Читать книгу Stark wie die Mark - Rudolf Stratz - Страница 8
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ОглавлениеDicker, bläulicher Zigarrenrauch in der schmalen Wandelhalle des alten Reichstags, dumpf von aussen das Menschenbrausen und Pferdebahngeklingel der Leipziger Strasse. Lautloses Hin und Her der Diener mit ihren Briefen und Aktenstücken, Auf- und Niedergewandel bebrillter ironischer alter Reichsboten in murmelndem Kuhhandel und Sammeln von Unterschriften für einen Antrag, Geflüster wie von zwei Verschwörern in der Ecke, eine gelassene Gruppe in den breiten Lederstühlen am Eingang ...
Die Türe zum Saal öffnete sich. Man hörte einen Augenblick eine Stimme, die gleich wieder erstarb.
„Wer spricht denn?“
„Immer noch Virchow, Exzellenz!“
„Pah!“ sagte der alte Herr von Bornim und rauchte. Er war gealtert in diesen letzten drei, vier Jahren. Immer noch leuchteten seine blauen Blücheraugen kriegerisch in die Welt. Aber das Gesicht war kleiner geworden und, in all seiner gefurchten Strenge, verfallen. Diese schwere Erkältung bei der siegreichen Septennatswahl, gerade jetzt vor einem Jahr ... wozu waren eigentlich die Esel von Ärzten auf der Welt, wenn sie einen alten Mann wie ihn seitdem nicht mehr wieder recht auf die Beine brachten?
Um ihn herum Parteigenossen. Herren von altem Schrot und Korn. Stützen des Throns. Der Abgeordnete Dr. von Pfeiffendorf-Pfiffel, der erst diesen Morgen von seinen schlesischen Gütern in die Stadt gekommen war, beugte den wettergebräunten Kahlschädel vor und erkundigte sich besorgt und halblaut: „Wie ist das mit dem Befinden von Majestät?“
Ein allgemeines, vielsagendes Kopfschütteln. Hier wusste man mehr und wusste es früher als bei den anderen Parteien ...
„Der plötzliche Tod seines Enkels in Baden ... Majestät kommt nicht darüber hinweg ...“
Ein nachdenkliches Schweigen. Vielleicht würde es ja auch wieder besser ...
Der Fürst Hunold von Elch-Altelch, ein riesenhafter, blonder Mann, blieb im Vorbeikommen stehen.
„Wissen Sie vielleicht: Ist Moltke im Haus?“
Jawohl. Der Feldmarschall war da. Innen im Saal. Hörte gewissenhaft den Rednern zu, als die Verkörperung preussischen Pflichtgefühls. Immerhin erschien er nur bei grossen Anlässen. Dazu war heute kein Grund. Allerdings: Bismarck war in Berlin. Man konnte nie wissen, wann sich um die Ecke herum, von der ganz nahen Wilhelmstrasse her, Blitz und Donner entlud.
Durch die Glastüre der Wandelhalle erschien ein junger, schlanker, hochaufgeschossener Leutnant im Überrock der Gardeinfanterie, zu Mitte der zwanzig, einen dunkelblonden Schnurrbart in dem dienstlich-straffen, lebhaften und hochmütigen Gesicht. Er hatte eine zwingende Selbstverständlichkeit an sich, mit der er die Einwendungen des Türhüters durch eine lässige Handbewegung abschnitt, und der alte Herr von Bornim sprach erfreut zu den anderen: „Da kommt mein Jüngster!“
Achim von Bornim trat heran. Er verbeugte sich mit der lächelnden Wohlerzogenheit eines korrekten jungen Offiziers vor den Herren. Der Alte stellte ihn vor und sagte dann: „Ich hab’ dich kommen lassen ... ich muss etwas mit dir besprechen ... setz dich einstweilen ... ich bin gleich so weit ...“
Dabei eilte er auf einen kleinen, im Saal auftauchenden Herrn mit viel zu grossem Kopf und dem Gesicht eines geistvollen Froschkönigs zu, dem viele Blicke folgten. Er winkte: „Einen Augenblick, Kollege!“ Windthorst blieb stehen, und die beiden kleinen Exzellenzen, die sich trotz ihrer getrennten Lager in bibelfestem Glauben trafen, vertieften sich in ein eindringliches Wispern ...
Achim von Bornim war inzwischen, straff aufgerichtet, den Säbel zwischen den Knieen, bei den anderen Abgeordneten sitzen geblieben. Der Fürst von Elch, dem der junge Leutnant gefiel, zog ihn wohlwollend ins Gespräch.
„Wie lange sind Sie schon Offizier?“
„Drei Jahre, Durchlaucht!“
„Und es gefällt Ihnen?“
„Famos, Durchlaucht!“
„Gehen Sie denn auch viel aus?“
„Jawohl, Durchlaucht! Diesen Winter war ich auch zu Hof befohlen!“
„Nun — da haben Sie wohl Einladungen genug?“
„Zu Befehl, Durchlaucht! Beinahe in allen Ministerien und Botschaften!“
„Und das macht Ihnen Spass — wie?“
„Sehr, Durchlaucht!“
„Er ist nicht fürs Kasinohocken!“ sagte Exzellenz von Bornim, von seiner Unterredung mit der Perle von Meppen zurückkehrend, und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. „Er weiss, dass man von Skat und Bier nur dick und dumm wird ... Und dumm ist er nicht! Ja, schau nur so scheinheilig drein, mein Sohn! Dich kennt man! ... Du bist ’n geölter Aal! Um dich ist mir nicht bange ...“
„Hans Christoph lässt grüssen, Papa!“ sagte Achim, sofort mit einem instinktiven Takt das Gespräch von sich abwendend. „Ich war gestern mit ihm zusammen und mit ’nem Haufen anderer Diplomaten. Ich glaub’, ein paar von denen wissen mehr von ihm als er selber. Sie machten so Anspielungen, als würde er nächstens nach Südamerika verschickt. Er hat aber nichts davon gemerkt!“
„Ach, er merkt ja nie etwas!“ meinte Exzellenz von Bornim trocken. Der Fürst von Elch-Altelch erkundigte sich leutselig: „Sie sind viel mit Diplomaten zusammen, Herr von Bornim?“
„Ja, Durchlaucht! ... Man hört doch mal was anderes als den Kommiss. Es rostet einem ja auch sonst das Englisch und Französisch ein ... Ich hatte vorige Woche den Vorzug, einem Neffen Eurer Durchlaucht während seines Berliner Aufenthalts als Begleiter dienen zu dürfen.“
„Ach ... der kleine Belgier! ... Der Christoph Bergham!“
„Jawohl, Durchlaucht! ... Seine Hoheit war sehr gnädig!“
Der Leutnant von Bornim sass straff und ehrerbietig da. Seine ganze Haltung drückte unauffällig das volle Gefühl der Ehre aus, sich im Gespräch mit einem Manne wie dem Fürsten Elch, dem allmächtigen schlesischen Magnaten und dreissigfachen Millionär, zu befinden. Herr von Pfeiffendorf, der derbe Landjunker, sagte unverblümt zu dem alten Bornim: „Hätten Sie lieber den da Diplomat werden lassen, Exzellenz, statt Ihres Ältesten!“
„Der Hans Christoph übernimmt doch einmal das Gut. Wieviel Seide er inzwischen im Auswärtigen Amt spinnt, ist schliesslich egal. Und der Bengel da — der beisst sich schon durch! Der verschimmelt nicht in der Kaserne. Den seh’ ich schon als prinzlichen Adjutanten oder zu einer auswärtigen Botschaft kommandiert. Vor dem liegt die Welt offen!“
Neben ihm lachte der sonst so würdevolle, riesige Fürst laut auf und meinte: „Woher wissen Sie denn nur um Gottes willen, in welchem Wahlkreis ich gewählt bin, Herr Leutnant von Bornim?“
„Oh, Durchlaucht — das interessiert mich doch — Ich hab’ die Wahlen voriges Jahr genau verfolgt, wo sie doch so kolossal anständig ausgefallen sind! Ich bin auch oft auf der Tribüne und hör’ zu!“
Der Magnat stand auf und drückte dem jungen Offizier die Hand: „Hat mich sehr gefreut, Herr von Bornim! ... Lassen Sie sich mal bei mir sehen, hier in Berlin!“
„Ich danke gehorsamst, Durchlaucht!“
Achim von Bornim verbeugte sich tief vor dem sich entfernenden Grossen des Landes. Sein Vater warf den anderen einen Blick zu: ‚So macht er’s! Wickelt sich die Leute um den Finger!‘ Dann rückte der junge Gardeoffizier seinen Ledersessel zu ihm heran und lachte vergnügt: „Zwei Fliegen mit einer Klappe, Papa! ... Von neulich her krieg’ ich todsicher einen belgischen Piepmatz versetzt — na, wenig, aber mit Liebe — und heute die Einladung zu den Elchs ... Bei denen in der Vossstrasse verkehrt, was gut und teuer ist ... Nächste Woche bin ich zum letzten Hofball befohlen. Nee: der Winter war wirklich tip-top ... hat mich kolossal vorwärtsgebracht ...“
„Nächsten Mittwoch ist unsere grosse Volksversammlung!“ sagte hinter ihm ein Herr zu den Abgeordneten. Er trug einen dunklen Kaisermantel und hielt seinen Schlapphut in der Hand, ein Zeichen, dass er nicht zu den Reichsboten selbst gehörte. „Kommen Sie nur hin, meine Herren! Entdecken Sie Berlin! Was wissen Sie hier von der Not des Nordens?“
Er sah in seiner straffen Haltung, mit seinem schnurrbärtigen energischen Kopf wie ein Hauptmann in Zivil aus. Der junge von Bornim sprang auf und begrüsste den Pfarrer Freiherrn Sittig von Slawatz, einen Mann von uraltem pommerschem Geschlecht, dessen Bruder als Rittmeister in Ostpreussen seit vielen Jahren mit Achims ältester Schwester in wenig glücklicher Ehe verheiratet war. Dann ging der Diener am Johannistisch, einer der Führer der inneren Mission und der Berliner Bewegung, weiter, und Exzellenz von Bornim sagte zu seinem Sohne: „Na, komm! Wir wollen einmal der Fraktion Schulze beitreten!“
Schulze war der Ökonom des Reichstags. Er verschenkte Sekt in Gläsern. Die beiden Bornim stärkten sich und liessen sich dann nieder, und der Vater hub an: „Ich hab’ dich wegen dem Lüdecke herzitiert, Achim! Du weisst, ich kenn’ ihn nicht mehr seit einem Jahr — seit er wegen seiner dummen Streiche hat die Uniform ausziehen müssen und nun unserem lieben Herrgott in Berlin die Tage stiehlt. Ich will ihn nicht mehr sehen und nicht mehr sprechen. Er kommt mir nicht mehr vors Gesicht! Aber leider zu Gehör! ... Was ist denn das für eine Geschichte, wo er dich gebeten hat, dass du bei mir vermitteln sollst ...?“
„Ja — diesmal ist die Chose ganz brenzlig, Papa! ... Mulmig bis in die Puppen! Er und Libochowitz und Rehfisch ...“
Der alte Herr machte ein Gesicht, als hätte er auf eine Spinne gebissen.
„Was hat er denn da für Kerle aus der Gosse gefischt?“
„Dieselben, die seinerzeit Kaspar Zültz stranguliert haben! Krawattenmacher erster Güte! Lüdecke und der Zültz stecken doch ewig zusammen!“
„Zültz hätt’ auch besser zielen können, vor vier Jahren!“ sagte Wilke von Bornim.
„Ja, der liebe Gott wollt’ ihn doch noch nicht haben! Und seit er sich nun hier in Berlin als höherer Pferdeschmeisser aufgetan hat ... der hat Lüdecke mit der ganzen Schwefelbande bekannt gemacht! ... Es ist grässlich, Papa: Manchmal verwechseln mich die Leute mit dem Lüdecke und schicken mir ihre Drohungen mit dem Gericht ins Haus ... jawoll! Mit dem Gericht! ... Lüdecke hat doch längst den Offenbarungseid geleistet. Aber er pumpt friedlich weiter. Hat auf seinen Namen hin die ganzen Linden und Friedrichstrasse abgegrast. Pelze, Uhren, alles ... Und dann gleich damit ins Leihhaus. Nun ist den Leuten allmählich doch ein Talglicht aufgegangen. Nu heisst’s zahlen oder Staatsanwalt!“
„Wieviel?“
„Zwanzigtausend Emmchen mindestens ... vorläufig ... sagt Lüdecke ...“
„Und du sag Lüdecke: Nichts! Auch wenn ich’s hätte! Aber ich hab’s nicht! Sommerwerk gibt nichts mehr her! Nur noch das Leben. Die Eva-Marie sitzt jetzt noch da und kann ihren Husar nicht heiraten! Von ihren Schwestern ganz zu schweigen! Lüdecke soll selber sehen, wie er zu Gelde kommt! Oder nach Amerika kommt! Ich kann’s nicht ändern! Triffst du ihn irgendwo?“
„Gott ... ein Genuss ist es ja gerade nicht, aber ich gehe eben in Gottes Namen mal bei der Zültzschen Pferdebude ’ran! Da ist er mittags immer! ... Da wird nach Noten quergeschrieben und so Zeugs!“
„Hör mal, Achim: du hast doch keine Schulden?“
„Nicht einen Groschen, Papa! Da wär’ ich doch schön dumm, wenn ich mir so unnütz meine Karriere ruinieren wollte!“
„Gut! Und wenn dir der Zültz über ’n Weg läuft, bestell ihm, ich liess’ ihn dringend ersuchen, mir nächstens einmal hier im Reichstag das zweifelhafte Vergnügen seines Besuchs zu schenken. Ich hätte mit ihm zu reden! Verstanden?“
„Ja, Papa!“
„Wegen seiner Tochter! Was er sich dabei wohl eigentlich dächte, dass wir, seine ehemaligen Nachbarn von Wendisch-Wiesche, seit Jahren für das Mädel zahlen, damit sie anständig in einer Schweizer Pension erzogen wird ... und er holt sie sich jetzt auf einmal mit kaum achtzehn mir nichts, dir nichts heim, hierher, unter seine Rossäppel am Oranienburger Tor! Das ist ein Unfug! Das muss auch ein Liederjan wie Kaspar Zültz einsehen, dass das auf die Dauer unmöglich ...“
Von der östlichen Seitenwand der Halle ertönte durch die Mauern ein dumpfer Donner. Das rasche Rollen eines Wagens durch die Torwölbung in den Hof des Reichstags. Es schütterte wie ein Stoss aus Riesenfaust durch das ganze Gebäude weiter. Die Abgeordneten in der Wandelhalle fuhren schlaftrunken aus ihren Stühlen, liefen, angefangene Briefe im Stich lassend, aus dem Schreibzimmer, stürmten kauend vom Büfett her, stürzten aus der Bibliothek, rannten, ihre Zigarren wegwerfend, nach der Ledertüre zum Sitzungssaal. Die riss ein Abgeordneter von innen auf und streckte seinen Kopf heraus, der kahl wie eine Billardkugel und mit unzähligen, weissgewordenen Schmissen übersät war.
„S. D.!“
Seine Durchlaucht! ... Fürst Bismarck war im Hause! Drinnen hörte keiner mehr auf den Redner. Ein plötzliches durchdringendes Klingeln überall, ein Sturmläuten durch alle Stockwerke und Zimmer, ein Strömen von atemlosen Nachzüglern ... Wilke von Bornim drückte seinem Sohn die Hand, schloss sich den letzten an und kam gerade noch, auf den Fussspitzen, zurecht in ein plötzliches Todesschweigen innen in dem halbrunden Sitzungssaal. Und durch die Stille ein paar geschäftsmässige, nüchterne Sätze. Die Stimme des Präsidenten: „Der Herr Reichskanzler hat das Wort.“ ...
Achim von Bornim stand auf einmal fast allein in der verödeten Wandelhalle. Schiefgerückte Stühle, noch glimmende Zigarren, Zeitungen am Boden zeugten von dem jähen Aufbruch. Er ging, unwillkürlich selbst behutsam in Bismarcks unsichtbarer Nähe, hinüber in den Warteraum für das Publikum. Da standen Hunderte am Eingang. Die Glasscheiben waren schwarz von Menschen, die wie Fliegen daran klebten. Er selbst war wenigstens schon innen. Eben stürmten ein paar Glückliche, die noch Eintrittskarten erwischt hatten, die Treppe hinauf, Offiziere, zwei Stufen aus einmal nehmend, Damen mit wildgerafften Röcken. Er eilte hinterher. Die Türe zur Tribüne war noch offen. Er drängte sich mit den andern hinein ... blieb stehen, suchte mit den Augen ...
Unten im Sitzungssaal die vielen, vielen Glatzen ... die Grauschädel, wenige lockige Häupter, Kopf an Kopf nach vorn zusammengedrängt — die erhöhten hinteren Reihen gespenstig leer — alles stehend vor der Tribüne. In der Hofloge die Federhüte der Prinzessinnen, die Uniformen der Fürsten, die Diplomatentribüne plötzlich knüppelvoll ... Die Journalisten daneben gepfercht wie eine Hammelherde ...
Pscht! ... Pscht ... um Gottes willen Ruhe! ... Kein Wort verlieren ...
Und durch diese Totenstille von tausend Menschen die wohlbekannte, seltsam helle, seltsam stockende, die Worte suchende Stimme ... Gehört sie wirklich dem mächtigen Halberstädter Kürassier da hinter dem Rednerpult? Sein schwefelgelber Kragen leuchtet über dem dunkelblauen Überrock, die buschigen weissen Augenbrauen blitzen ... im trüben Mittagslicht von oben dieser feine, kleine, wie von Künstlerhand aus Elfenbein geformte Kopf — nichts Säbelrasselndes — nichts Wuchtiges — der vornehme Diplomat in Uniform ... ritterliche Leichtigkeit in jeder Bewegung des riesenhaften Körpers ... wie er scheinbar suchend mit der Hand nach der Rocktasche fasst, das Glas mit gelblicher Flüssigkeit ergreift, das vor ihm steht — wieder ein Stocken — ein schweres Räuspern durch den schweigenden Raum ...
„Verzeihung, Herr Leutnant ... die Karte ...“
Der Saaldiener flüsterte es.
„Ich hab’ keine ...“
„Dann müssen Herr Leutnant hinaus!“
Achim von Bornim seufzte. Da hinten in der ersten Reihe der Rechten sass ein General, ein Bein über das andere geschlagen ... die Arme gekreuzt ... das Auge unverwandt lauschend auf Bismarck dicht über ihm gewendet — einsam ... schweigsam ... feierlich ... wie ein alter Adler im Horst ... Noch ein Blick auf Moltke ...
„Herr Leutnant ... bitte ...“
Nun war er draussen. Auf einmal wieder in der Wirklichkeit. Im Alltag. Unter dem trüben Winterhimmel, auf der Leipziger Strasse. Da standen die Leute in Massen und warteten auf Bismarck. Die Pferdebahnwagen kamen kaum durch. Der Leutnant von Bornim bahnte sich seinen Weg quer über den Fahrdamm und schlenderte dann langsam, den Kopf noch voll von dem Gesehenen, durch die leere, würdevolle Leipziger Strasse, und über die Linden gen Norden.
Diese Gegend hinter der Kaserne des zweiten Garderegiments und der Pepinière, dies Quartier Latin, dieses Oranienburger Tor mit seinen vielen verdächtigen roten Laternen — pfui Deubel ja ...! Menschen auf der Strasse ... man glaubte kaum, dass man noch in Berlin war, dem festlich schmucken, winterlichen, von der Hohenzollernsonne und dem Glanz der Armee verklärten Berlin drüben zwischen Schloss und Brandenburger Tor, in dem man sich so wohl fühlte. Man fand sich hier gar nicht zurecht ... na, Gott sei Dank ... endlich ein Schutzmann ...
„Der Tattersall des Nordens? ... Jawoll ... Warten mal Herr Leutnant ... Also da drüben das zweite Haus von der Ecke und dann über ’n Hof ...“
Auch noch über den Hof! In Gottes Namen. Mit leisem Säbelklirren ging Achim von Bornim über das schmutzige Pflaster. Wäsche hing in den Fenstern zu ebener Erde ... Müllkasten standen darunter ... schmierige Strassengören glotzten einen an ... Da hörte er, wie einen Widerhall seines Säbels, ein Sporenklingen um die Ecke, von der Türe zur Reitbahn her ... Endlich einmal eine anständige Erscheinung in dieser Wildnis: ein junger Kürassierleutnant, gross, blond, rosig, ein bisschen zu dick, mit verwöhnt lächelndem Gesicht ...
Und in dem Gesicht ein roter Schmarren auf der Backe, ein zweiter auf der Stirne ... ‚Herrgott — die Schmisse kenn’ ich doch! ...,‘ sagte sich Achim von Bornim. ‚Das ist doch ein Stück Handarbeit von mir!‘ Fast zugleich grüssten sich die beiden Offiziere, wollten aneinander vorbeigehen, zögerten, blieben stehen und gaben sich die Hand.
„Na ... erkennen Sie Ihren alten Feind von der Kriegsschule wieder, Herr von Bornim?“
„Das wollen wir nun begraben sein lassen, Herr Kamerad Lauckardt! ... Ich hab’ mir ja nun auch in diesen Jahren gereiftere Ansichten über die menschlichen Dinge angewöhnt!“
„Wie geht’s Ihnen denn?“
„Famos! Und Ihnen?“
„Ja, Sie Glücklicher! ... Berlin ... Garde ... Sitzen Sie mal Jahr um Jahr auf den Dörfern im Osten ... Garnisonen kann man’s kaum nennen ... ein Stumpfsinn ... trotz Jagd und Landverkehr ... Wissen Sie, wenn ich so auf Urlaub Berliner Luft atme, dann hab’ ich immer den Verdacht: Ich werd’ nicht alt beim Kommiss! ... Tret’ eines schönen Morgens zur Reserve über ...“
„Was machen Sie denn hier in Berlin?“
„Gaul kaufen ... nicht leicht, wissen Sie, bei meinem Gewicht! Ich bring’ in Helm und Kürass rund zwei Zentner in den Sattel! Nun hat man mir hier diesen Herrn von der Zültz empfohlen ... aber ich weiss nicht ... Gerade vertrauenerweckend ... Was halten Sie von ihm?“
Achim von Bornim zuckte diplomatisch die Achseln.
„Pferdehandel kommt überall gleich nach dem Vatermord! Das weiss doch so ein alter Kavallerist wie Sie besser als ich!“
Der Kürassier lächelte geschmeichelt. Er zwinkerte vertraulich: „Sie kommen wohl auch nicht bloss wegen den ollen Mistviechern von Gäulen hierher ...?“
„Weswegen denn sonst?“
„Na ... sagen Sie mir’s doch ... ich bin doch hier fremd ... wer ist denn das reizende Mädel? ... Ich hab’ sie leider nur einen Augenblick hinter dem Fenster gesehen!“
„Wahrscheinlich seine Tochter!“
„Wahrscheinlich ist gut! — Sie ... Sie kundiger Thebaner! Na, Waidmanns Heil! ... Hat mich sehr gefreut!“
„Meinerseits! ’Morgen!“
Achim verabschiedete sich kühl. Er ärgerte sich wieder über den dicken Burschen und seine Art, von den Zültz’ zu sprechen. Na freilich: Staat war mit dem ehemaligen Wendisch-Wiescher nicht zu machen. Da stand er drinnen im Dämmerlicht des Stallgangs, lang und schlank, immer noch ein schöner Mann, gerade jetzt, wo die Not des Lebens die abenteuerliche Unruhe seiner Züge veredelt hatte und die ersten grauen Fäden in seinen dunklen Spitzbart wob. Er schien tadellos angezogen ... Hier im Zwielicht. Erst draussen im hellen Tag sah man die kleinen verräterischen Verfallszeichen, die Sprünge in den Lackschuhen, die abgegriffene Zylinderkrempe, den ausgefransten Kragen. Und wenn er grüsste, eine verräterische, kahle, tief eingewölbte Stelle über dem Schläfenhaar. Die Narbe des Pistolenschusses. Aber er kam nicht oft dazu, zu grüssen. Merkwürdig häufig geschah es, dass jemand gerade nach der anderen Seite schaute ...
Neben ihm lehnte Lüdecke von Bornim. Tip-top gekleidet. Bester englischer Stoff und Schnitt. Das Monokel in dem weinroten, etwas gedunsenen, von Bartkoteletten eingerahmten Gesicht. Den hechtgrauen Zylinder ins Genick gerückt. Er lächelte süffisant. Nahm die Mitteilung seines Bruders, dass vom Vater her keine Hilfe in Sicht, sehr grossartig auf.
„Tut auch nicht not!“ sprach er nachlässig, die Asche seiner Havanna abstreifend. „Wir haben ein Geschäft vor ... in acht Tagen sind wir gemachte Leute ...“
„Die Sache wird gedreht!“ bestätigte heiser Herr von Flissak, ein kleiner, blonder Gewaltmensch, der als dritter dabei stand. „Wir haben schon mehr Kisten zusammen uffjemacht — wat?“
Er berlinerte absichtlich. Er schien das als einen Beweis von Geschäftstüchtigkeit zu betrachten. Anno Olim war er auch einmal Leutnant gewesen. Die Rangliste von 1878 verzeichnete ihn mit „Ausserdem Abgang“. Nette Blase! Achim von Bornim sagte mit dem ganzen Hochmut seines Standes, als der kleine Herr ihm mit klebriger Vertraulichkeit zu nah auf den Leib rückte: „Pardon! Ich habe nicht das Vergnügen ... Komm doch mal beiseite, Lüdecke! ... So! ... Also ich kann Papa beruhigen, dass du ...“
„Der alte Gott lebt noch!“ sprach der Spieler bieder und biss die Spitze einer neuen Zigarre ab. „Vorläufig wenigstens bin ich ... Kennste die Ähnlichkeit zwischen mir und ’nem Börsenpapier? Stark gefragt! Von meinen Gläubigern nämlich! ... Scherz von Flissak! ... Ulkige Kruke! ... Ich bin darum tagsüber lieber nicht in meinen Gemächern, sondern stecke hier hinter Zültzens Haferkiste ... Merken diese minderbegabten Manichäer nie. Aber über ein Kurzes werdet ihr mich sehen, die Taschen voll Pinke-Pinke! Jawohl, alter Junge! ... Los, Flissak ... Wir pirschen uns so sachtemang ins Freie! Willem — hast du aufgepasst? ... Ist die Luft rein?“
„Jawoll, Herr Baron!“ meldete von hinten die Stimme des Stalljungen, der vorsichtig seinen Kopf auf die Strasse hinausgesteckt hatte. Die beiden marschierten ab. Herr von der Zültz sah auf.
„Ihr Herr Vater wünscht, dass ich ihn einmal aufsuche, Herr von Bornim? Hohe Ehre! Mit Vergnügen! Bitte inzwischen meine besten Empfehlungen an Exzellenz! Er hat mir ja damals quasi die Pistole in die Hand gedrückt ... Aber er hat wenigstens für mein Kind gesorgt! Das werde ich ihm nicht vergessen!“
„Ja, und jetzt ist er sehr böse, dass Sie sie plötzlich eingeheimst haben!“
„Ich?“ Der Pferdehändler machte einen offenen Mund, wie einer, der aus den Wolken fällt. Dann fuhr er sich kopfschüttelnd mit der Hand über die Stirne, als verstände er die Welt nicht.
„Ich ... eingeheimst? ... Die Ilse?“
„Ja, ist sie denn nicht hier?“
„Freilich!“
„Na also!“
„Aber ich hab’ sie nicht kommen lassen! ... Ausgekniffen ist sie aus ihrer Pension! ... Dagestanden hat sie eines schönen Morgens, ihr Köfferchen neben sich: Da bin ich! Ja — was nun?“
„Furchtbar einfach: sie einpacken und zurückschicken!“
„Lieber Herr von Bornim ...“ Kaspar von der Zültz legte dem jungen Gardeoffizier plötzlich beinahe väterlich die Hand auf die Schultern. Es zuckte schmerzliche Wehmut auf seinen schönen Zügen, Ergriffenheit ... Schauspielerei ... Echtheit ... Vieles durcheinander. „Setzen Sie sich in meine Lage: Mir hat unser Herrgott viel genommen! ... meine arme kranke Frau — es war ja eine Erlösung, wie wir sie vor zwei Jahren begraben haben — mein Gut ... mein Geld ... Er lässt mich nicht einmal hier in Berlin N auf ’nen grünen Zweig kommen ... Wollen Sie mir glauben, dass der letzte Juckertransport aus Ungarn wieder mit dem Husten angekommen ist ...? Ich hab’ doch nichts auf der Welt als mein Kind ...“ Er redete sich selbst in Rührung. Seine Augen wurden feucht. „Soll ich mein Kind von mir stossen, wenn es von selber zu mir kommt? ... Dazu hab’ ich nicht das Herz! ... Sie sind jung, Herr von Bornim! Ich werd’ alt ...“
Mit der sprunghaften Beweglichkeit seines Wesens glitt eine Helle über sein Gesicht. Er lief auf den Hof hinaus. „Nee — bleib mal!“ schrie er atemlos und kam zurück und sagte stolz: „Na?“
Neben ihm stand ein schlankes, hochaufgeschossenes junges Mädchen. Er wiederholte: „Na?“
Es kam nicht gleich eine Antwort. So spendete sich Kaspar von der Zültz selber Lob: „Kinder ... ich war mal ein schöner Kerl ... das merkt man nun an meiner Tochter!“
Ilse von der Zültz lachte. Sie sagte unbefangen und erfreut: „Oh ... der Achim!“
Dabei hielt sie ihm die Hand hin. Er nahm sie und meinte: „Herrgott — was du gross geworden bist ...“
Dabei fuhr es ihm durch den Kopf: ‚Geht denn das noch — das ‚Du‘ ...?‘ Es kam einem von selbst über die Lippen, und sie sagte ebenso harmlos: „Du hast dich gar nicht verändert ... Bloss der Schnurrbart ...“
Sie war gut einen Kopf gewachsen, seit er sie zuletzt als Backfisch gesehen. Ein Rest von dem schmalen bräunlichen Kindergesicht von damals war ihr noch geblieben. Die grossen dunklen Augen. Die halboffenen roten Lippen. Alles noch ein bisschen schafig — schien ihm. Sein Auge war an die Eleganz der Berliner Hofgesellschaft gewöhnt. Er überflog mit einem Blick ihr Äusseres. Na ja ... billige Konfektion ... so zwischen Spittelmarkt und Hausvogteiplatz ... Lieber Gott, wo sollt’ es denn der Alte auch hernehmen und nicht stehlen? ... Er stahl ja so schon beinah ... Hübsch war sie ja ... lang und schlank ... sehr hübsch ... Aber war sie nun eine Dame, ein Fräulein von der Zültz? ... War sie die Tochter eines Pferdehändlers, der im Gefängnis gesessen? ... Dem Leutnant von Bornim war es schwül zumut, in seiner Wohlerzogenheit ... Was ihm sonst nie passierte: er fühlte sich verlegen. Er und Ilse lächelten sich an und schwiegen ...
Gott sei Dank: sie hatten wenigstens in der Pension auf sie aufgepasst. Gepflegte Fingerchen ... Tadelloses Schuhwerk ... So was sah er gleich. Ein Stallknecht trat an Kaspar von der Zültz heran. Er raunte etwas: der Schlachtermeister da hinten, der wollte bei dem Traber von gestern die Mauke gefunden haben! Ilses Vater fuhr auf. Er explodierte wie eine Rakete. Er würgte an dem Wort: „Die Mau ... die Mau ... die Mauke in meinem Stall? Der Mann ist wohl verrückt! Den schmeiss’ ich ’raus!“
Und von drüben antwortete eine grobe Bassstimme: „Schicken Sie man lieber zum Schmied und lassen Sie ’s Eisen abreissen! Dann werden wir die Schweinerei schon besehen!“
Herr von der Zültz lief den Stallgang hinunter. Ungarische und galizische Rosskämme standen an dessen Ende. Funkelnde Augen, gebogene Nasen, vortretende Backenknochen ... wildes Geschrei. Der Traber musste umgetauscht werden ... ‚Überhaupt ... die olle Kracke ... Was ... alt? ... Fritze ... mach ihm ’s Maul auf ... zeig die Zähne ... da sehen Sie die Kunden ... nicht über sieben Jahre ... auf Ehrenwort! ... Gott, Ihr Ehrenwort! ... Und die Mauke? ... Mensch ... reden Sie doch keinen Stuss ... fühlen Sie doch mal gefälligst selbst den Strahl ... trocken wie Zunder ... ’n bisschen vernagelt ist das Fannychen ... das ist alles ... Jawoll: Sie haben den Gaul vernageln lassen, damit man nicht merkt, dass er ohnedies lahmt! ... Herr ... nu hat’s aber geschnappt! ’raus! ...‘
Und die ganze Gesellschaft lief wirklich hinaus, im plötzlichen Frieden, um im Hof einen anderen Gaul zu mustern. Achim und Ilse blieben allein in der Stallgasse zurück. Er stand unschlüssig da. Er wusste nicht, was er aus ihr machen sollte. Wenn man mit den breiten roten Streifen auf den Galahosen zum Hofball ging und mit einer Komtesse tanzte, so war das eben eine Komtesse. Und wenn man in Zivil mit den Kameraden in die ‚Academy of music‘ zog, wo der alte Moore vom Tisch herunter seine berühmte Rede hielt: ‚Meine Herren: Hier ist kein Tingeltangel!‘ oder in das Café New York, und die Kellnerin brachte das dünne Lichtenhainer im Holzkrug, so war das eben eine Kellnerin. Aber hier ... das war so ein sonderbares Mittelding. Dabei schien sie ihm jede Minute hübscher zu werden. Er sagte: „Du ... dein alter Herr sprengt die tollsten Gerüchte über dich aus! Er behauptet, du seiest heimlich aus deiner Pension ausgerückt?“
Sie nickte seelenruhig, riss einen Heuhalm aus der Raufe neben sich und zog ihn durch die Zähne. Er machte grosse Augen.
„Nicht möglich!“
„Doch. Am Sonntag ging’s. Da kamen immer zur Besuchsstunde viel Leute. Da passten sie nicht so auf.“
„Und so ’n Entschluss fiel dir gar nicht schwer?“
„Und ob’s schwer war! Ohne Geld! ... Kate Morton hat’s mir schliesslich geborgt — eine Engländerin. Wann ich’s ihr wiedergeben kann, weiss der Himmel ...“
Ilse von der Zültz zuckte die Achseln, immer noch den Halm zwischen den Zähnen. Er musste lachen.
„Warum bist du denn eigentlich fort?“
„Weil es so langweilig war!“ sagte sie einfach. Es war noch ein kindlicher Ton in ihrer Stimme. Auch ein kindlicher, offener Zug auf ihrem unschuldigen Gesicht.
„Na — das könnten die andern Mädels dort doch auch alle sagen!“
„Tun’s auch. Haben bloss nicht die Courage!“
Ein Stallknecht kam vorbei und führte einen Gaul aus dem Hof. „Hoho!“ beruhigte er den Klepper und kitzelte ihn dabei an der Flanke, damit man bei seinem plötzlichen Aufbäumen vor der Lichthelle des Hofes nicht merkte, dass er ein wenig bodenscheu war. Der Leutnant von Bornim wollte seine Würde wahren. Er kam sich sehr welterfahren und männlich gereift vor. Er meinte strafend: „Du hättest ruhig aushalten sollen! Du wärst schon weggekommen! Papa wollte für dich eine Stellung suchen!“
„Oh — das kann man ja immer noch!“ sagte Ilse bereitwillig. „Wenn es nur was hilft!“
„Ach — da findet sich schon etwas!“
„Ja. Aber ich bleib’ nicht lange!“
„Warum denn nicht?“
„Weil’s langweilig ist ...“
„Ja, glaubst du denn, dass der Mensch zum Vergnügen auf der Welt ist?“
„Ja.“
Er musste lachen.
„Auch ’n Standpunkt! ... Also, was hast du denn nun vor?“
„Nichts! ... Ach, ich möcht’ mal so ganz furchtbar reich sein — weisst du ...“
„Sie, Mann — stellen Sie den Gaul man nicht auf abschüssigen Boden!“ krächzte draussen eine heisere Stimme. „Sie haben’s doch hier nicht mit Waisenknaben zu tun! Verstehn Se?“
„Wir sind doch hier unter uns Pfarrerstöchtern!“
Und ein tiefer Bass: „Knallen Sie nicht so mit der Peitsche! Die Peitsche weg! ... Die Zicken kennt man ...“
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich ... Kaspar von der Zültz mitten darunter ... vornehm auch noch, wenn sich die andern schon beinahe mit Rossäpfeln schmissen ... Das alte Blut ... Na, mochte er ... Aber was fing so ’n Mensch nun mit so ’ner Tochter hier an ...? Der junge Gardeleutnant hatte ein Unbehagen vor der ganzen Geschichte ... Zum Beispiel: ... man ging da mit Kameraden Unter den Linden ... da kamen die beiden an ... der Zültz mit der Ilse ... auf dem Weg zum Mittagessen bei Oswald Nier, dem Ungegipsten, oder so was Schönes ... da musste man doch grüssen ...
„Ich hab’s mir hier ja auch anders vorgestellt!“ sagte Ilse. „Papa hat in seinen Briefen an mich immer so grässlich renommiert ... das wäre bei ihm keine kommune Pferdehandlung, sondern ein Stelldichein für alle Kavaliere ... ein längst gefühltes Bedürfnis ... Prinzen und Gentlemen und Garde ... aber weisst du, ich habe hier noch keinen anständigen Menschen gesehen ausser dir ...“
„Wirste auch nicht!“
„Und ich hatt’ es mir so schön gedacht ... so lustig! Und dann — das war gewiss unrecht von Papa — da hat er mir einmal geschrieben, jetzt gehörte ihm Wendisch-Wiesche wieder! Da hab’ ich so ’n Heimweh bekommen, nach Wald und Feld ... und nach dem alten Haus ... und nach euch allen draussen ... Nächtelang hab’ ich in die Kissen geheult und hab’ es schliesslich nicht mehr ausgehalten ... Ja, und nun? Nun ist Wendisch-Wiesche Eigentum eines Herrn Libochowitz. Papa sagt, das verstände ich nicht!“
„Ist dir auch zu hoch!“ sagte der weltkundige Leutnant. „Früher haben Libochowitz und Genossen die Klitsche fortwährend verkauft und nach dem Angeld Pleite gemacht, und der Käufer stand da ... Na ... das wurde dem Staatsanwalt auf die Dauer zu spasshaft ... Seit sie wieder in Freiheit sind, zedieren sie sich Wendisch-Wiesche nur noch gegenseitig, zuweilen auch an deinen Vater — das stimmt schon — bis Flissak einen neuen Heiratskandidaten heranbringt.“
„Das begreife ich nicht!“
„Na ... er ist doch Heiratsvermittler! ... Ehe er seinen Schutzbefohlenen irgendwo einführt, lässt er Wendisch-Wiesche gegen Wechsel auf dessen Namen schreiben, damit der grossartig als Rittergutsbesitzer auftritt und Vertrauen einflösst. So kommt die Partie zustande. Dabei ist doch der letzte Baum abgeholzt — kein Vieh im Stall ... das Haus eine Ruine. Ja, siehst du, das ist Wendisch-Wiesche! So jagt da ein Scherz den andern!“
Achim von Bornim hatte mit der nachlässigen Überlegenheit eines jungen Mannes gesprochen, vor dem Berlin keine Geheimnisse mehr barg. Er hatte sich gefragt: ‚Soll ich ihr das sagen? Doch! Zu ihrem Besten! Sie muss mal erfahren, woran sie ist! Der Alte lügt ihr ja die Hucke voll.‘ Dabei war eine Neugier in ihm: Ahnt sie eigentlich das Frühere? Kaspar von der Zültz’ Ende auf Wendisch-Wiesche? Das junge Mädchen nickte und meinte mit einem leichten Seufzer: „Ich bin dumm! Ich hätt’s mir denken können ... nach dem, was schon vorher alles passiert ist ... Ach ... glaubst du denn, ich wüsste das nicht, dass Papa sich eine Kugel in den Kopf geschossen hat und gesessen hat?“ Ilse von der Zültz nannte es in einem kindlich einfachen Ton beim Namen. Es kam ganz selbstverständlich heraus. Sogar das halbe, unbewusste Lächeln blieb auf ihren Zügen. „Ich war noch nicht zwei Jahre in der Pension, da hatt’ es eins von den Mädchen von zu Hause erfahren und es überall herumgeredet. Denk mal: ich war die letzte, die’s gehört hat. Von der Vorsteherin selber. Da war ich wie verfemt. Da musst’ ich aus der Stadt weg und in eine andere Pension. Dort wussten sie’s nicht. Aber ich.“
„Zwanzig Doppelkronen!“ schrie es entschlossen auf dem Hof. Ein Indianergeheul hinterher: „Ihnen pickt er wohl?“
„Aujust, haste Luft?“
„Ein Gaul wie Gold!“
„Ruhe, meine Herren, Ruhe ...“
Achim von Bornim schaute stumm, fast betreten, auf seine Lackstiefelspitzen. Es war so schwer, mit dem Mädel zu reden — nein ... eigentlich nicht schwer ... nur so komisch ... sie sah diese Dinge so sonderbar an ... so sachlich ... so, als gingen sie sie selber nicht recht was an ... sie hatte gar kein Gefühl, ob das nun schlecht oder recht war ... sie hatte es ja nicht begangen ...
„Ach ... ich möchte reich sein!“ sagte Ilse wieder. Dann nach einer Weile: „Du bist das erste bekannte Gesicht seit Papa, das ich in Berlin sehe! Ich war so froh, wie ich dich gesehen hab’!“
Vom Hof klangen leichte, elastische Schritte. Kaspar von der Zültz kam heran, ein Banknotenbündel in der Hand. Das Pferd war verkauft. Nun rasch die Geschichte im Zimmer drüben schriftlich, ehe die Rosskämme einander wieder in die Haare gerieten! Er hatte nur Zeit, im Vorbeigehen seine Tochter bei den Schultern zu packen und mit einem Zungenschnalzen der Anerkennung wieder sein altes ‚Na?‘ ... zu rufen. Sie machte sich frei und sagte lachend und sich das Haar ordnend: „Was denn: na?“
Und Achim von Bornim merkte an ihren glänzenden dunklen Augen wohl, dass sie wusste, wie hübsch sie war.
„Endlich kommt die Itta!“ sagte sie. Ein junges Mädchen in ihrem Alter und einfach gekleidet wie sie schritt über den Hof.
„Wer ist denn das?“
„Itta Flissak. Sie holt mich zum Bummeln ab!“
„Die Tochter von dem Herrn von Flissak ... dem Kerl von vorhin?“
„Ja. Mit irgend jemandem muss ich doch spazieren gehen! Ich kann’s mir nicht aussuchen!“
Nun ja ... Ilses Vater hatte gebrummt. Der Vater der leidlich hübschen Blondine, die da herankam, war aus der Armee gestossen. Warum sollten da die beiden Mädel nicht gemeinsam die Berliner Schaufenster bewundern? Aber dem Leutnant von Bornim schien es jetzt doch die höchste Zeit, zu gehen ... „Auf Wiedersehen!“ sagte er rasch und machte, dass er wegkam, ehe er womöglich auch noch dem Fräulein von Flissak vorgestellt wurde, und sprang draussen in eine Droschke und fuhr zurück nach dem Westen, in sein heimatliches Berlin.
Die beiden nächsten Tage ertappte er sich immer wieder bei dem Gedanken an Ilse. Seinem Vater konnte er noch keinen Bericht abstatten. Der alte Herr war nicht zu sprechen. Er war vom Morgen bis zum Abend im Reichstag. Ungünstige Gerüchte über das Befinden des greisen Kaisers liefen um. Es wurde auch im Kasino davon gesprochen. Auf der Strasse. Überall. Und der Thronerbe siech im Süden. Die Zeiten waren ernst. Wurden vielleicht noch ernster. Es lag eine Wolke über der Stadt Berlin. Achim von Bornim wusste nicht: kam die beklemmende Stimmung voll Unruhe, voll Erwartung, in der er sich in diesen Tagen befand, davon oder von was sonst? Einmal, an einem dieser einsamen Abende, an denen niemand mehr Lust zu Gesellschaften und Vergnügungen hatte und ihm das Herumsitzen auf der Wache oder im Kasino zu langweilig dünkte, zog er Zivil an und bummelte die Friedrichstrasse hinauf gen Norden, nach dem Oranienburger Tor. Was er dort im Dunkel eigentlich wollte, war ihm selbst nicht recht klar. Mit der schäbigen Pferdehandlung da hinten und der Ilse hatte es gewiss nichts zu tun. Oh nein. Das wäre ja lächerlich gewesen. Da wäre er gleich heimgekehrt. Aber er kam auch so nicht weit. Aus der Tonhalle, an deren engem Eingang Plakate die grosse Versammlung der ‚Berliner Bewegung‘ ankündeten, strömten dunkle Menschenmassen, füllten die Strasse. Die Versammlung war aufgelöst. Von den Arbeitern gesprengt. Im Laternengeflacker ein Gewimmel von Hüten — Schutzmannshelme ... Pferdeköpfe ... Pfiffe ... „Haut ihm!“ ... „Nieder mit die Blauen!“ ... Blitzende Säbel ... Vom Bürgersteig ein flüchtiger Einblick in den Saal ... Rauchwolken, umgestürzte Stühle ... Auf dem Podium der Pfarrer von Slawatz und zwei andere Geistliche. Sie hielten jeder mit beiden Händen die aufgeschlagene Bibel gegen die Menge. Wie Luther in Worms. Die Bierseidel flogen um ihre Köpfe. Unten sangen die Ihren:
„Ein’ feste Burg ist unser Gott ...“
Und ihnen antwortete es, brauste auf, pflanzte sich tausendstimmig ins Freie, bis an die nächsten Strassenecken fort:
„Es stand meine Wiege im niedrigen Haus,
Die Sorgen, die gingen drin ein und drin aus ...“
Achim von Bornim sah die fanatischen Gesichter der Arbeiter, hörte die hellen Stimmen der Fabrikmädchen. Zum erstenmal schienen ihm diese Massen, die er täglich grau, stumpf, still auf der Strasse an sich vorüberströmen sah, wie von einem unterirdischen Feuer belebt, es regte sich etwas, wovon er kaum je etwas gehört oder gelesen, in der Tiefe, unter der Oberfläche der Dinge. Es rollte weithin durch die Nacht:
„Und guckt die Sorge auch mal durch die Scheiben,
Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben!“
Und von innen tönte dumpf der Choral:
„Das Reich muss uns doch bleiben!“
Als Achim von Bornim sich dem Getümmel entzogen hatte und auf dem Rückweg befand, begegnete ihm Unter den Linden ein Major des Regiments. Der achtete heute nicht auf das Zivil des Leutnants, der sich ungesehen an ihm vorbeidrücken wollte. Er sagte ohne weitere Anrede: „Ich komme eben vom Palais. Es steht nicht gut um Majestät!“
Drüben, gegenüber dem Denkmal Friedrichs des Grossen, waren Fenster hell. Schwarze Menschengruppen standen da, trotz der bitteren Kälte. Hohe Offiziere gingen aus und ein, wurden mit bangen Blicken verfolgt. Ein Ahnen umher. Und auch in dem jungen Leutnant: Das Alte, das Grosse neigt sich zu Grab. Die Heldenzeit geht zu Ende. Ein neuer Morgen steigt herauf. Neue Kräfte suchen den Tag ...