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3.

Am nächsten Morgen machte Rumpler wie gewohnt einen ausgiebigen Spaziergang im Volksgarten. Es war ein klarer Frühsommertag und die unzähligen Rosenstöcke mit ihren vielversprechenden Knospen erzählten ihm ihre Geschichten, durch die liebevoll und sorgfältig gestalteten Widmungstafeln, die an ihren Stützen angebracht waren. Auch der Tempel des Theseus, jenes griechischen Helden, der den stierköpfigen Minotaurus in seinem Labyrinth aufgespürt und getötet hatte, sprach zu ihm. Vordergründig betrachtet war die Sage denkbar einfach – ein Held begegnete einem Ungeheuer und tötete es. In seinem Inneren fühlte Rumpler aber, dass das nicht die eigentliche Geschichte war, sondern dass darunter noch etwas anderes war, in viel tieferen Schichten, etwas ebenso Faszinierendes wie Bedrohliches. Der Minotaurus, halb Tier, halb Mensch, stand für das Animalische und war wohl genau deshalb eingesperrt worden. Wer sich also auf den Weg ins Labyrinth machte, um den Minotaurus zu treffen, der musste damit rechnen, einem weggesperrten Stück von sich selbst zu begegnen. Aber auch weggesperrt stimmte nicht ganz. Das Labyrinth war ja kein Gefängnis, sondern ein kunstvoll angelegter Irrgarten. Er war offen und trotzdem konnte man ihm nicht entrinnen. Zumindest nicht aus eigener Kraft – es bedurfte dazu der Hilfe einer Frau – Ariadne, die den richtigen Weg wies. Oftmals, wenn Rumpler es mit einem neuen Fall zu tun bekommen hatte, hatte er wohl unbewusst den Theseustempel aufgesucht, vielleicht um sich klar darüber zu werden, dass von jedem einzelnen der Mörder, die er auf verschlungenen Wegen verfolgte, immer auch in ihm selbst etwas enthalten war, das ihn gleichermaßen erschreckte und faszinierte.

Dem Denkmal des von ihm hochgeschätzten Franz Grillparzer stattete er ebenfalls einen kurzen Besuch ab, quasi als Gegengewicht, verließ dann den Volksgarten und erreichte schließlich nach einem flotten Marsch über die sogenannte Zweierlinie die Mariahilfer Straße. Er ging die breit angelegten Stiegen der sehr kurzen Rahlgasse hinunter und dabei fielen ihm die in seiner Kinderzeit alljährlich wiederkehrenden Besuche der Wiener Verkehrsbetriebe ein, bei denen dort nach langem Warten und unter großem Gedränge und Geschrei die Schülerfreifahrt-Ausweise abzuholen gewesen waren. Als er schließlich das Café Sperl erreichte, war er von seinem Spaziergang bereits ziemlich hungrig. Die Kellnerin, Frau Maria, ließ ihm Zeit, sich in Ruhe einen Tisch auszusuchen und zu setzen.

„Melange und zwei Buttersemmeln wie immer, Herr Kommissar?“

„Ja, bitte, aber dazu noch eine Eierspeis von zwei Eiern. Ich hab heut einen ordentlichen Hunger.“

„Kommt sofort.“

Er blickte ihr nach, beeindruckt, wie sie es schaffte, sich so flink zu bewegen, ohne jemals hastig zu wirken. Rumpler atmete auf. Endlich angekommen. Das Café Sperl war für ihn ein großer Rückhalt, quasi sein zweites Wohnzimmer, seit über dreißig Jahren. Hier hatte er Pläne geschmiedet, Fälle analysiert, andere Gäste beobachtet, ihnen gelegentlich beim Billardspiel zugesehen und sehr oft, wie auch jetzt, einfach nur in die Luft geschaut, in das sogenannte, für ihn unentbehrliche Narrenkastl.

Während er auf sein Frühstück wartete, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er rundum zufrieden war, eigentlich mit allem. Dank seiner gesunden Konstitution und seines disziplinierten täglichen Trainings war er für einen Mittsechziger körperlich bemerkenswert gut in Schuss, etwas über mittelgroß, stark, aber nicht zu schwer gebaut, mit sehr kräftigem weiß-grau gesprenkeltem Haar, das sich ohne Hilfe eines Friseurs nur schwer bändigen ließ. Über die Wirkung seiner braunen Augen auf das weibliche Geschlecht staunte Rumpler immer noch, obwohl sie ihn bereits seit vielen Jahrzehnten begleitete. Auf Männer wirkte er meistens seriös, während Frauen häufig das Bedürfnis verspürten, ihm Dinge anzuvertrauen. Das hatte ihm während seiner beruflichen Laufbahn bei der Mordkommission immer wieder geholfen. Was Rumpler jedoch nicht wusste, ja nicht einmal ahnte, war die Tatsache, dass er einen noch größeren Teil seiner Attraktivität für andere Menschen seinen Händen verdankte, großen, kräftigen Händen mit langen Fingern. Wenn er sprach, unterstützte er seine Worte mit Gesten, die natürlich und ausdrucksstark waren, kräftig und sensibel zugleich. Dazu kamen seine zurückhaltende Art und seine Sorgfalt beim Zuhören, die dazu führten, dass er im Lauf der Zeit jede Menge Angebote bekommen hatte. Dass sie ihn nicht zu sehr in Unruhe versetzt hatten, war an den zwei wirklich wichtigen Frauen in seinem Leben gelegen, an der bereits verstorbenen Elsa und an Alma, seiner neuen Liebe. Alma war sensibel, stark und verletzlich zugleich, verbunden mit einer unglaublichen Präsenz. Obwohl sie von Beruf Ärztin war, sah er sie eigentlich immer nur als Tänzerin, weil sie sich so perfekt bewegte.

Um irgendeine Wolke auf Rumplers heiterem Himmel zu finden, hätte man vielleicht auf seine Kinderlosigkeit verweisen können, aber Sabine, die junge Witwe seines Neffen Karl, hatte vor knapp einem Jahr ein entzückendes Mädchen zur Welt gebracht, sodass er sich beinahe als Großvater fühlen konnte. Nein, ihm fehlte wirklich überhaupt nichts, auch finanziell war er dank einer größeren Erbschaft sehr gut abgesichert. Trotzdem war er während des Wartens im Sperl nicht glücklich, sondern irritiert darüber, dass er doch eigentlich glücklich sein müsste, bei all dem Schönen, das ihm widerfuhr. Immerhin war er aber alt und erfahren genug, sich nicht gegen diese aufkeimende Unzufriedenheit zur Wehr zu setzen. Kaum hatte er nämlich begonnen, sie mit Interesse zu betrachten, als ihm auch schon bewusst wurde, was ihm fehlte. Er war ein Jagdhund, ein ziemlich alter, keine Frage, aber eben doch ein Jagdhund, dem das Jagen im Lauf der Zeit abhandengekommen war. Seine Gedanken wanderten in sein Wohnzimmer, dorthin, wo der von seiner Großmutter geerbte Jugendstilschrank mit seinen filigranen Schnitzereien und den schönen Messingbeschlägen stand. In ihm ruhten zahlreiche Moleskine-Notizbücher mit den persönlichen Aufzeichnungen zu allen seinen Fällen und es war gut möglich, ja sogar höchst wahrscheinlich, dass kein Buch mit einem neuen Fall hinzukommen würde. Aus und vorbei.

Frau Maria, die ihm sein Frühstück brachte, sah ihn von der Seite her an. „Alles in Ordnung, Herr Kommissar?“

„Passt schon, Frau Maria.“

„Ja, das Älterwerden ist manchmal ein Hund. Auch wenn alles passt. Ich weiß, wovon ich red.“

Volltreffer.

„Da haben S‘ Recht, Frau Maria.“

Eben, als Rumpler begann, sich seinem Frühstück zu widmen, läutete sein Mobiltelefon mit jenem nur ganz kurzen Signalton, der das Einlangen einer SMS anzeigte. Sonja, Almas Tochter, bat ihn um einen Rückruf. Das überraschte ihn ein wenig. Normalerweise war das nämlich immer umgekehrt gewesen. Rumpler hatte schon öfters ihre Hilfe in Anspruch genommen. Als IT-Spezialistin hatte sie für ihn bei Bedarf die Tür zu einer ihm sonst verschlossenen Welt öffnen können. Gemeinsam mit ihrem Mann Max betrieb sie eine kleine, aber sehr erfolgreiche Firma, die sich mit IT-Sicherheitsfragen befasste. Sofort stand Sonjas Bild vor ihm, ihre unglaubliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Alma, das lange schwarze Haar, das aufgrund seiner gepflegten Wildheit so attraktiv war, die sportlich schlanke Figur, die ausdrucksstarken graublauen Augen und ihre überschäumende Vitalität. Sonja versprühte Lebensfreude und Rumpler freute sich auf das Gespräch mit ihr.

Löwenfisch

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