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Alle auf die Bühne! – Frühling 1927

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Herbert sitzt im Vorlesungssaal, versucht, seinem Professor zu folgen. Nur Fetzen kommen bei ihm an. Es ergibt keinen Sinn: Pressefreiheit, Unabhängigkeit. Als aufklärender Reporter hat man eine besondere Verantwortung. Herbert hängt seinem großen Traum nach: Einmal nur möchte er in die Sowjetunion reisen. Als Reporter über die Erfolge des Kommunismus berichten, wie sich die Menschen vom Feudalsystem befreit haben, nicht zuletzt auch durch Waffengewalt. Jeder war bereit, alles zu riskieren, auch das eigene Leben. Kolchosen würde er besuchen und ergründen, sehen, wie die Landwirte zusammenarbeiten auf den großen, weiten Feldern und sich von der großartigen Alphabetisierung berichten lassen. Neugierig zuhören, im Einzelnen erfahren, dass die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer haben. Und dann, zurück in Deutschland, würde er niemanden in Unkenntnis darüber lassen. Die gerechte Verteilung der Nahrung. Hunger ist zum Fremdwort geworden. Und zu guter Letzt noch Genosse Stalin interviewen. Er könnte in Zeitungen eine Serie über dieses wunderbare Land und seine Erfolge schreiben. Herbert versucht wieder, seinem Professor bei dessen Ausführungen zu folgen. Doch die Gedanken schweifen zu seinem Freund. Er schaltet im Kopf einen Schalter um. Andere Bilder drängen an die Oberfläche. Sein Vater wird nach Berlin kommen. Text muss er auch noch lernen. Heute treffen sie sich im Proberaum, um weiter am Stück »Hallo, Kollege Jungarbeiter« zu proben. Hoffentlich hat Valentin ihn nicht wieder so im Blick, der ist immer besonders kritisch, nur weil Herbert, im Gegensatz zu den Arbeitern aus der Truppe, ein Studium absolviert.

Wodka fließt in Gläser, da ist er dann wie alle anderen auch. Na dann, viel Spaß und Arbeiter an die Macht! Herbert fühlt sich aufgehoben, er weiß, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Ja, er ist mit Leib und Seele Kommunist und denen gehört die Zukunft.

»Leute, alle auf die Bühne! Manchmal denke ich, ihr seid nur ein Haufen Hummeln ... nicht nur, dass ihr euren Text nicht gelernt habt, ihr fühlt auch eure Rollen nicht.« Valentin bewegt sich hin und her. »Herbert, glaubst du wirklich, dass ein Arbeiter nach einem Zwölf-Stunden-Tag so die ungeheizte Küche betritt? Seine Frau versucht, aus Mehl, einigen Kohlrüben und verfaulten Kartoffeln ein Abendessen zu bereiten. Die Kinder sind hungrig, die Betten sind feucht, eines wurde vermietet. Sobald der älteste Sohn auf Nachtschicht ist, wird das Bett vom Produktionsarbeiter Michael in Beschlag genommen.« Die Stimme des Regisseurs ist eifrig. »Ich sage: Nein, du verstehst es nicht, hier geht es um mehr, die grenzenlose Armut, die Verzweiflung, das Geld reicht nie, die Menschen träumen von einer gerechten Welt. Sie haben von der Sowjetunion gehört, wissen, dass sie einen hoffnungsvolleren Weg vor sich haben. Die Weltrevolution. Doch bis dahin bohrt der Hunger jeden Tag tief in die Magengruben.« Der Macher ist außer sich. »Verdammt noch mal, gib dir endlich Mühe! Hier geht es nicht nur um Schauspielerei, wir müssen immer die neue Zeit im Kopf und vor allem in unseren Herzen tragen, verstehst du?«

Herbert erschrickt, die Lautstärke, in der man ihm Vorwürfe macht, verunsichert ihn und lässt ihn zu einem beschränkten Nichtsnutz werden. Röte schießt ihm ins Gesicht. Er hört genau zu, was Valentin zu sagen hat, wie er ihm begreiflich macht, dass er darauf zu achten hat, sich wie ein ehrlicher Arbeiter zu fühlen.

»Wir machen eine Pause.« Valentin hat wieder rumgepoltert, Floskeln werden zwischen den Schauspielern hin und her geworfen, bevor der Regisseur seine Truppe wieder zusammenpfeift. »Seid vernünftig ... alles auf Anfang!« Nun treibt er die jungen Leute wieder in ihre Rollen, peitscht Befehle von seinem Regiestuhl aus, hilft bei Texthängern. Er ist Perfektionist und auch stolz darauf, dennoch bereit, das eine oder andere durchgehen zu lassen, doch bei der Arbeit hier verlangt er höchste Konzentration. Eine russische Delegation wird in zwei Monaten erwartet, vor denen wollen sie ihr Stück aufführen. Nach zwei Stunden ruft er: »Feierabend! Nächste Woche habt ihr den Text gelernt, ist das klar, Genossen?«

»Genossen« kommt einem Ritterschlag gleich. Herbert inhaliert jede Silbe. Er gehört zu ihnen.

KaDeWe. Die letzten Kunden haben das Warenhaus verlassen. Aus dem Personalausgang strömen Sekretärinnen und Kassiererinnen, Verkäuferinnen, Schneiderinnen, Dekorateure, Buchhalter und Kantinenarbeiterinnen.

Auf dem Bürgersteig ein blonder Kopf, überragt viele, wird von Aaron erfreut wahrgenommen.

»Wie verabredet: Hier bin ich.« Herberts Augen strahlen Unsicherheit aus.

Sie stehen sich nah gegenüber.

»Gehen wir essen?« Aaron lächelt. »Nicht weit von hier gibt es eine kleine, gemütliche Kaschemme mit alten, groben Holztischen.«

Sie spüren den Atem des anderen.

»Wohin willst du mich entführen? In die Unterwelt?«, witzelt Herbert.

Sie verweilen, schauen sich zärtlich an.

»Na, wer weiß, was der Abend noch mit sich bringt.«

Die Decke hängt tief, in kleinen Nischen auf den Fensterbänken stehen wappenverzierte Bierkrüge. Rauchschwaden von russischen Zigaretten hängen in der Luft. Der Kellner bringt Eintopf. Die beiden trinken Bier, essen mit großem Appetit. Küsse sind in dieser Umgebung ausgeschlossen, jedoch finden sich unter dem groben Holztisch ihre freien Hände, wollen sich nicht voneinander lösen. Sie verschlingen sich mit den Augen, der Wunsch, sich ungestört zu küssen, ist spürbar. Seufzer werden unterdrückt.

»Du willst sicher nach Hause!« Herbert hat Aarons Gähnen hinter vorgehaltener Hand längst wahrgenommen. »Ich sehe doch, dass du kaum noch die Augen aufhalten kannst ...«

Sie lächeln, legen die Löffel beiseite, schauen sich an, um dann vom Tisch aufzustehen, die Rechnung wird im Stehen beglichen.

Im Freien, die Luft ist warm, streichelt die beiden Verliebten. Sie gehen nebeneinander, Aaron gibt die Richtung vor. In einer engen Gasse bleibt er unerwartet stehen, hält Herbert an seinem Hemdsärmel fest.

»Ich möchte noch nicht nach Hause«, flüstert Aaron, abrupt muss Herbert stehen bleiben, ihm zugewendet, »ich will die Nacht mit dir verbringen.« Fragend schaut Aaron Herbert tief in die Augen. »Einige Straßen weiter kenne ich eine kleine Pension, dort werden wir heute übernachten ... außer du ziehst es vor, die Nacht allein zu verbringen?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwidert Herbert und spürt, wie ihm die Hitze ins Gesicht steigt.

Aaron bittet Herbert, einen Moment vor der Pension zu warten. Nun steht er im Eingangsbereich am Tresen, erklärt der alten Greta, dass er diesmal nicht mit einem Kunden erscheint, sondern mit seinem süßen neuen Freund, bittet darum, keine Bemerkung fallen zu lassen, die darauf hindeuten könnte, dass er sich hier immer wieder mal mit Kunden blicken lässt. Aaron holt seinen Herbert in die Pension, sie nehmen die Treppe in die erste Etage, nichts, was an seinen Beruf erinnert, zeigt sich heute, keine Sektflasche, keine speziellen Spielzeuge, die rote Birne muss nicht in die Fassung gedreht werden, die Beleuchtung der Nachttischlampe reicht für zwei Verliebte aus.

Die Männer stehen mitten im Raum. Für einen Moment ganz still. Sich ganz tief in die Augen schauend. Und dann fallen sie übereinander her.

Das alte Bett macht bei jeder Bewegung Geräusche, es ist nur neunzig Zentimeter breit, viel mehr Platz brauchen sie nicht. Die Vorhänge sind zugezogen, die Hinterhöfe noch hellwach. Aaron und Herbert küssen sich. Immer wieder. Immer in Leidenschaft versunken. Aus dem halbgeöffneten Fenster ein Kindergeschrei, eine Frau verlangt nach Ruhe. Teppiche werden geklopft. Ein Ball knallt immer wieder gegen die Mauer. Eine Frauenstimme schreit »Essen fertich!«. Die Geräusche streifen zwei liebende, junge, nackte Körper, die Dunkelheit umarmt beide Männer und segnet sie sanft ab. Der Mond schenkt ihnen zärtliches Nichtstun, die Nachttischlampe ist ausgeknipst, zufriedenes Schnarchen weiß noch nichts vom Morgen danach.

Die Sonne kitzelt Nasen. Arme liegen übereinander, Augen blinzeln. Lippen berühren sich zärtlich.

»Guten Morgen«, flüstern sich die beiden zu, obgleich es keinen Grund gibt, leise zu sein. Herbert streckt sich, Aaron steht auf, um nach den Zigaretten zu kramen, legt sich mit diesen wieder zu Herbert. Er steckt sich zwei in den Mund und zündet sie an, Herbert nimmt sich eine davon und atmet den Rauch tief ein.

»Von einem Leben wie diesem träume ich schon sehr lange, nur dachte ich nie daran, dass es eines Tages wahr werden könnte. Meine Familie ist katholisch, alles, was nicht der heiligen Ehe entspricht, ist Sünde. Mein Vater liebt mich sehr, aber er würde mir dieses hier nie verzeihen.« Herbert ascht seine Zigarette im Aschenbecher ab, er setzt sich auf die Bettkante.

»Meine Mutter ist Kommunistin ...«, Aaron drückt seine Zigarette in dem ihm gereichten Aschenbecher aus. Er küsst Herbert oberhalb des Pos. »Kommunisten kämpfen für die Gerechtigkeit, aber uns so leben zu lassen, wie wir es wollen, ist mit ihrem Denken auch nicht vereinbar ... Und deine Mutter ...? Ist sie Hausfrau?«

»Sie ist verstorben, ich erinnere mich nur sehr dunkel an sie. Ich glaube, meine Eltern waren glücklich.« Herbert erhebt sich aus dem Bett, drückt seine Zigarette aus, greift nach seiner Unterhose.

In dem kleinen Frühstücksraum steht der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch.

»Meine Freundin Anton und ich wollen an die Ostsee fahren, hättest du Lust, mitzukommen?«

»Das wird leider nichts, mein Vater ist am Wochenende in Berlin.«

»Ist da wirklich nichts zu machen?« Aaron rollt die Augen, wirft die Stirn in Falten, spitzt seine Lippen. »Mein Herz, bitte, das wird wunderbar, wir werden auf weißem Sand liegen, Burgen bauen, Fisch essen und uns verliebt anschauen.«

»Ich schau, was sich machen lässt, aber ich kann dir nichts versprechen.«

Die Zeit ohne uns

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