Читать книгу Mehr als 6′ - Rune Deis - Страница 14
ОглавлениеKapitel 9
Rune
Für mich ist körperliche Nähe mit einer Frau, sich gehören, Ausdruck aufrichtiger Liebe in seelischer Verbundenheit und Treue. Liebe so empfunden ist das Schönste, Reinste und Natürlichste zugleich, was Menschen sich schenken können. Sie schützt vor Abwegen und gegenseitiger Verletzung, weil sie unteilbar ist. Ich kann sie nur zulassen, wenn ich sie ausschließlich für einen Menschen empfinde. Intimität ohne Liebe, nur Sex, lehnt mein Herz ab.
Liebe so empfunden und gelebt, begleitete mich fast fünfzig Jahre. Sie war der Motor und Anker zugleich in meinem Leben. Als meine Frau starb war der Schmerz unmessbar.
Meine Pensionierung lag knapp anderthalb Jahre zurück. Ohne meine Frau und ohne Beruf war ich in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Ich hatte nichts mehr, was mich ausfüllte.
Wir wollten unser Leben jetzt noch intensiver planen, gestalten und erleben. Mir wurde in aller Klarheit und Nüchternheit bewusst, dass alles, was mein Leben bislang ausgemacht hatte, nicht mehr existierte.
Verantwortung und Sorge für das Wohlergehen anderer hatte mein Leben in über vierzig Jahren bestimmt und ausgefüllt. Meine Aufgabe war es, für meine Frau und Kinder, für die Schüler und Kollegen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie sich wohlfühlen, entfalten und erfolgreich sein konnten.
Alles das hatte meine Frau durchgängig engagiert, unterstützend begleitet. Mit ihr stumpfte unsere Ehe nicht ab und dämmerte nicht in ausgetretenen, gewohnheitsbestimmten Pfaden dahin. Alles das gab es nicht mehr.
Hinzu kam ein Schlüsselerlebnis, das dazu führte, dass ich die Freundschaften mit Ehepaaren, die fast vierzig Jahre bestanden, so nicht weiter pflegen konnte.
Als ich eines Tages ein Ehepaar, Freunde, seit meinem ersten aktiven Tag als Lehrer, besuchte, erschreckte mich meine veränderte Situation so folgenschwer, dass ein weiterer Pfeiler meines Lebens wegbrach. Wo früher vier Personen um den Tisch saßen, waren es jetzt nur noch drei. Es unterhielten sich nicht mehr die beiden Frauen, die beiden Männer und dann auch alle vier, jetzt unterhielt sich ein Ehepaar mit einem Alleinstehenden. Beide waren durchgängig allein auf mich fixiert. Es drängte sich mir der Eindruck auf, dass das sehr, nein, unzumutbar anstrengend für beide sein musste, was ich ihnen zukünftig nicht so oft abverlangen wollte.
Was blieb waren die täglichen Fahrten zum Friedhof, Haus- und Gartenarbeit – eine Haushaltshilfe nahm ich nicht –, das Golfen und gelegentliche Besuche bei den Kindern.
Um mich nicht zu sehr zu isolieren, nahm das Golfen den breitesten Raum ein. Vier- bis fünf Mal in der Woche ging ich über den Platz, meistens mit Christoph. Ihn lernte ich ein dreiviertel Jahr nach dem Tod meiner Frau kennen. Er war wie ich alleine auf dem Platz unterwegs. Auf Bahn 7 lief ich zu ihm auf, weil er warten musste; vor ihm puttete noch ein Viererflight. Ich erfuhr, dass auch seine Frau vor drei Jahren gestorben war und er jetzt ebenfalls im Golfen eine willkommene Ablenkung gefunden hatte.
Mein Leben war unausgefüllt, einfach nur leer. Da half es auch nicht, dass ich jetzt endlich lernte, den Geschirrspüler zu bestücken und bedienen, dass ich feudelte, saugte, Fenster putzte, bügelte, einkaufte und einiges mehr. Bei allem, was ich alleine erledigte, ließen meine Gedanken nicht los, den Kopf konnte ich nicht abschalten.
Wenn ich ein Buch in die Hand nahm, waren meine Gedanken spätestens nach fünf Zeilen wieder abgeschweift. Wie dankbar wäre ich nach einer Gartenarbeit über eine Reaktion gewesen wie: »Hinten in der Ecke hast du wohl keine Lust mehr gehabt«. Das wäre eine enorm große Bereicherung gewesen. Und wenn ich einmal unter Menschen war, dann schlug die Realität spätestens dann wieder gnadenlos zu, wenn ich das leere Haus betrat.
Die Tatsache, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war, mit dem ich alles teilen, um den ich mich sorgen durfte, hatte mich in einen nicht endenden Schmerz versetzt. Drei Jahre lang besuchte ich das Grab täglich, das erste halbe Jahr nicht ohne feuchte Augen.
In dieser Zeit hielten mir vor allem einige Kolleginnen die Treue, die auch schon zu meiner aktiven Zeit, als meine Frau wiederholt gesundheitliche Probleme hatte, auch außerschulisch den Kontakt pflegten Ich traf mich häufiger, vor allem mit zweien von ihnen, mit den anderen telefonierte ich unregelmäßig. Und im Golfclub gab es fünf Paare, zu denen sich ein engerer Kontakt aufbaute. Wir tranken Kaffee auf der Clubhaus-Terrasse, besuchten uns zu Geburtstagen und unternahmen ein- bis dreitägige Ausflüge.
Ansonsten beschränkte ich meine Kontakte auf das Notwendigste. In der Stadt hielt ich mich nicht länger als unbedingt erforderlich auf, ein Café betrat ich nicht alleine, und ich hatte kein Auge für Frauen, früher nicht und jetzt ganz bewusst schon gar nicht. Ich wollte mich auf keinen Fall auch nur dem leisesten Verdacht aussetzen, dass ich Ausschau hielte. Ich konnte es mir nicht anders vorstellen und war demzufolge auch davon überzeugt, dass mir bestimmt war, alleine zu bleiben.
In meinem Alter noch einmal jemanden kennen zu lernen, war für mich utopisch, und wenn es doch geschehen sollte, dann stand das nicht in meiner Macht. Eine zweite Partnerschaft ließen meine Gefühle und die weiterhin empfundene Verbundenheit zu meiner Frau nicht zu.
War es überhaupt denkbar und auch möglich für eine andere Frau Liebe zu empfinden? Wäre es nicht Verrat an unserer Liebe, würde ich meine Frau nicht im Nachhinein betrügen? Das Herz meldete sich gerade bei diesen Fragen unüberhörbar. Im Zweifel hat es ohnehin immer die richtige und verlässliche Antwort.
Eingeleitet durch die Bekanntschaft mit Erika und durch meine Telefonate mit Sina hatte ich wieder Kontakt zu einer Frau. Das tat mir gut. Es war nicht mehr und mehr erwartete ich davon auch nicht. Jetzt aber war alles anders, ich empfand für Sina zunehmend mehr als ich für möglich gehalten hatte; das unvorstellbare war eingetreten. Ich musste mir die alles entscheidende Frage beantworten, denn das Herz hatte sich längst entschieden.
Den Abschied von meiner Frau für immer war ich vor über drei Jahren angetreten; er war schmerzhaft, weil das Herz nicht losließ.
Mit Sina begann eine neue Lebensphase. Sie eroberte mein Herz und ich konnte und durfte es zulassen. Jetzt war ich so weit. Der Treueschwur ›Bis dass der Tod euch scheidet‹ sagte mir, dass ich nichts Unrechtes empfand, keinen Verrat beging und mein Herz einen neuen, richtigen Weg eingeschlagen hatte, den ich jetzt bejahend und zuversichtlich gehen durfte. Voraussetzung und Bedingung war, dass ich bereit und mich in der Lage fühlte, ihn ehrlich, nicht zurückblickend und oder vergleichend zurücklegen will. Ich war mit mir im Reinen und mir dessen bewusst, dass etwas ganz Neues vor mir lag und war mir ganz sicher, dass ich nichts zurückholen wollte oder etwas Vergleichbares aus meiner Ehe mit Jutta anstrebte. Das wäre Sina gegenüber unehrlich und verletzend gewesen. Ja, ich war frei für einen neuen, vollkommen unbelasteten Anfang.
Dieses Neuland wollten wir erobern und waren zweifelsfrei davon überzeugt, dass sich dieses Wagnis lohnte. Ja, ich konnte und durfte ehrlichen Herzens gestehen, Sina ist heute meine große Liebe, mit ihr möchte ich den Weg gemeinsam weitergehen.