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Kapitel 6

6 ′ – Rune und Sina geben sich ein Gesicht

Früher als ich noch Fahrschüler war, war darauf Verlass: die Züge hielten den Fahrplan ein; heutzutage sind Verspätungen an der Tagesordnung. Aber gerade heute, am 12. Okt. 2010, durfte das nicht passieren. Ich war allein auf diesen einen Zug fokussiert. Ankunft 13.56 h aus Hamburg-Altona, Weiterfahrt um 14.02 h nach Westerland. Ich war angespannt und aufgeregt. Schließlich war Sina mir sehr nahe gekommen, mehr noch als die Menschen, die mir in den einsamen, trost- und freudlosen letzten drei Jahren zur Seite gestanden hatten. Sie war mir vertraut und herzlich verbunden. Ihr hatte ich meine geheimsten Gedanken, Gefühle, meine Sehnsüchte, scheinbare Ausweglosigkeit und auch Träume von einem sich wohl nicht mehr erfüllenden Lebensabend in Zweisamkeit erzählt.

Über diesen ›sechser‹ im Leben sprachen wir auch in unseren Telefonaten. Es war ein Traum. Ich hatte Sina Einblick in die letzten Winkel meiner Seele gewährt. Ich war dankbar, dass ich mit ihr jemanden hatte, dem ich alles anvertrauen konnte.

Unaufhaltsam rückte Sinas Kurzaufenthalt auf dem Bahnhof, Gleis 2, jetzt näher. Es waren nur sechs Minuten und davon durfte keine Sekunde ungenutzt verstreichen. Ich stand, gegen meine Gewohnheit, schon zehn Minuten früher auf dem Bahnsteig, nachdem ich mich zuvor wiederholt vergewissert hatte, dass es auch der richtige war. Ich stand da, zunehmend aufgeregter, und mir wurde urplötzlich in aller Deutlichkeit und zweifelsfrei bewusst: Das wird kein Kennenlernen; gleich werde ich der vertrauten, längst liebgewonnenen Frau gegenüberstehen.

Endlich tauchte der Zug auf, noch in großer Entfernung, aus einer leichten Linkskurve, einer langen stählernen Schlange gleich, die das Sonnenlicht immer mal wieder reflektierte. Jetzt waren es nur noch wenige hundert Meter, der Bremsvorgang schon eingeleitet.

Per sms hatte Sina mir mitgeteilt, dass sie im zweiten Wagen saß. Ein letztes Quietschen der Bremsen; der Zug stand – sogar eine Minute früher. Die Türen öffneten sich, und als eine der ersten trat Sina heraus, ohne Jacke, ohne Gepäck – ja, das musste sie sein. Sie kam zielsicher auf mich zu, hatte sie es doch einfacher, mich schon aus dem einfahrenden Zug heraus zu erspähen.

Nach kurzer Vergewisserung begrüßten wir uns wie unter Golfern üblich, mit leichtem Armumlegen und angedeutetem Kuss auf die Wange. Diese Begegnung war so außergewöhnlich einmalig, nicht wiederholbar. Zwei mehr als vertraute Menschen gaben sich ein Gesicht. Jetzt war sie nicht mehr die Phantomfrau, jetzt war sie Sina.

Und ich wusste in diesem Moment in aller Klarheit, dass sie schon lange vorher in meinem Herzen angekommen war. Empfindungen und Gefühle nahmen von mir Besitz, auf die ich so nicht vorbereitet war, mich überwältigten und wortkarg machten. Da wusste ich: das ist die Frau, die ich schon lange liebe.

Wir standen in der Tür des Wagons, jede Sekunde auskostend. Die Abfahrt rückte schon bedrohlich näher, als Sina unvermittelt fragte:

»Enttäuscht«?

Ich konnte ihr hoffentlich überzeugend das Gegenteil versichern. Meine wahren Gefühle blieben aber noch mein Geheimnis.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wir schauten uns so lange wie möglich nach. Den Bahnsteig konnte ich erst verlassen als die Rücklichter sich zunehmend schneller entfernten, immer kleiner wurden und die Schranken sich wieder geöffnet hatten.

Ihr fragender Blick und das ›enttäuscht‹ ließen mich nicht los. Ich fühlte es, auch für Sina war aus unserer Telefonfreundschaft spätestens heute mehr geworden.

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