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6.

Nach dem Kaffeehausbesuch beschloss Rumpler, noch einen kurzen Abstecher auf den Naschmarkt zu machen, um seine Vorräte an Käse, Oliven und sonstigen Antipasti aufzufüllen. Auf dem Weg dorthin kam er an einer jener Hundezonen vorbei, die mangels Alternativen von zahlreichen Hundebesitzern genutzt wurden, obwohl sie in ihrer Trostlosigkeit kaum zu überbieten waren. In ihrem Randbereich war ein überquellender Mistkübel, aus dem offensichtlich eine benützte Spritze herausgefallen war. Dieser Fund kam für Rumpler nicht unerwartet. Immer wieder hatte er in den letzten Jahren da und dort Zeichen von Drogenkonsum gesehen, wohl wegen seiner speziell geschulten Augen, die auch jetzt noch, Jahre nach seiner Pensionierung, imstande waren, Dinge, die andere meist gar nicht bemerkten, blitzartig zu erfassen.

Wie meistens bei seinen Naschmarkt-Besuchen weitete Rumpler seine ursprünglich recht karge Einkaufsliste kräftig aus, unter anderem um kleine schwarze, besonders aromatische Oliven, einige frische Feigen, eine Handvoll Kumquat, deren Zusammenspiel von Süße, Säure und einer leicht bitteren Note er sehr schätzte, und ein gutes Fladenbrot. Für Rosamunde kaufte er als besonderen Leckerbissen einige Shrimps. Rosamunde hatte nämlich Geburtstag, nicht wirklich, weil ihr tatsächlicher Geburtstag natürlich unbekannt war, aber Rumplers verstorbene Frau Elsa hatte schon bald nach Rosamundes Auffindung darauf bestanden, dass ein bestimmter Tag ersatzweise als ihr Geburtstag festgelegt und auch gehörig gefeiert wurde. Rumpler hatte das damals für völlig absurd erklärt, es aber nichtsdestotrotz nach Elsas Tod eisern beibehalten. Vor einigen Jahren hatte er, obwohl er selbst Meeresfrüchte eigentlich nicht so gerne aß, für einen Gast auf dessen speziellen Wunsch eine Portion gebratener Shrimps zubereitet und war damals von Rosamunde trotz ihres schon etwas fortgeschrittenen Alters mit unglaublichen Sprüngen verfolgt worden, als er das Essen von der Küche ins Wohnzimmer getragen hatte. Daran hatte er sich beim Kauf der Shrimps erinnert.

Als er mit seinen Einkäufen zu Hause eintraf, wurde er von Rosamunde sofort einer gründlichen Untersuchung unterzogen, die aus ihrer Sicht sehr vielversprechend verlief. Er briet die Shrimps leicht an und sie verströmten einen so verführerischen Duft, dass er doch selbst das eine oder andere Stück kosten musste. Es schmeckte ihm wider Erwarten so gut, dass nur Rosamundes strenger Blick ihn wieder zur Ordnung rief, und er nahm sich vor, in näherer Zukunft vielleicht auch für sich selbst ein diesbezügliches Koch-Experiment zu wagen. Mit einem Hauch Chili. Rosamunde fraß ihre Geburtstags-Shrimps mit einer Gier, als ob sie tagelang überhaupt kein Futter bekommen hätte.

„Happy Birthday, Luxuskatze“, knurrte er. Aber lächelnd.

Er ging zu seinem Schrank, und während er ihm eines der wenigen neuen Moleskine-Bücher entnahm, die er dort vorrätig hatte, wurde ihm bewusst, dass er mit diesem Akt Sonjas Sorge bezüglich Zargl zu einem seiner Fälle gemacht hatte. Ein erster Schritt war gesetzt, viele weitere würden folgen.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete das Buch, zeichnete auf die erste Seite ein großes Dreieck und legte das Blatt mit Zargls Zeichnung, das Sonja für ihn ausgedruckt hatte, vor sich hin. Sie wirkte insgesamt chaotisch, wie in großer Eile entstanden. Dominiert wurde sie durch ein großes Dreieck, dessen Eckpunkte an der Basis mit X und Z, an der Spitze mit Y markiert waren. Bei den Buchstaben standen jeweils einige hingekritzelte Wörter, manches war durchgestrichen. Bei Z stand Mann fürs Grobe, bei X technische Umsetzung und bei Y Leitung, Finanzen und zusätzlich noch in Großbuchstaben mit drei Rufzeichen INSIDER!!!. Im Zentrum des Dreiecks war eine seltsame Zeichnung von zwei nebeneinandergestellten, identen Figuren, die Rumpler Rätsel aufgaben. Die Basis stellte jeweils ein kleines Dreieck dar, an dessen Spitze ein Querbalken mit drei kurzen senkrechten, nach oben gerichteten Ästen war, was Rumpler an ein liegendes E erinnerte. Es konnten aber auch stilisierte Frauenfiguren sein, mit einem unten weiten bodenlangen Rock und oben einem kantigen Kopf samt links und rechts beschwörend emporgehobenen, ebenso kantigen Armen. Plötzlich begann eine Idee in ihm zu keimen. Sonja hatte erwähnt, dass Zargl ein Schachspieler war. Die seltsamen Figuren konnten daher auch gut und gerne stilisierte Türme eines Schachspiels darstellen, vielleicht genau jene Türme, von denen Zargl behauptet hatte, dass sie im Endspiel wichtig werden.

Rumpler machte sich bezüglich des Blattes, das vermutlich eine Ideenskizze Zargls für seinen geplanten Artikel gewesen war, einige Notizen in seinem Moleskine-Buch. Anschließend informierte er wie versprochen Sonja über das, was er von Moser bezüglich Zargl erfahren hatte, vor allem natürlich über dessen Tod. Sonja war sehr betroffen, aber nicht wirklich überrascht.

Gleich nach dem Gespräch schaltete er seine Kaffeemaschine ein. Während er darauf wartete, dass die Kontrollleuchte für die Vorwärmphase erlosch, wählte er aus seiner umfangreichen Sammlung von Mokkaschalen eine kleine, dickwandige weiße Espressoschale, die er aus einem Italienurlaub vor über zehn Jahren mitgebracht hatte. Seine Gedanken wanderten rückwärts, zu einem sonnendurchglühten Kirchenplatz in Sizilien. Die dortige Kirche war sehr groß gewesen, geradezu übermächtig für den kleinen Ort, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte. Er war vor einem winzigen Café unter einem Sonnenschirm gesessen und hatte einen Espresso getrunken, aus genauso einer Schale wie eben jetzt. Dann war da plötzlich eine fast unwirkliche, filmartige Szene. Einige Autos langten ein, offenbar eine Hochzeitsgesellschaft. Während die Braut aus dem Auto stieg, einer überlangen Limousine mit abgedunkelten Scheiben, kam ihr der Brautvater mit ausgestreckten Armen entgegen. Rumplers geschulter Blick hatte bereits vorher die an allen strategisch wichtigen Stellen des Platzes positionierten drahtigen jungen Männer bemerkt, die offenbar zum Schutz der Hochzeitsgesellschaft abkommandiert waren. Der Hochzeitszug formierte sich und verschwand in der Kirche, die Bewacher behielten ihre Standorte bei. Alle blieben todernst, nur ein Jüngerer grinste Rumpler kurz verschwörerisch zu, wurde aber sofort von einem offensichtlich höherrangigen Kollegen durch eine winzige abschneidende Geste mit der linken Hand so zur Ordnung gerufen, dass seine Miene schlagartig einfror. Hier war ganz offensichtlich eine Organisation mit sehr strikten Regeln am Werk.

Das leise Zischen seiner Kaffeemaschine holte Rumpler aus seinem Tagtraum zurück, der aber doch insofern leicht nachwirkte, als er seinen Espresso etwas kürzer als sonst zubereitete. Während er mit Genuss den ersten Schluck trank, beschloss er, am nächsten Tag, für den gutes Wetter angesagt war, einen Ausflug auf die Rax zu machen, um den letzten Weg des Anton Zargl nachzugehen und sich vor Ort ein Bild von den Geschehnissen zu machen.

Rumpler überprüfte sorgfältig seine Wanderschuhe, die er längere Zeit nicht verwendet hatte. Sohlen und Bänder waren in tadellosem Zustand. Das war wichtig. Die Rax war keineswegs zu unterschätzen, trotz der weitgehend abgesicherten Wanderwege – und er war schließlich auch nicht mehr der Jüngste.

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