Читать книгу Stark wie die Mark - Rudolf Stratz - Страница 9

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‚Nimm sie heraus aus dem Rosstäuscherkram am Oranienburger Tor, dann ist die Ilse Zültz ’ne Dame! Lass sie dort, dann ist sie’s nicht ... Es kommt nicht darauf an, wer sie ist, sondern wo sie ist! Verstehst du das, mein Sohn?‘

Achim von Bornim fuhr aus dem Schlaf auf. Er glaubte, noch die bedächtige, knarrende Stimme seines Vaters zu hören. Er hatte geträumt, er habe den um Rat gefragt — wieder im Reichstag — wie man es als korrekter junger Mann mit der Ilse Zültz halten müsse ... Andere alte Herren hatten herumgesessen ... die Ilse selber kam herangeschlendert, direkt aus dem Sitzungssaal ... ganz unbefangen ... sie hatte sogar die Frechheit und stand am Seiteneingang, da, wo Bismarck gewöhnlich hineinfuhr. Dessen Wagen bog schon um die Ecke. Man hörte das Donnern in der Torwölbung ...

Der Leutnant war jetzt ganz wach. Er fand sich in der Schlafkammer seiner Dienstwohnung in der Kaserne, drunten, vor den Fenstern, der Lärm der Stadt. Er streckte sich: Solcher Kohl war auch nur im Traum möglich ... bei Tageslicht war die Geschichte furchtbar einfach: Er hatte wahrhaftig in diesem Zültzschen Stallmist nichts zu suchen. Er ging nicht wieder hin. Da sah er auch die Ilse nicht mehr ...

Draussen donnerte es wieder. Ein Klopfen mit Faust und Stiefelspitze gegen die Türe.

„Zum Teufel ... wer ist denn da?“

„Ich! Lüdecke! Mach auf!“

Der hatte gerade noch gefehlt! Der Jüngere fluchte und öffnete im Hemd die Türe. Da stand der ehemalige Gardekavallerist. Hinter ihm der Musketier der Kasernenwache, der ihn hinaufgeführt und sich nun wieder auf dröhnenden, nägelgespickten Kommisssohlen trollte.

„Was hast du denn nun wieder ausgefressen?“

Lüdecke von Bornims Gesicht war rot und süffisant wie immer. Er liess sich, die Hände auf den Goldknopf seines Stocks gestützt, das Einglas im Auge, den Zylinder im Genick, rittlings auf einen Stuhl nieder, als sässe er in der Bar, und sagte mit einer gewissen Feierlichkeit:

„Kapores!“

„Was?“

„Alle! Fertig! Schluss! ... Ich bin unter schlechte Menschen gekommen. Man hat meine und Rehfischs Unerfahrenheit ausgebeutet. Es ist nichts mit dem grossen Coup. Ich muss fort! Höchste Eisenbahn ...“

„Da haben wir’s!“

„Meine Verdienste werden hier nicht anerkannt. Für mich ist Berlin zu eng! Ich soll hier auf einmal überall Wechsel decken, Rechnungen zahlen ... Ich glaube, die Leute sind verrückt ... Nee ... lieber nu schon Amerika ... Aber standesgemäss ... Erster Güte ... sonst bleib’ ich da! ... Sag das auch unserm alten Herrn ...“

„Herrgott, geh doch einmal zu Hans-Christoph, statt dass ich immer ... Oder schreibe Papa ...“

„Hans-Christoph ist ein Rindvieh! Und schreiben? ... time is money, wie wir Yankees sagen ... Die Weltfremdheit unsrer Richter ... die Kerle haben selber keine Pelze. Nun begreifen sie nicht, dass ’n Gentleman so ’n Zeugs auch mal versetzt ...“

„Unbezahlt?“

„Bezahlt soll er auch noch sein?“ sagte Lüdecke erstaunt. „Du bist nicht übel, mein Sohn! Na ... drüben in den States ...“ Er erhob sich und spähte durch das Fenster. „Die Unsicherheit in Berlin nimmt immer mehr überhand! ... Ich kann mich kaum mehr ruhig auf der Strasse zeigen, ohne dass verdächtige Elemente ... Also nun sause mal schleunigst zu unserm Erzeuger ... sag ihm, ich stände sonst für nichts ... Ich würde glattweg verhaftet ...“

„Himmelherrgottdonnerwetter ...“

„Pst! Ein Kavalier regt sich nie auf! Bring mir das Geld um zwei in die Kaiserklappe an der Ecke der Karlstrasse! Wenn ich nicht vorn bin, frag nur den Kellner nach dem Grafen Müller. Unter dem Namen bin ich da bekannt. Dann holt er mich! ... Aber mach deine Sache ordentlich. Verstanden?“

Er nickte gönnerhaft, als ein älterer Bruder, der dem Jüngeren gute Lehren gegeben, und verschwand. Achim schaute ihm zornig nach. Immer wieder diese verfluchte Lüdeckesche Müllgrube! Jetzt zum letztenmal! Erwartet hatte er es schon lange, dies Ende mit Schrecken bei Lüdecke, statt des bisherigen Schreckens ohne Ende. Sowie der Dienst vorbei war, suchte er Hans-Christoph, den Ältesten, im Auswärtigen Amt auf. Der Regierungsassessor schwieg zu seinem Bericht. Er schwieg eigentlich immer. Das war das Geheimnis seiner Stellung hier. Sein Vater hatte einmal gesagt: ‚Der Mensch schweigt sich noch zum Botschafter empor!‘ ...

„Also, was soll man denn nun machen?“

Hans-Christoph zuckte die Achseln. Er wollte mit der Sache nichts zu tun haben. Ein Geheimrat stürmte herein. Eine flüchtige Verbeugung gegen den jungen Gardeleutnant. Dann ein eiliges: „Ach, bitte, Herr von Bornim ... zum Dechiffrieren ...“

Der Assessor griff nach den Akten. Dabei sprach er endlich: „Ich habe jetzt keine Minute ausserdienstlich Zeit. Das Befinden von Majestät ... wir kommen wahrscheinlich die nächsten Nächte überhaupt nicht ins Bett ...“

Es war wirklich eine Erregung in dem niederen, langgestreckten, grauen Gebäude, dessen Rückfenster durch den winterlichen Park nach der Backsteinmauer an der Königgrätzer Strasse schauten. Ein Laufen von Tür zu Tür ... flüsternde Stimmen im Gang ... nebenan, im Hof des Reichskanzlerpalais, hielten ganze Reihen von Equipagen. Achim griff erbittert nach seiner Mütze.

„Wenn Bismarck wüsste, wie stumpfsinnig du bist,“ sagte er. „Na ... döse man weiter! Gute Nacht!“

In zwei Minuten war er um die Ecke am Reichstagsportal. Exzellenz von Bornim sei vorhin zu einer Besprechung in das Abgeordnetenhaus gegangen, meldete ihm der Pförtner. Also weiter ans andere Ende der Leipziger Strasse! In dem winkeligen Treppengewirr des alten Kastens am Dönhoffplatz war es nicht leicht, jemanden zu finden. In dem Foyer standen im Zigarrenqualm Hunderte von Herren. Landtagsabgeordnete und von aussen Gekommene. Ein Stimmengewirr. Hier war man Preussen. Hier war man ganz unter sich. Denen hier war nicht nur der neu gekürte Kaiser krank, nein, vielen von ihnen aus Väterszeiten und alten Ruhmestagen mehr: ihr König und Herr ...

Greise waren in Menge da, seine Altersgenossen. Und andere, mit seltsam ernsten Mienen, die Männer von fünfzig, die seit einem halben Menschenalter, seit dem Anfang der siebziger Jahre, auf den Thronwechsel warteten. Und nun zeichnete, schon über ein Jahr, der Tod den Sohn noch vor dem Vater, lenkte ihr Lebensziel ins Leere. Und ein paar junge Herren waren da, zerhauene, blonde Landwirte, Rittmeister a. D., Rittergutsbesitzer — im Alter des Prinzen Wilhelm — seine Bonner Korpsbrüder — seine einstigen Kameraden in der Potsdamer Attila ... vielleicht über Nacht die Erben einer ausgeschalteten Generation ...

In der Mitte des Raums stand der Minister von Puttkamer mit seinen mächtigen Favoris. Wo der war, war Alt-Preussen. Drängten sich die Granden. War auch Papa.

Exzellenz von Bornim hörte, mit seinem Sohn in eine Ecke getreten, dessen Bericht. Starren, feierlichen Ernst auf dem kleinen vertrockneten Antlitz. Der galt seinem scheidenden König. Es war, als ob für ihn alles andere daneben verginge. Er sagte: „Ich war darauf vorbereitet, dass Lüdecke einmal hinüber muss ... Ich hab’s mit mir abgemacht. Faules Holz muss fort vom Stamm! ...“

Es war der gleiche Gesichtsausdruck, es waren fast die gleichen Worte, mit denen er vor Jahren auf seinem Schloss Sommerwerk dem hilfesuchenden Wendisch-Wiescher den Weg zur Türe und Pistole gewiesen. Kein Mitleid. Unerbittliche Härte unter dem hängenden, weissen Schnurrbart um den eingefallenen Mund. Spreu, flieg vom Weizen! ... Er hatte ja noch zwei Söhne ...

Er zog sein Scheckbuch aus der Tasche, legte es fernsichtig weit von sich auf den Tisch und schrieb mit zitternder, umständlicher Greisenschrift eine Anweisung auf tausend Mark.

„Aber nicht bar in die Hand! — hörst du, Achim? Sonst verspielt er’s und bleibt hier. Du kaufst ihm seine Überfahrtskarte und was dazu gehört! Ich kann mich nicht damit befassen! ... Ich muss auch gleich wieder in den Reichstag ... Niemand weiss, was wird ... der Kaiser ist krank ...“

Wilke von Bornim sah vor sich hin ... Sein Kaiser ging ... in Glanz und Ehren. Sein Sohn schied in Unehren. War es doch der Sohn ...? Er zuckte. Er sprach mühsam ... vom Kaiser ...

„Vorigen Herbst habe ich ihn zuletzt gesehen, Achim! ... Er hat mich herangewinkt und mit mir gesprochen. Er hat mich auch nach dir gefragt! Vergiss das nie! ... Ich hab’ ihm noch einmal die Hand küssen dürfen ... ich und Leggien ... Geh jetzt ... geh!“

Er schob beinahe ungeduldig den Sohn von sich. Niemand merkte ihm etwas an. Der Leutnant blieb stehen.

„Papa ... möchtest du nicht Lüdecke noch einmal sehen?“

„Nein.“

Achim von Bornim überlegte auf dem Heimweg: Verwünscht: Gerade heute du jour. Jetzt Fleischempfang. Dann in die Küche, das Mannschaftsessen kosten. Dann zu Tisch ins Kasino. Nachmittags Turnen, Instruktion, Brotfassen ... wann sollte er denn um Himmels willen die Sache mit Lüdecke besorgen?

Einen anderen darum bitten? Nee — danke schön ... die schmutzige Wäsche ans Tageslicht ziehen — dagegen empörte sich sein Hochmut — selbst bei dem besten Kameraden. Mit dem letzten Bissen im Munde bekam er einen Zettel in das Kasino geschickt:

„Brüderliche Liebe! Die Unsicherheit in Berlin wächst. Ich will mich lieber nicht in der Kaiserklappe zeigen. Du findest mich bei Zültz! Erwarte dort baldigst Geld und Dich. Graf Müller.“

Ein Blick auf die Uhr. Gerade noch Zeit. Los! Hinaus zu dem Pferdeschmeisser! Warum packte man auch ihm alles auf? Achim von Bornim war so wütend, dass er kaum mehr an Ilse dachte. Er stürmte, der Droschke entstiegen, in den nachmittäglich leeren Stallgang und packte einen kleinen, durchdringend pfeifenden Reitburschen am Kragen.

„Sei mal still, Stift! Ist hier ...?“

Der Bengel in dem roten Affenjäckchen feixte und lief bis an das Ende der Stallgasse und stemmte sich aus Leibeskräften gegen den Deckel einer mächtigen Haferkiste. In dem leeren Innern sass, als er sie lüftete, Lüdecke, die Beine gemächlich hochgezogen, den hechtgrauen Zylinder darunter am Boden, ein abgegriffenes Buch vor sich auf den Knieen.

„Das Dumme ist, dass ich in meinem Salon nicht rauchen kann!“ sagte er. „Sonst merken sie’s! Vorhin war schon so ein verdächtiger Mensch da und hat nach mir gefragt. Immer aufgepasst, Fritze! ... Sowie wer kommt, die Klappe zu! Nu ab! ... ’raus mit dem Mammon, Achim? Was? ... Du hast ihn noch nicht? ... Ja, Kinder ... erlaubt mal: ich hab’ meine Zeit auch nicht gestohlen! Wenn ihr mich weghaben wollt, müsst ihr auch was dazutun! ... Die Geschichte hier wird höchst sengerich, kann ich dir sagen! Ich steh’ für nichts, wenn mich die Langeweile hier ’raustreibt. Ich kann doch nicht den ganzen Tag Casanovas Memoiren lesen ... Zültz hat sie mir geborgt ... Überhaupt ... ’ne nette Bibliothek hat der Kerl ... ‚Das Damenregiment im Vatikan‘ ... ‚Trudchens Kümmernisse‘ ... ‚Fiorentina, die rätselhafte Braut‘ .... ‚Die doppelte Ursulinernonne‘ ... ‚Die Geheimnisse des Konak‘ ... ‚Das Pariser Lachkabinett‘ ... ‚Die kuriöse Flohfalle‘ ...“ Überall herum lagen die abgegriffenen Bände. Der Leutnant von Bornim stiess sie mit der Lackstiefelspitze zur Seite. Sein Herz klopfte. Er hatte aus dem oberen Stockwerk Ilses helle Stimme gehört. Er dachte nicht weiter nach. Er stieg zu ihr hinauf. Da stand sie in dem leeren, sogenannten Kontor ihres Vaters in blossem Kopf und einfachem Hauskleid. Sie lachte und gab ihm kameradschaftlich die Hand, als ob sie ihn schon längst erwartet hätte: „Hast du den Lüdecke unten in seiner Kiste gesehen? Ist’s nicht zum Schreien?“

„Nee — zum Weinen ist es!“ sagte der junge Offizier trocken. „Vieles hier ...“

Fräulein von der Zültz setzte sich ihm gegenüber, bückte sich und zupfte sich den Rock nach den Knöcheln zu glatt. Diese kleine Pensionsmädchenbewegung hatte für ihn etwas Rührendes. Noch so viel Wohlerzogenheit hier, unter den Rosskämmen und Grundstückschiebern und Heiratsvermittlern! Sie hob wieder den dunklen, hübschen Kopf und frug: „Du — der Lüdecke muss wohl nach Amerika?“ und das klang schon unbekümmert ... zigeunerisch ... Da war schon der Genius loci ...

„Ja ... Er muss ’rüber! Ein brauner Lappen steht zur Verfügung ... Die Sache ist mir ... Ilse ... Ich hab’ absolut keine Zeit ... weisst du jemand halbwegs Vertrauenerweckenden, der für Geld und gute Worte sein Billett bis heute um sechs Uhr abends besorgt?“

Sie nickte, die Hände über den Knieen verschlungen.

„Wer denn?“

„Ich!“

„Ach so!“ Er sah sie erleichtert an. Dann kamen ihm wieder Bedenken. „Ich weiss nicht, ob ich dir das aufhalsen darf, Ilse! ... Wenn ich mich schon selbst nicht gern da hinstell’ und ein Billett nach Amerika verlang’ ... die Leute kommen da womöglich auf allerhand Gedanken ...“

„Ja ... wenn sie dich in deiner Uniform sehen! Aber ich ... ich binde mir ’nen dicken Schleier vor! Mich kennt überhaupt keine Katze in Berlin!“

„Und dann hör mal, was ich schon gedacht habe? Am Ende macht man sich sogar strafbar, wenn man dem Lüdecke zur Flucht verhilft?“

Ilse strahlte. Ihre Augen glänzten.

„Famos!“ sagte sie, voll Fieber und Entzücken, dass so etwas passierte und sie dabei sein durfte. Womöglich gar etwas Gefährliches! Ein Haschespiel mit dem Staatsanwalt! ... Da war nun wirklich das Zigeunerblut. Sie atmete auf und sah Achim förmlich dankbar an.

„Das ist zu schön, so ’n bisschen Herzklopfen ... Ich mopse mich hier doch so kläglich ... ich bin doch so froh, wenn was los ist ... Ich mache doch so rasend gern dumme Streiche! ... In der Pension, da hab’ ich mal ... Na egal ... also sag mir nur, was ich tun soll ... Stangen? ... Hinter der Passage? ... Querstrasse von der Friedrichstrasse? ... oh ... das find’ ich schon. Ein Billett für den Kaufmann Friedrich Wilhelm Müller aus Bunzlau ...? Du ... Müller ist gut ... Also ich zieh’ dann gleich los ... ich nehm’ die Itta mit ...“

„Ach nee — das lass lieber ... Mit der möchte ich nun nicht gerade gern auf der Strasse ...“

„Wo treff’ ich dich dann?“ Ihr Tatendrang war nicht zu zügeln. Er musste fast lachen. Ein Eifer wie bei einem jungen Jagdhund.

„Um sechs an Kranzlers Ecke!“

„Abgemacht! ...“

Die Linden wogten schwarz von Menschen in der Dämmerung des kalten, regnerischen Märzabends. Angstvolle Gesichter. Halblaute Gespräche. Ein paar Damen hatten Taschentücher in der Hand. Wilder grauer Wolkenflug am Himmel — Eine Stimmung ... feierlich ... ungewiss ... über alles hinaus, was man kannte ... was je dagewesen war ... der alte Herr war immer dagewesen — so lange diese Menschen hier atmeten ... und ihre Väter ... und ihre Grossväter ... seit nahezu hundert Jahren. Man konnte sich die Welt nicht mehr ohne ihn denken. Der Leutnant von Bornim stand in Mütze und die Hände in den Taschen des schwarzen Militärmantels an der Ecke der Friedrichstrasse. Er sagte sich, in einem plötzlichen Zorn: Da drüben geht der Kaiser, dein Kaiser, zur ewigen Ruhe, und du wartest hier auf ein Mädel! ... Nein ... du tust nur deine Pflicht als Sohn und Bruder ... Das ist was anderes ...

Ein Hofwagen fuhr vorbei. Hüte lüfteten sich. Irgend jemand meinte: „Die Fahne weht noch auf dem Schloss“ ... Ein Stimmengeschwirr: ... „Der Kronprinz ist immer noch in Pegli ...“ ...„Mackenzie“ ... „Ja, aber Virchow“ ... „Bei Bismarck sind alle Fenster hell“ ... „Platz, bitte, meine Herrschaften ...“ Hohe Generale drängten sich durch, immer nach Osten, immer nach dem Palais. Alles strebte dorthin ... schaute dorthin ... dachte dorthin ... Er, Achim von Bornim, musste hier bleiben. Gereizt. Voll Ärger. In einer Ungeduld ... Kam sie denn noch nicht? Eine Wärme. Eine Stimmung zwischen Tod und Leben ... der grosse greise Kaiser ... so ein armes kleines Mädchen ... sie und er, Achim von Bornim, so winzig klein in dem, was hier geschah ... Stürmende Dämmerung über den Dächern ... Fegende Regenschauer über die breite Siegesstrasse der Hohenzollern ... Ein angehaltener Atem ...

Da war Ilse. Im einfachen dunklen Mäntelchen. Atemlos. Die Fahrscheine in der Hand. Sie hatte alles besorgt. War etwas enttäuscht. Es war alles am Schnürchen gegangen. So, wie wenn man eine Elle Band kaufte. Gar keine Spur von Gefahr. Kein Grund zum Graulichwerden. Der Herr am Schalter hatte kaum aufgesehen. Aber das nächste Schiff ging erst in drei Tagen. So lange musste der Schächer in der Haferkiste noch ausharren. Sie war jetzt auch ernst, wo alles um sie ernst war. Die Angst der Tausende spiegelte sich auf ihrem schmalen, bräunlichen Gesicht. Es war, wie wenn der Wind über eine Wasserfläche glitt. Sie schwieg und wartete, was Achim jetzt mit ihr anfangen würde. Er hatte das Gefühl eines Unrechts, hier, in dieser Stunde, mit einem Frauenzimmer herumzulaufen ... Etwas vom Offizier kämpfte in ihm dagegen ... gerade weil sie ihm so gefiel ...

„Ich dank’ dir schön, Ilse!“ sagte er. „Am besten ist’s, du fährst jetzt heim und gibst Lüdecke Bescheid! Er muss also die paar Tage noch in der Verborgenheit blühen. Ich komme dann, wenn’s so weit ist, heran und bring’ ihn an die Bahn!“

Ilse Zültz nickte. In einem eifrigen Gehorsam. Ehe sie in die von ihm herangewinkte Droschke kletterte, nestelte sie sich ihren heissen Schleier weg. Sie sah hübsch aus, wie sie da im Laternenschein stand: „Auf Wiedersehen, Achim!“

Eine helle Stimme. Eine Hand streckte sich aus dem Klapperkasten zweiter Güte. Er drückte die kalten kleinen Finger.

„Aus Wiedersehen!“ sagte er und schaute gedankenlos der Droschke nach. Komisches Mädel! ... Schad’ um sie ... Was aus der wohl mal wurde ...? Er rappelte sich ärgerlich zusammen. Nun war er frei. Er schritt die Linden hinauf. Und seltsam: Vorhin war er ungeduldig gewesen, das Mädchen loszuwerden. Jetzt hätte er sie sich am liebsten wieder an seine Seite gewünscht ... nur damit man nicht so allein war. Diese Stimmung ... diese Stunde war zu gross für einen einzelnen Menschen ...

Ein Meer von nassglitzernden Schirmen vor den hellen und dunklen Fenstern des Palais. Regen von oben. Nacht am Himmel. Undeutlich, hoch im Dämmern, riesig Mann und Ross und Dreispitz auf ragendem Sockel. Da reitet erzgegossen der alte Fritz. Und drüben, auf naher Brücke, der Grosse Kurfürst. Heute kommt er zu ihnen, der ihr Werk vollendet, vom Rhein bis an den Rhyn und von der Maas bis an die Memel. Und immer mehr Menschen, bis hin zum Kastanienwäldchen, zur Valerie, deren Erzrachen vor Paris in das erste Hoch auf den deutschen Kaiser hineingebrüllt, bis zum Zeughaus, wo die zerschlissenen Fahnen hängen, zum alten Hohenzollernschloss drüben an der Spree. Hier reden die Steine, der Boden spricht, hier schlägt das Herz von Preussen ...

... Und schlägt bald nicht mehr ...

Eine Bewegung vorne, ein Rauschen durch die Menge, ein Flüstern, ein Weinen von Damen, ein alter General vor Achim drehte sich schluchzend um, das Tuch vor den Augen ... Auf einmal wusste es jeder ... ahnte es ... Wilhelm der Siegreiche war nicht mehr ... Niemand hatte es eigentlich gesagt ... es war wie ein Wehen in der Nachtluft ... das Gefühl von Hunderten und Tausenden zugleich: Es ist geschehen ... Die Zeit hat sich erfüllt ...

Der Leutnant von Bornim ging davon. Benommen. Nur mit einem Gefühl: Ich muss hin und es dem Vater melden. Der sass in der Weinstube des „Kaiserhof“ an seinem Stammtisch mit anderen Granden des Reichstags. Seine Augen waren diesen Morgen trocken geblieben, als er den Sohn verstiess. Jetzt faltete der alte Mann die Hände und weinte und schämte sich der Tränen nicht. Nie in seinem Leben hatte Achim seinen Vater weinen sehen. Er hätte nie geglaubt, dass das möglich war. Jetzt erst, bei diesem Anblick, kam ihm die ganze Grösse dessen zum Bewusstsein, was geschehen. Und ein leiser Schauer lief ihm den Rücken hinunter.

Dann hob Exzellenz von Bornim den kleinen, vertrockneten Kopf mit dem schlohweiss gesträubten Haar.

„Nun gehen wir Alten!“ sagte er sonderbar ruhig zu den anderen verwitterten Grauschädeln um ihn. „Unser alter Herr ist uns voraus und macht Quartier. Wir kommen bald nach.“

Dass der Kaiser doch noch diese Nacht durch bis in die neunte Morgenstunde hinein geatmet hatte, das erfuhr man erst am nächsten Mittag. Ein Trauerflor senkte sich über Berlin. Achim von Bornim sah vom Fenster seiner Kasernenwohnung die langen Schleier der schwarzgekleideten Damen in dem nasskalten Märzwind wehen, das stumpfe Schwarz über dem Zylinder der Herren, in schwarz ausgeschlagenen Schaufenstern die Büsten Wilhelms des Siegreichen, in vielen Knopflöchern die geknickte Kornblume. In der Kaserne war es still. Es war, als hielte die Armee den Atem an. Noch war der sieche neue Kriegsherr nicht über die Alpen. Und in dieser feierlichen Leere und Weite nach dem Tode, die jeden, selbst den jüngsten Dachs im Kasino, zum ernsthaften Menschen machte, musste er, Achim von Bornim, noch einmal des Abends hinüber in die Luft der Zültzschen Stallung, in der der Pferdegeruch noch weitaus das Reinlichste war. Ilse kam ihm schon auf der Treppe der Schieberhöhle entgegen.

„Er ist nicht mehr da!“ meldete sie mit ihrer hellen Stimme. „Er ist in der Ritterstrasse, Achim!“

„Warum denn, zum Kuckuck?“

„Erst wurd’ es ihm hier in der Haferkiste zu eng. Die Spazierhölzer schliefen ihm ein, sagt’ er! Da kam er oben in den Kleiderschrank. Da passt’ ihm das viele Stehen im Dunklen auch nicht. Da kroch er auf den Heuboden. Da kriegte er Heufisselchen in die Nase und musste immer niesen. Da stieg er wieder ’runter und sagte, hier sei kein Milieu für Kavaliere. Da ist er jetzt, wie’s dunkel wurde, zu Herrn von Flissak!“

„Dem Heiratsvermittler?“

„Ja. Er erwartet dich dort!“

Achim von Bornim unterdrückte einen Fluch und wandte sich zum Gehen. Die Kleine legte eilig und eifrig Hut und Mäntelchen an.

„Ich muss mit. In Zivil weiss Herr von Flissak ja nicht, wer du bist! Da nimmt er gar nicht die Sperrkette von der Türe. Der kennt auch seine Pappenheimer ...“

Eine eiskalte gute Stube mit Paneel und Sofa-Umbau. Staubige Makartsträusse. Goldfische im Glas, wie ein glückbringendes Vorzeichen für die Heiratskandidaten. Herr von Flissak spielte gegen den Leutnant den kordialen älteren Kameraden.

„Unser alter Herr ...! ... Ja ... Herr von Bornim ... da blutet jedes Preussenherz ... Man hat doch gedient ... Man hat doch nicht umsonst so und so viel Jahre seinen Krötenspiess an der Seite getragen ... Können Sie mir nachfühlen ... was? ... Zigarre gefällig? ... Dürfen Sie unter Brüdern rauchen ... sind ja zwei Brüder ... haha ...“

Und von der anderen Seite drängte seine Frau, eine Schöneberger Bauerntochter, die ganz in die Breite gequollen war und kein Korsett unter dem Hauskleid trug: „Setzen Sie sich doch jefälligst, Herr Baron! Nehmen Sie uns doch nich die Ruhe aus dem Haus!“

Der junge Gardeleutnant sah über das Ehepaar mit frostigem Hochmut hinweg. Er suchte Lüdecke. Da kam der Kerl endlich. Verschwiemelt ... die frühere Bordeauxröte des Gesichts in das Schlappgraue übergegangen. Heu im Haar! ... zerdrückter Stehkragen ... dabei immer noch herablassende Würde ...

„Gib mir die Billette! Wie heiss’ ich? ... ‚Friedrich‘ ... gut! ... ‚Wilhelm‘ ... auch gut ... ‚Müller‘ ... grässlich ... nee, Kinder ... nicht Müller ... den Namen hab’ ich schon mal wo gehört ... na meinetwegen ... Wink des Schicksals ... Drüben nenn’ ich mich gleich Mr. Miller ... damit imponiere ich den Grünhörnern von vornherein ... was ...?“

Es war nicht mehr die alte ungekünstelte Frechheit. Seine Stimme hatte einen falschen Nebenklang wie von einem Sprung in der Kehle. Ach was! Haltung! Haltung! ... ’rin ins Vergnügen! Er kniff sich das Monokel ins Auge und trällerte den Gassenhauer aus dem ‚American Theater‘:

„Ich stell’ euch hier Susanne vor,

Ein Mädchen, das ich lieb’ ...“

Trällerte ... und der Kaiser war noch nicht unter der Erde ... Achim und Ilse tauschten einen Blick. Er war ihnen unendlich widerwärtig in dieser Sekunde. Sie fühlten es jeder vom andern. Fühlten sich darin einander nah ...

„Auf den Lehrter Bahnhof? ... Nicht zu machen!“ sagte Lüdecke. „Dort stehen die Häscher! ... Ich rutsche mit der Stadtbahn ab, ein schlichter Bürger unter anderen ... von Charlottenburg per Achse nach Spandau, und da erst in den Hamburger Zug ... Adieu ... Kinder! ... Habt euch lieb ... morgen können sich die Leute hier meine Wechsel sauer kochen lassen ... Adieu ... Adieu ... Adieu ...“

Sie brachten ihn auf den Bahnhof Börse. Er sass da grossartig in seinem überfüllten Abteil am Fenster. Als der Zug sich in Bewegung setzte, streckte er den Kopf noch einmal hinaus und schrie: „Schickt mir eure Verlobungsanzeige, wenn es so weit ist!“

Achim und Ilse wussten nicht, was sie zu dieser letzten Dummheit sagen sollten. Darum lachten sie beide. Dann fiel ihnen ein, dass jetzt doch kein Mensch in Berlin lachte. Das machte sie wieder verlegen. Auf Ilses Wangen erschien ein leises Rot. Er merkte das, und zugleich wurde auch er rot. Und sie sah das bei ihm.

Als sie vom Bahnsteig herunterkamen, blieb Achim von Bornim stehen.

„Sieh nur ... dies tolle Wetter ...“

Ein Schneesturm heulte über Berlin. Die Flocken strichen schräg wie fliegende Schleier. Dächer und Strassen schimmerten weiss. Es war wie im tiefsten Winter statt kurz vor der Tag- und Nachtgleiche. Schneidender Nordost pfiff um die Häuserecken. Keine Droschke in Sicht. Sie kämpften gegen den Sturm, der Ilse den Atem benahm, dass sie sich unwillkürlich an ihren Begleiter schmiegte. Er hielt sie fest an sich gedrückt. So kamen sie an dem Hohenzollernschloss vorbei, das als ungeheure dunkle Masse in dem Stöhnen und Brausen der Nacht stand. Gegenüber, als ebensolche mächtige Kuppelwölbung, der alte Dom mit hellen Fenstern. Um sie beide auf der finsteren Fläche, die die Laternen im Schneegewirbel kaum erleuchteten, Menschen, immer mehr Menschen ... Offiziere ... Damen in Kopftüchern ... jetzt in der tobenden Geisterstunde ... Schutzleute ...

Und von drüben, von den Linden her, schwankte es heran wie eine Vision der Nacht. Riesenhaft über den Köpfen der Menge der schwarze Katafalk mit der flockenumstiebten Kaiserkrone, blutiger Fackelglanz in jähen Lichtern, die grauen Mäntel und flatternden Haarbüsche der Garde ... blankes Degengeglitzer ... Generalsfedern im Sturm ... Langsam, mit der Wut des Wetters ringend, zog der mitternächtige Zug mit der Leiche des Kaisers zur Aufbahrung nach dem Dom. Der Schnee fiel ringsum auf entblösste Häupter. Irgend jemand rief durch das Heulen des Windes: „Der Kaiser ist vor einer Stunde auf dem Bahnhof Westend angekommen ...“

Der Kaiser? ... Da tragen sie ja drüben, was sterblich an ihm war, auf den Schultern seiner Getreuen die Stufen hinauf in das Portal ... Nein ... der Kaiser ist tot ... Es lebe der Kaiser ... ja ... wenn er nur lebte ... der duldende, krank aus dem Süden kommende Mann ...

Weiterhin, am Kupfergraben, nach der Museumsinsel zu, war es auf einmal menschenleer und öde. Unheimlich öde, zwischen Häusern und Fluss in der schwarzen Nacht, dem leichentuchfarbenen Weiss. Nur der Sturm stöhnte und klagte ohne Unterlass. Achim und Ilse wateten einsam durch den Schnee. Vor ihrer beider Augen stand noch, in fast schauriger Grösse, das Bild des Leichenzugs. Ihre Nerven bebten. Auf einmal machte Ilse von der Zültz halt und brach in wildes Weinen aus.

„Um Gottes willen — was hast du denn?“

„Ach Gott ... ich bin so allein auf der Welt ...“

„Was?“

„Niemand will mich ... Niemand braucht mich ... Niemand hat mich ein bisschen lieb ... Meine Mutter ist tot ... Mein Vater ...“

„Aber Ilse ...“

„Was wird denn nur aus mir? Manchmal fürchte ich mich so ... hilf mir, Achim ... bitte ... bitte ... ich hab’ sonst niemand ...“

„Wie soll ich dir denn helfen, Ilse ... sag doch nur ...“

Er schaute ihr fragend in das von Sturm und Winterfrost blasse Gesicht mit den nassen Augen und den kalten roten Lippen. Plötzlich schlang sie die Arme um ihn und küsste ihn durstig auf den Mund. Er erwiderte den Kuss. Und sie den seinen. Sie küssten sich hastig, heiss, wohl ein dutzendmal. Dann sagte sie: „Ich hab’ dich so lieb ...“

Und wieder nach einem Kuss von ihm: „... so lieb, Achim ...“

Und dann — und ihre Stimme klang schon getröstet: „Wenn ich nur dich hab’ ...“

„Ilse ... liebe Ilse ...“

Er küsste sie wieder. Sie hielt glücklich still. Dann bat sie leise, immer noch mit geschlossenen Lidern: „Ach ... jetzt ist’s gut! ... jetzt bring mich nach Hause! Bitte, nach Hause ...“

Sie gingen Arm in Arm durch die Menschen der Friedrichstrasse bis zum Oranienburger Tor. Sie redeten fast nichts mehr, bis sie im Hof standen und läuteten und Kaspar von der Zültz persönlich mit Licht und Schlüssel die Treppe hinabgestiegen kam und seine Tochter in Empfang nahm. Bei seinem Anblick verabschiedete sich Achim von Bornim rasch. Er ging in die Nacht hinaus. Er fühlte sich wie im Traum. Er blieb es die folgenden Tage. Er war es noch, als er mit gezogenem Degen im Trauerspalier Unter den Linden stand ... Ganz Berlin in Trauer. Ein ganzes Volk. Ein ganzes Reich. Die Linden in den Preussenfarben: schwarzen Fahnen und weissem Schnee, der, in mauerhohen Hügeln zusammengeschaufelt, die Bordschwelle einrahmte. Es war schneidend kalt. Zehn Grad und mehr. Schwerer grauer Himmel. Blutrot flammten die offenen Pechpfannen, fahlgelb leuchtete das Gas in den umflorten Kandelabern durch die trübe Tagesluft. Vom Dom herab reihten sich bis zum Tiergarten die Truppen ... die Veteranen ... die Studenten ... Zum letztenmal senkten sich die Banner vor Wilhelm dem Siegreichen auf seinem langen, langsamen, von Trauermärschen durchschütterten Leichenzug nach dem Brandenburger Tor. ‚Vale, senex imperator‘ stand dort oben in riesigen Goldlettern. ‚Fahr wohl, du greiser Kaiser!‘ ... Und mitten in dieser Ergriffenheit, dieser feierlichen Nacht und Nähe des Todes war plötzlich in dem Leutnant von Bornim wieder der Ruf des Lebens: ... Sie ist so jung ... sie hat mich so lieb ...

Stark wie die Mark

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