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Kapitel 5

Telefonate mit der Phantomfrau

Ausgangspunkt unserer wunderschönen, tief empfundenen Liebe, die immer wieder von quälenden, mit Zweifeln belasteten Phasen unterbrochen wurde, war die abendliche Abschlussveranstaltung einer Golfturnierwoche in Bayern im Juni 2010.

Busse brachten die Teilnehmer/​innen in die Festhalle. Über zwanzig Notenständer auf dem Podium deuteten auf einen schwungvollen Abend hin.

Wir, sechs Mitglieder aus meinem Golfclub saßen mit Golffreunden aus NRW, Stuttgart und Leipzig an einem Tisch, ließen uns das Essen schmecken, folgten den Reden, der Siegerehrung, erfreuten uns an den Powerpoint-Bildern, tranken Wein und tauschten Erlebnissen der ereignisreichen, rundum gelungenen Turnierwoche aus.

Als die Musik zum Tanz aufspielte, bekam ich einen inneren Schubser, der mir bedeutete: Los, steh auf, wenn du dich heute nicht überwindest, dann bestimmt nie mehr.

Meine Frau war vor drei Jahren gestorben, ich lebte zurückgezogen, Ablenkungen erschöpften sich in notwendiger Haus- und Gartenarbeit, gelegentlichen Besuchen bei den Kindern und Enkelkindern und ausgiebigem Golfspiel. Bis heute hatte ich abgelehnt, Musik zu hören; auch im Auto schaltete ich das Radio nach den Nachrichten aus. Und jetzt sollte ich tanzen?

Der Zufall kam mir zur Hilfe, er hatte für mich einen Plan. Mir gegenüber, am übernächsten Tisch, saß eine Golferin, die das Turnier in meiner Gruppe mitgespielt, und die ich wiederholt gesehen hatte. Unsere Blicke trafen sich, und wir nickten uns begrüßend zu, was wie ein Übereinkommen war zu tanzen.

Wir gingen weitere Male aufs Parkett, unterhielten uns angeregt und tauschten die Telefonnummern aus. Es vergingen knapp zwei Wochen, bevor ich Erika in Nürnberg anrief. Es war für mich erfrischend eine neue Verbindung zur Außenwelt zu haben. Ich erfuhr, dass sie alleinstehend und nicht mehr berufstätig ist, ein enges herzliches Verhältnis zu ihren Kindern, besonders zu ihrem Enkel hat, den sie zuweilen mit auf den Golfplatz nimmt. Sie ist eine begeisterte Golferin mit disziplinierter und profunder Einstellung zum Spiel, wovon ich mich später persönlich überzeugen konnte.

Wir telefonierten oft. Unsere aktuellen Erfahrungen und Erlebnisse beim Golfen nahmen einen gebührenden Rahmen ein. Die Vorstellung auch einmal gemeinsam zu golfen gewann dabei zunehmend konkrete Formen. Es dauerte nicht allzu lange bis wir einen Termin vereinbarten.

Nach einem Besuch bei Verwandten in Thüringen fuhr ich weiter nach Herzogenaurach. Erika hatte für mich in der Nähe des Golfplatzes eine Unterkunft gebucht. Durch unsere Telefonate war es ein ungezwungenes Wiedersehen, ein harmonisches Golfspiel und zwei nette Abende. Als wir uns verabschiedeten holte ich das Einverständnis ein, sie einmal drücken zu dürfen. Diese Geste war mir ein Bedürfnis und gleichzeitig Ausdruck meines Dankes dafür, dass sie entscheidend dazu beigetragen hatte, aus meiner Isolation auszubrechen.

Wieder daheim setzten wir unsere Telefonate in gewohnter Weise fort bis Erika mich mit der außergewöhnlichen Frage konfrontierte, ob ich Kontakt zu einer ihrer Clubkameradinnen aufnehmen wollte.

Ich erfuhr, dass diese alleinstehend war, familiäre Bindung nach Sylt hat und eine Telefonbekanntschaft auch in ihr Leben einen neuen Farbtupfer bringen könnte. Dankbar und aufgeschlossen für jedes Schrittchen, das mich weiter ins Leben zurückführte, willigte ich ein. Erika hatte sich noch einmal bei ihrer Golfkameradin rückversichert, das Einverständnis bestätigen lassen und jetzt lag eine neue Telefonnummer vor mir auf dem Tisch.

Etwas aufgeregt drückte ich die kleinen Knöpfe, die richtige Nummer erschien im Display und das Freizeichen ertönte. Es dauerte nicht lange, dann meldete sich eine offensichtlich freundliche, aufgeschlossene Person mit sympathischer, vertrauenerweckender Stimme.

Wie unter Golfern üblich einigten wir uns ungezwungen auf Sina, Rune und Du.

Es folgte eine Zeit langer, intensiver, immer vertrauterer Telefonate bis zu zwei Stunden, zwei- bis viermal die Woche.

Ich erfuhr, dass Sina mit 66 Jahren drei Jahre jünger war als ich und noch unregelmäßig in einem Labor arbeitete. Sie ist ausgebildete Medizinisch-technische Assistentin (MTA), hatte ihren Beruf nach der Heirat aber nicht mehr ausgeübt, weil durch die Tätigkeit ihres Mannes mehrere Ortswechsel erforderlich waren. Nach ihrer Scheidung blieb Sina mit ihren beiden Töchtern, die jetzt verheiratet auf Sylt leben, in Langwasser wohnen. Sie war als Alleinerziehende dann 25 Jahre als Außendienstlerin bei einer Firma für pharmazeutische Geräte tätig.

Sina erzählte mir, dass ihr späterer Freund ebenfalls 2006 überraschend gestorben war. Das waren die persönlichen Daten, die ich von Sina erfuhr. Durch ihren Freundeskreis, die Geschwister in Hamburg, Stuttgart und Köln und ihre Töchter, dazu die Labortätigkeit war ihr Leben abwechslungsreicher und ausgefüllter als meines.

Eine Gemeinsamkeit haben wir aufzuweisen, wir sind beide in Schleswig-Holstein aufgewachsen, Sina auf Eiderstedt, ich an der Lübecker Bucht. Während Sina unser Bundesland nach ihrer Ausbildung verließ, blieb ich ihm bis heute treu.

Nach dem Studium trat ich meinen Dienst 1964 in Nordfriesland, in der grauen Stadt am Meer an der Schule an, an der ich 2006 auch pensioniert wurde. Als Lehrer, Studienrat und Schulleiter war ich knapp 42 Jahre im Beruf tätig. Mein Privatleben war ähnlich übersichtlich. Meine Frau lernte ich 1959 kennen, wir heirateten 1964, haben drei Kinder und zogen 1973 in unseren Neubau in Mildstedt, einem kleinen Ort nahe unserer Kreisstadt ein.

Mein Leben verlief in jeder Beziehung geradlinig. Wir führten eine harmonische Ehe in verlässlicher Treue, verreisten in den Ferien, wenn finanziell möglich und hatten einen festen Bekanntenkreis. Beruflich reichte jedes Mal nur eine Bewerbung für eine höhere Sprosse auf der Leiter. Meinen Ruhestand durften wir dann nur ein gutes Jahr erleben; im Sommer 2007 starb meine Frau.

Ohne Aufgaben und Verpflichtungen musste ich mich jetzt neu orientieren und Pflöcke einrammen, die mir Halt geben konnten.

Die Telefonate mit Sina waren eine unschätzbare Bereicherung für mich. Durch sie hatte ich wieder mehr Kontakt zur Außenwelt und das Gefühl aktiver am Leben teilzunehmen. Wir erfuhren viel voneinander, wo und wie wir wohnten, über die Tagesabläufe, besondere Vorkommnisse und Erlebnisse. Dafür war ich dankbar und freute mich auf jedes weitere Gespräch: auf die angenehme Stimme einer, wie ich es empfand, aufgeschlossenen, lebensbejahenden und auch lebenslustigen Person, 168 cm groß mit Kleidergröße 40. Letzteres von mir irgendwann einmal geschätzt, was Sina auf 38 - 40 korrigierte.

Unsere Kontakte zielten nicht auf eine Partnerschaft ab; sie waren das Bedürfnis und die Freude darüber, mit diesen Gesprächen das wenig aufregende Einerlei zu durchbrechen. Uns fehlte beiden ein Mensch, dem wir erzählen konnten, was wir gerade erlebt hatten und uns erwähnenswert erschien, aber auch das, was uns positiv oder negativ berührte.

Unbemerkt und ganz natürlich, wie selbstverständlich hatte sich eine zunehmende Vertrautheit aufgebaut, die auch Einblicke in die Gefühlswelt erlaubte. Über das Befinden alleine zu sein und Vorstellungen und Wünsche, an diesem Zustand etwas zu ändern. Wir gestanden uns, dass uns am stärksten ein Partner an der Seite fehlte, ohne dass auch nur ansatzweise mitschwang, wir könnten vielleicht diese Person sein. Uns tat es einfach nur gut einen Menschen zu haben, mit dem wir über alles reden und ihm vieles anvertrauen konnte.

Ich hatte Sina erzählt, dass bei meiner Frau 1989 gesundheitliche Probleme auftraten: ein Druck vor der Brust deutete auf eine Stenose hin. Tatsächlich wurde sie 1990 dilatiert – eine Gefäßerweiterung durch Ballondehnung -, das ihr fünf Jahre unbeschwertes Leben bescherte.

Dann wurde eine By-pass-Operation erforderlich, die ihr alte Lebensqualität zurückgab. Vor jedem neuen Eingriff meldete sich das »Warnsystem« rechtzeitig; darauf war Verlass und es gab meiner Frau scheinbar eine gewisse Sicherheit und Beruhigung. So auch 2004, als ein Stunt gesetzt werden musste.

Wie es in ihr wirklich aussah, sie sich wirklich fühlte, das gab sie nicht preis. Auf die Frage, von wem auch immer gestellt: »Jutta, wie geht es dir?«, antwortete sie stets: »Mir geht es gut.« Und niemand hatte Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage. Meine Frau war diszipliniert und stark und sie hätte uns nie beunruhigen wollen. Ich musste also vieles erahnen, war auf eigene Beobachtungen und mein Einfühlungsvermögen angewiesen.

Jutta hatte Pläne für die Zeit im Ruhestand: Freundeskreis, Kultur, Reisen. Aber auch den äußeren Rahmen gestaltete sie noch einmal neu: 1999 Teakmöbel aus Dänemark für Wohn- und Esszimmer, dazu Lampen und Leuchten aus Heiligenstedten, eine neue Küche folgte 2004 und das Schlafzimmer bestellten wir im April 2007. Damit war der Rahmen perfekt und komplett. Doch für wen?

Mitte Juni musste ich meine Frau ins Krankenhaus bringen. Damit sie sich ein Bild vom neuen Schlafzimmer machen konnte, hatte ich ihr eine Tapetenprobe gezeigt, den Farbton hatte sie gewählt. Am 2. August konnte ich ihr erzählen, dass die Möbel am Vormittag angeliefert und aufgestellt worden waren. Am Abend verstarb sie.

Sina und ich erfuhren langsam immer mehr voneinander; die Mosaiksteine komplettierten das Bild zunehmend. Jeder gab so viel preis wie er für richtig hielt, neugieriges Nachfragen war uns fremd.

Mit unseren Telefonaten lebten wir in einer anderen Welt. Ein Verstellen machte keinen Sinn, wem sollten und wollten wir etwas vormachen und weshalb? Einem Phantom? Es gab nicht den geringsten Grund.

Es offenbarten sich grundehrliche Einstellungen, Gefühle und Wünsche. Die Gedanken konnten sich frei und ungegängelt bewegen, sie unterlagen keinen Zwängen. Es war ein Vertrauen und Anvertrauen ohne Konsequenzen. Das machte alles so einmalig, offen, ehrlich – zwei Seelen vertrauten sich an. Es war ein befreites, unbekanntes aufeinander Zugehen, das wir mit jedem Gespräch aufs Neue pflegten, genossen und vertieften. So wuchs ein unerschütterliches Vertrauen ohne Störfaktoren von außen, unglaublich erfrischend und bereichernd.

Zunehmend bedeutsamer aber wurde für mich zu erfahren, wie Sina etwas aufnahm, erlebte und bewertete und welche Emotionen mitschwangen. Es war für mich eine vollkommen neue Erfahrung; ein Mensch erschloss sich mir auf eine noch nie erlebte Weise. Es entstand ein Bild von Sina, indem ich in sie hineinschaute; auf diese Weise wurde sie mir noch vertrauter.

Äußerlichkeiten waren außen vor, sie konnten keinen Einfluss nehmen, nicht von dem was Sina wirklich ausmachte, ablenken. Allein die Werte, die ihr wichtig sind, ihr Leben bestimmen und prägen, erfuhren meine Aufmerksamkeit. Wir lernten den Menschen kennen, sein Äußeres spielte keine Rolle.

So lernte ich Sina kennen und schätzen, ohne mir dieses gezielt ins Bewusstsein zu holen. Erst als unser erstes Treffen näher rückte, mussten wir uns Erkennungshilfen geben.

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