zuschuss des ältesten Bruders angewiesen, der sehen mochte, wie er hier zustande kam. Ihn, Achim, den Letzten, bissen ja doch die Hunde ... Jetzt auch wieder: Am Abend traten, während der Vater mit dem vorgefahrenen Landrat endlos und ernst über die Reichstagswahlen im Herbst konferierte, die beiden älteren Brüder in Jagdausrüstung vor das Haus. Zwei gute Böcke waren für sie ausgemacht. Für den Fähnrich von Bornim war wieder einmal keiner da. Oder vielmehr, der Förster Jahn, der verfluchte Knasterkasten, geizte mit seiner Wildkammer. Drei Böcke an einem Abend — das ging ihm über den Spass! ... Lügen konnte das scheinheilige Gestell bei solchen Gelegenheiten ... Hol ihn der Teufel! ... Ging man eben ohne ihn ... wenigstens auf Enten ... Es war ja noch nicht Juni. Aber hier sah es ja keiner ...

Achim von Bornim langte sich in der Jagdstube des Schlosses, wo das Waidgerät von Generationen wie Kraut und Rüben durcheinander lag und hing, ein Paar Wasserstiefel hervor, fuhr in ein Paar gebräunte Lederbuxen, die vielleicht schon vor hundert Jahren irgendeinem Bornim gedient hatten, und in eine Joppe mit Hirschhornknöpfen und schaute, den Schlapphut in das junge Gesicht gedrückt, die lange Entenflinte in der Hand, ungefähr so aus, als diente er in einer Räuberbande und nicht in der Berliner Garde auf Beförderung. Er bummelte durch den Park. Heute waren seine Augen geschärft für den Verfall dieses uralten Herrensitzes in der Mark. Wie sahen doch die verwilderten Wege aus? Die Sandsteinfiguren rings um den verschilften Weiher standen schief. Zweien hatten die Berliner Ausflügler die Nasen abgeschlagen und Stullenpapier dafür hinterlassen. Wo waren die Fasanen geblieben, die sonst in ihrem sonderbar wippenden Lauf über den Pfad huschten? In dem grossen Karpfenteich am Ende des Parks war mehr Schlamm als Wasser. Der hingeworfene tote Reiher und das Schweinegeschlinge und anderes Luder faulte auf dem Trockenen. Die Mooskarpfen, die mit schmatzenden Mäulern drüben in der flachen Bucht standen, konnten doch nicht auf allen vieren über Land ... Himmel ja ... hier gehörte freilich überall ein Herrgottdonnerwetter hinein ... Er trat ins Freie ... Vor ihm dehnten sich im Abendschein die weiten Saatflächen. Heute am Sonntag feierlich still und leer. Aus dem Buschwerk in der Ferne kamen fremdartig-schwermütige, slawische Laute. Volkslieder der Sachsengänger. Das Klimpern einer Balalaika. Dann wieder Stille. Nur ein Wehen im Rot des Sonnenuntergangs über die Felder, ein Aufschauern und sich Beugen der Sträucher, so als atmete ein unsichtbarer, riesenhafter Mensch ...

Der Fähnrich pfiff sich eins und drang in die Sumpfwildnis am Rand des Bornimer Sees ein. Das war eine Welt für sich. Das war das Märchen seiner Kindheit gewesen. Indien war nichts gegen diese geheimnisvollen Dschungeln, diese plötzlichen und verlorenen kleinen Wasserspiegel zwischen mannshohem Schilf, auf denen wie weisse Sterne über tückischem Schlinggewächs die Seerosen schwammen, diese klagenden, lachenden, scheltenden Laute im unergründlichen, undurchdringlichen Röhricht. Das gespenstige Brüllen der Rohrdommel, der sanfte Ruf des Regenpfeifers, das leise, geschwätzige Quacken der wilden Enten. Das stumme Rudern und blitzschnelle Untertauchen des Blesshuhns ... sogar talergrosse, langgeschwänzte Schildkröten gab’s ... die freilich selten ...

Eigentlich war es gar kein See. Die Baake floss da in einen der vielen Havelarme. Man merkte kaum, dass das träge Gewässer sich bewegte. Es bildete Schlamminseln, Rohrbänke, versumpfte Brüche. Jetzt, im Frühjahr, war das alles noch von der Schneeschmelze her überschwemmt. Man konnte nirgends recht heran. Nur an einer Stelle, da, wo die Chaussee nach Potsdam auf einer Brücke über freies Wasser führte, erhob sich auf zwei-, dreihundert Schritt festes Gelände aus klarem Kieselgrund. Es war der einzige Hügel weit und breit. Aber gerade diese paar Morgen gehörten nicht zu Sommerwerk, sondern dem alten Tübecke, dem Krugwirt von drüben. Und natürlich stand er auch in Hemdärmeln vor dem Entenkaten, einem halbverfallenen, schon lange nicht mehr von Fischern bewohnten Fachwerkschuppen inmitten der Weidenstrünke und Erlenbüsche, und schrie schon von weitem: „Immer man sachte, Herr Fähnrich! Dat ’s mein Land!“

Der Junker blieb ärgerlich stehen.

„Gott ... Herr Tübecke ... Spannen Sie doch lieber gleich Draht um das bisschen Dreck hier! ... Jagen dürfen Sie deswegen doch nicht!“

„Aber Sie ooch nich!“

„Also bloss, um uns zu ärgern!“

„Na, wenn schon!“ sprach Herr Tübecke gemütlich und verriet den Zweck seiner Massregel: „Kaufen Sie mir’s doch ab ... Jetzt kost’s noch dreihundert Taler ...“

„So? Voriges Jahr sollten es nur zweihundert sein!“

„Ja ... ick werd’ eben teurer, je älter ick werd’, Herr Fähnrich! Wat mein Sohn is, der verkauft mal überhaupt nich mehr!“

Der reine Hohn in der heiseren Stimme dieses alten Schweinehunds! Und da drüben die Enten! Da konnte man nun endlich bei — schiessen — nee — man durfte nicht! ... Der Fähnrich von Bornim drehte sich stumm um und trug wütend seine lange Entenflinte wieder nach Hause. Auf dem dämmerigen Hof grüsste ihn jemand ehrerbietig. Ein schlauer, dicker Mann. Richtig: der Getreidehändler Aust. Achim hatte einen plötzlichen Einfall — die richtige Fähnrichsidee.

„Sie, Herr Aust — leihen Sie mir doch mal dreihundert Taler. Ich geb’s Ihnen so sachte wieder, wenn ich Offizier bin!“

Herr Aust überlegte. Er sass hier in Sommerwerk so recht im Fett ... duldete keinen andern ... hatte eben wieder ein gutes Geschäft gemacht. Wenn das auch nur der dritte Sohn war — man konnte nie wissen, wer schliesslich hier ... Es war für ihn ja auch nur eine Lappalie.

„Na, in Gottes Namen, Herr Fähnrich! ...“

„Nee! Geben Sie’s nicht mir, sondern Herrn Dönges! ... Dönges: seien Sie doch so gut und kaufen Sie mir morgen dafür von dem Tübecke seinen verfluchten Entenkaten. Ich will auch was zu schiessen haben, wenn ich hier ’rauskomm’. Nicht immer nur die Brüder ... Ich hab’ das jetzt mit dem Förster Jahn dick! ... Haben Sie ’nen Bleistift, Herr Aust, dass ich Ihnen was Schriftliches ...“

Der Kornhändler hob gutmütig abwehrend die Rechte: „Nich in die Hand! So ’ne Zicken mach’ ich nich mit so junge Herrn! Dat ’s bei mir ’ne Gefälligkeit! Dat geht auf Treu und Glauben, Herr Fähnrich!“

„Mir auch recht!“ sagte Achim von Bornim hochmütig, legte zwei Finger an seinen Schlapphut und ging ins Schloss, um sich umzuziehen. Spät abends fuhr er mit dem Premierleutnant und dem Regierungsassessor vom Elternhaus fort, in Wochentag und Dienst. In Potsdam stieg er aus. Die beiden anderen ... die Glücklichen ... die durften weiter nach Berlin. Er schritt, seinen Urlaubspass in der Tasche, durch die stillen Strassen der Havelresidenz. Er gähnte. Er war müde. Eigentlich ein blöder Tag. So was Dummes ... So ’ne Stimmung! ... Und dann noch die dreihundert Taler Pump ... bloss um das Biest, den Tübecke, aus seiner Sumpfbrühe hinauszuekeln ... die Eva-Marie hatte schon recht: Eigentlich tat in Sommerwerk jeder, was ihm durch den Kopf schoss! Wo das Geld herkam, das ... pah ... Man war doch nun mal kein Käsekrämer ...

Ach ... wenn man nur erst schon aus Potsdam weg wäre ... aus der langstieligen Kriegsschule! Da lag sie im Mondschein vor einem, gegenüber dem Langen Stall, dem Exerzierhaus des Ersten Garderegiments zu Fuss, angelehnt an das Militärwaisenhaus. Der Fähnrich von Bornim ging auf das graue Gebäude zu. Noch dreiviertel Jahre ... seine Augen belebten sich: im kommenden Februar, wenn man bis dahin keine Dummheiten gemacht hatte — oder sie kamen wenigstens nicht heraus! — dann war man erst Mensch. Dann war man Offizier. Leutnant in Berlin. Das Leben lag vor einem ...

Stark wie die Mark

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