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Der Beginn einer Liebe im KaWeDe – Frühling 1927
Оглавление»Aaron, die neue Kollektion muss ins Schaufenster gestellt werden. Geh ins Lager, Frau Hebel weiß Bescheid und hat die entsprechenden Kleider rausgesucht.«
»Gut, Chef.« Aaron läuft gut gelaunt durchs KaDeWe, vorbei an Vitrinen aus Nussbaum, gold umrandeten Spiegeln und großen Kugellampen. Vorbei an Wänden mit goldenen Tapeten und zartgliedrigen Mustern. Eleganz in seiner wunderschönen, verschwenderischen Fülle, gezeigt ohne jede Scham, weil der Schönheit der Platz eingeräumt wurde. Hier fühlt er sich wohl, er läuft und seine Gedanken verlieren sich an Victor, der Kunde für das Extra-Verdienen-und-Spaß-Haben-Dabei, eine Tätigkeit, die er »Liebesdienste« nennt, nach der regulären Arbeit, eine Arbeit für die Nacht, er läuft und lächelt und träumt vor sich hin und plötzlich stößt er auf einen Körper.
Er stößt mit einem Kunden des KaWeDe zusammen, will »Verzeihung« sagen, will seine Unachtsamkeit in Ausdruck bringen, doch sein Mund bleibt geschlossen. Nur für Sekunden treffen sich ihre Blicke. Aaron nimmt blaue Augen wahr, blondes, nach hinten gekämmtes, gewelltes Haar, wohlgeformte Kusslippen, schöne, dunkle Augenbrauen. Der Fremde hält eine Schiebermütze in den Händen, einen dunkelroten Schal hat er lässig um den Hals gewickelt, der Kragen seiner schweren Jacke ist aufgestellt. Er ist fast schon an ihm vorbeigegangen, eine ältere Dame redet auf den Blonden ein. Aaron muss sich etwas überlegen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er sieht, wie sich der Hüne beim Weitergehen noch mal zu ihm umdreht. Nie ist Aaron verwirrt oder schüchtern, oft sogar zu unvorsichtig, doch jetzt versagt alles in ihm. Der gewellte Hinterkopf entfernt sich, Aaron muss ins Lager, die Fenster müssen noch fertig dekoriert werden, die Zeit drängt. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.
»Sag mal, träumste wieder mal von der Ufa ...?« Hilde aus der Spielzeugabteilung haut ihm auf die Schulter, »... oder biste schon wieder auf Wolke sieben verschwunden ... he?«
Aaron zuckt zusammen.
»Was willst du? Keine Zeit.«
Er läuft und holt den Fremden ein, ist natürlich außer Atem, versucht, diesen zu kontrollieren.
»Tschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Ich arbeite nämlich hier.« Noch immer pustet Aaron wie verrückt.
»Nun, da müssen Sie schon meine Tante fragen, ich bin hier nur unter Protest mitgekommen.«
»Nein, junger Mann, wir haben schon alles gefunden. Schauen Sie mal, das sind doch ganz hübsche Hemden. Die soll er nämlich an der Universität tragen. Wenn ich seine alten Klamotten sehe, könnte ich richtig böse werden! Na ja, noch resigniere ich nicht. Und einige Trümpfe hab ich ja noch im Ärmel, also nichts für ungut. Herbert, ich schau mir noch die Krawatten an, wartest du hier auf mich?«
»Aber natürlich, Tantchen!«
Aaron lächelt verlegen. Wir sind jetzt ganz unter uns, denkt er und vergisst alles um sich herum. Zwei junge Männer auf Augenhöhe, der eine weiß unausgesprochen über den anderen Bescheid. Babelsberg. Was hätte Lubitsch aus diesem Moment gemacht? Natürlich muss man sich ein normales Paar vorstellen, zum Beispiel Lilian Harvey und Conrad Veidt. Minutenlanges Schweigen, prüfende Blicke. Aaron sucht nach Worten, denn er will diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie schauen sich immer wieder schüchtern an.
»Sind Sie das erste Mal hier?« Aaron breitet seine Arme aus, und empfindet sich dabei als zu dramatisch. Verlegen schaut er über die Kunden hinweg, um dann doch wieder den jungen Mann vor sich zu betrachten. Ihre Blicke treffen sich und niemand von den beiden möchte sich mehr abwenden. Aaron fährt sich mit den Fingern durchs Haar, gerne würde er mit dem Unbekannten durchs KaDeWe schlendern, um ihm sein Reich zu zeigen. Auf der Stirn seines Gegenübers bilden sich Schweißperlen, die er nicht wagt, wegzuwischen. Aaron hört seinen eigenen Atem, er fühlt sich durch den Blick des fremden jungen Mannes gestreichelt, spürt ihn geradezu körperlich. Die beiden Männer scheinen sich in einem Kokon zu befinden, unmerklich bewegen sie sich aufeinander zu, nehmen nur einander wahr.
»Aaron, sag mal, wo treibst du dich denn herum?« Unangekündigt werden sie zurück in die Realität geworfen. »Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?« Aaron erschrickt, der Hüne hustet ein wenig zu laut.
»Nee, Chef, ich wurde aufgehalten, der Kunde hatte eine Frage an mich, und wir sollen doch unsere Kunden immer zufriedenstellen ... nicht wahr?«
Ein Lächeln setzt sich auf die Lippen des Hünen und schon ist er verschwunden.
Die Schaufensterpuppen werden mit der neuen Frühlingskollektion bekleidet. Aaron ist weit weg, in seinen Träumen versunken, niemand außer ihm hat dort Zutritt. Er braucht diese Traumwelt. Sie lässt ihn fliegen, eintauchen in Schönheit, Abenteuer, wilde Romanzen ohne bitteren Beigeschmack. Die Schaufensterpuppen werden zu Tänzerinnen mit zartgliedrigen Körpern. Lange Beine wirbeln durch die Luft. Er begutachtet jede Einzelne genau, verlangt sehr viel von den Mädchen, er, der Choreograph, peitscht, schreit, feuert an, tröstet, nimmt in den Arm. Sie vertrauen ihm. Aaron leitet die Tanzgruppe des Friedrichstadtpalasts. Die Kostüme müssen noch mal überarbeitet werden, sie sollen viel Haut zeigen, dürfen jedoch niemals ordinär wirken. Natürlich hat er immer das letzte Wort.
»Ihr müsst mehr auf eure Figur achten, wie sollen euch die Boys denn hochheben? So, jetzt möchte ich noch die berühmteste Girls-Line der Welt betrachten, um die uns sogar der Broadway beneidet, also los, Mädels!«
»Aaron, wie lange brauchst du denn noch? «
»Bin gleich fertig, Chef.«
»Na, sieht ja ganz gut aus, stell sie noch in die Fenster, danach kannst du Feierabend machen.«
Aaron setzt sich seine Mütze auf. Der Ku’damm schaltet schon seine Leuchtreklamen an. Autos knattern an ihm vorbei, Pferdedroschken poltern laut über die Straßen. Studenten in Kniebundhosen klingeln sich auf ihren Rädern den Weg frei. Menschen, die noch schnell eine Besorgung machen wollen. Elegante Damen tragen wagenradgroße Hüte. Herren in gutem Zwirn freuen sich auf eine Nacht im Separee. Der Ku’damm ist voll wie eh und je. Kriegsinvaliden betteln, hungrig, Gliedmaßen amputiert, Gesichtern fehlt ein Auge, andere sind blind. Manchem Helden wurde die Haut verätzt. Sie verkaufen Streichholzpäckchen, Kartenspiele, Nähnadeln und sonstigen Schnickschnack. Hier sind die Vorbeigehenden rastlos und beachten die Bettelnden, auf den Steinplatten Sitzenden, kaum.
Der Dekorateur blendet aus, der zweite Beruf muss heute noch ausgeübt werden. Er fühlt sich gut, die Welt will er umarmen. Pfeifend macht er sich auf den Weg. Victor wartet, will mal wieder verwöhnt werden. Aaron spürt ein Tippen auf seiner Schulter, dreht sich um, schaut in ein schüchternes, aber dennoch strahlendes Gesicht.
»Tschuldigung, ich dachte ...«
»Sie hätte ich nicht erwartet«, lächelt Aaron aufgeregt, schaut auf seine Uhr und flucht innerlich darüber, keine Zeit für diesen blonden Hünen zu haben.
»Sie wollen mich doch jetzt nicht wegschicken, oder?«
»Aber nein«, stottert Aaron und erklärt, dass er noch einen wichtigen Termin hat, den er unter keinen Umständen verpassen darf. Die beiden jungen Männer gehen wie selbstverständlich nebeneinander her. Die laue Frühlingsluft streichelt sie.
An der Bushaltestelle bleibt Aaron stehen. »Mein Bus kommt gleich.«
Augen verlieren sich, wollen dem Blick des anderen standhalten, unmöglich.
»Sonntag um drei vor dem ›DéDé‹, okay?«
»Wo ist das?«
»Na, in der Bülowstraße ... werden Sie schon finden! Und ich bin übrigens Aaron.«
»Herbert.«
Sie wollen sich berühren, tun es doch nicht. Der Bus stoppt nur kurz vor ihnen, Aaron springt auf, winkt dem Unbekannten zu, dreht sich weg, die Nacht ruft und schon konzentriert er sich auf seine zweite Tätigkeit.
***
Berlin-Dahlem. Ein eisernes Tor öffnet sich wie von Geisterhand, die lange Auffahrt wird zum Laufsteg. Aaron ist nicht aufgeregt. Er schlendert, ist beinahe gelangweilt und genießt den sternenklaren Abend. Kleine Windstöße versuchen, sein geordnetes Haar zu durchwühlen. Seine Motivation ist Geld, es ist das Einzige, was zählt, um das Leben zu führen, von dem er träumt. Die große Haustür wird geöffnet. Ohne die Hausdame im schwarzen Kleid zu beachten, betritt Aaron den italienischen Marmor. Auf der Freitreppe liegt ein roter Läufer. Zum Obergeschoss geht er zögernd und doch eilenden Schrittes hinauf. Er hat in unzähligen Filmen gesehen, wie es aussehen muss, als verzehre man sich, und doch nicht wirkt, als könne man es gar nicht mehr erwarten. Victor trägt einen blauen Pyjama mit schwarzen Punkten, darüber eine Hausjacke aus zarter Seide, seine Haare sind gefärbt, auf 180 Zentimeter verteilen sich auf circa 60 Kilogramm. Die Arbeit beginnt.
»Mein Liebster, da bist du endlich, ich vergehe vor Lust. Wo bist du nur so lange geblieben?«
Victor zieht Aaron in seine Arme, seine Lippen sind gierig, können nicht länger warten.
»Victor, bitte, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, dass du kultiviert bist und lasse mich dann so grob von dir behandeln? Also bitte!«
Es ist ein Spiel. Aaron hält Victor auf Abstand, es ist, als würde er ein kleines Kind mit Schokolade locken, bereit, sie ihm als Ganzes zu geben, doch dann bekommt es von dem Nougat immer nur ein kleines Stück nach dem anderen.
»Entschuldige, Liebster, lass uns in den Salon gehen, du wirst überrascht sein, was ich für uns alles anrichten ließ. Schau: Langusten, Hummer, Muscheln, feinste Pastete, Kaviar, französischer Käse aus Burgund, englisches Chutney, selbstgebackenes Bauernbrot. Und das Täubchen habe ich heute Morgen aus dem Delikatessengeschäft Förster in der Fasanenstraße bringen lassen. Aber natürlich zuerst einen Aperitif.«
Die beiden oberen Knöpfe von Victors Pyjamajacke sind inzwischen geöffnet. Aarons Gesicht legt eine für diese Gelegenheit geeignete Mimik aus interessierter Zurückhaltung mit einem kleinen Schuss Erotik auf. Victor reicht seinem Gast ein Glas, Aaron macht einen Schritt auf Victor zu, dieser drückt seinen erregten Körper an ihn. Die beiden Männer schauen einander schweigend an. Die Gläser ergeben beim Anstoßen einen zarten Klang. Hand in Hand schlendern sie zum Tisch. Victor zieht den Stuhl vom Tisch, Aaron lässt sich darauf fallen und betrachtet zufrieden die üppig gedeckte Tafel. Das Mahl wird zum Fest.
Geraume Zeit später liegen die beiden auf einem breiten Bett. Zartrosa Kissen umrahmen die beiden unterschiedlichen Körper, der eine ist als schön zu bezeichnen, der andere muss mit allerlei Stoff drapiert werden, um dann doch nur als fehlgeschlagener Versuch der Natur wahrgenommen zu werden. Ein schwerer Duft, den sich der Ältere auf seinen Körper gesprüht hat, liegt in der Luft. Victor liegt entspannt auf der Matratze. Aaron holt die Champagnerflasche aus dem Kübel und führt den Flaschenhals zum Mund seines Gastgebers, die Lippen umschließen die runde Öffnung. Jetzt folgt der zweite Akt seiner Arbeit. Willig nimmt Victor den Champagner auf. Ein sanftes Schaudern durchflutet seinen Körper, er reckt sich Aaron gierig entgegen. Aaron hebt Victors dünne Beine an. Ein erstickter Schrei. Aaron füllt Victor aus, stößt leicht in ihn hinein, bringt seinen schmächtigen Körper zum Schwingen. Victor ist keine Schönheit, recht groß von Gestalt, aber ein leichter Buckel im rechten Schulterbereich lässt ihn unförmig aussehen, seine Nase ist ein dicker Kolben, die Stirn zu hoch. Aarons Aufgabe ist es, Victor seine Makel vergessen zu lassen, ihm in seinen Armen das Gefühl zu geben, schön und geliebt zu sein. Natürlich hat alles seinen Preis und Aaron lässt sich sehr gut bezahlen. Er ist aber auch jede Mark wert. Aaron hält die Augen geschlossen, lässt seine Gedanken schweifen zu der Begegnung des Nachmittags, weckt so eine echte Leidenschaft in sich. Stöhnend genießt Victor unter ihm jeden wilden Stoß. Aaron wünscht sich Herbert herbei und fickt seinen Kunden fast brutal. Vor Augen hat er den blonden Jungen, seinen kräftigen Körper, die blauen Augen, das volle Haar, die wunderschönen Lippen. Aaron ist genervt von Victors rhythmischen Bewegungen, doch er macht seine Arbeit gut, stöhnt lauter als je zuvor, will sich zurücknehmen, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen, doch ein Blick auf Victors seligen Augenaufschlag lässt ihn im selben Ton weiter stöhnen. Aarons Fantasie geht spazieren, wird hinausgeführt aus diesem Raum. In einer kleinen Pension, in einem Zimmer, auf einem alten Bett, liegt sein Kopf auf der Brust eines Mannes, den er noch gar nicht kennt. Ein Schrei holt Aaron in das Schlafzimmer zurück.
»Liebster, du bist so wunderbar, nie zuvor hast du mir so viel von dir gegeben, es war unglaublich!«
Aaron schenkt Victor ein Lächeln, stellt sein Stöhnen ein, erhebt sich aus dem Bett, greift nach der Champagnerflasche und trinkt fast die halbe Flasche auf einmal aus. Durch den Alkohol wird das Ganze weniger anstrengend. Er geht in das angrenzende Badezimmer, setzt sich auf den Badewannenrand und lässt Wasser einlaufen. Immer ist der Badeofen für ihn vorgeheizt. Sein Kunde lehnt nackt am Türrahmen, kleine Speichelbläschen ruhen zufrieden in seinen Mundwinkeln.
»Darf ich heute ausnahmsweise mal zuschauen?« Eine geflüsterte Bitte, in eine zitternde Stimme eingebettet, die keinem Betteln gleichkommen will und es dennoch tut. Glasige Augen nehmen befriedigt ein Nicken aus der Badewanne wahr. Ein unschönes Glied versteift sich, wird von beiden Männern ignoriert.
»Ich möchte Auto fahren lernen! Kannst du mir eine gute Fahrschule empfehlen?«
Aaron hat sich nie im Voraus von Victor bezahlen lassen. Heute weiß er, dass es sich rechnen wird. Der Hausherr verlässt das Bad, um Geldscheine in Aarons Hosentasche zu stecken, die Summe hat er verdoppelt. Vielleicht ist es übertrieben, aber wie viel Spaß steht einem Mann in seinem Alter und mit seinem Aussehen schon zu? Sein Wunsch ist es, ausschließlich zu genießen, nur für den Moment zu glauben, dass er tatsächlich geliebt wird und nicht nur gefickt.
»Gisbert wird dir eine Fahrschule empfehlen, die Rechnung lässt du dann einfach an meine Adresse schicken.«
»Victor, du bist so großzügig, dafür liebe ich dich.«
Aaron springt aus der Badewanne, umarmt seinen Gastgeber mit triefend nassem Körper, spürt Knochen, die aus der Haut hervorzustechen drohen. Victor hat sich in einen weichen Bademantel gewickelt. Aaron schnappt sich ein Badelaken, drückt es seinem Gegenüber in die Hände und lässt sich abtrocknen. Ihm bleibt nicht verborgen, dass der Mann, dessen Hände auf seinem Rücken das Handtuch kreisen lassen, wieder vor Erregung vibriert.
»Ach, Liebster«, säuselt Aaron, »wenn ich die ganze Nacht Zeit hätte, würden wir uns noch einmal vergnügen, aber es geht nicht. Ich habe leider noch Termine.«
»Dir steht mein Wagen zur Verfügung, und alle wichtigen Fragen zum Führerschein wird dir Gisbert beantworten.«
Victor lässt den Wagen vorfahren. Er steht auf der oberen Stufe der Treppe und schaut dem jungen Mann hinterher. Wie ein Vogel fliegt Aaron davon und sieht Victor unbewegt am Treppengeländer stehen. Noch im Wegfahren meint er, in der Dunkelheit seinen sehnsüchtigen Blick zu erkennen.
Aaron hat die hintere Autotür, welche Gisbert ihm geöffnet hatte, zugeschlagen, um zur Beifahrertür einzusteigen. Erschöpft lehnt sich ein Nachtarbeiter in weichem, hellem Nappaleder zurück und beobachtet Gisbert beim Fahren. Gewaltig schnurrt der Horch über die Straßen, lässt Jugendstilvillen hinter sich.
Aaron fragt den Fahrer aus, er will alles wissen: Wo er am besten den Führerschein machen kann, welche Voraussetzungen er beachten muss, wie viel Fahrstunden wohl nötig sein werden. Aaron spürt die Abneigung des Fahrers, bemerkt in dessen Mundwinkeln ein süffisantes Lächeln, als er nur für Sekunden seinen Blick von der Straße weg- und ihm zuwendet, um dann wieder auf die Straße zu schauen. Die weiß behandschuhten Hände halten konzentriert das Lenkrad fest. Mit kaum spürbarem Übergang zwischen den Gängen wird der Wagen souverän geschaltet, um dann die Geschwindigkeit zu erhöhen. Aaron kann sich vorstellen, was der Chauffeur über Menschen denkt, die ihren Wagen selbst durch Berlin lenken möchten. Einer männlichen Hure Rede und Antwort zu stehen, widerspricht ihm sicherlich ganz und gar. Aaron versucht, sich in die Gedankenwelt des Fahrers hinein zu versetzen, dieser hat sicherlich viele kommen und gehen sehen. Gisbert hat probiert, seinen Dienstherren gegen Schmarotzer und Diebe zu schützen, aber Victor war eben hungrig nach menschlichen Kontakten. Aaron schmunzelt über Gisberts herablassenden Blick. Die Moralvorstellungen anderer interessieren ihn längst nicht mehr – zumal er mit seinen Besuchen bei Victor wahrscheinlich so viel verdient wie der Chauffeur in einem ganzen Monat.
»Bitte lassen Sie mich an der nächsten Ecke raus ... ja, genau hier. Sie müssen Victor nicht auf die Nase binden, dass Sie vor dem Hotel gehalten haben, nicht wahr?«
Aaron überquert die Straße. Zwei Portiers sind eigens dafür da, immerfort Gäste durch die hohen Eingangstüren hinein- und hinauszulassen. Er findet sich in der riesigen Eingangshalle des »Excelsior« wieder. Der Fußboden ist aus weißem Marmor, darüber liegen wertvolle persische Teppiche, die Wände sind mit rotem Samt bespannt, ein großer Kronleuchter hängt von der Decke. Eine Gruppe Japaner hat sich am munter plätschernden Springbrunnen niedergelassen. Blumenarrangements in großen Töpfen, Palmen, wie selbstverständlich, in riesigen Terrakottagefäßen.
Aaron durchschreitet die Lobby. Der Champagner hat ihn ein wenig beschwipst. Manchmal wundert es ihn, wie selbstverständlich er sich hier bewegt. Der Raum ist wie elektrisiert. Zigarettenrauch vermischt sich mit sehnsuchtsvollem Atem und verstohlenen Blicken. Männer in teuren Anzügen und mit kostbaren Accessoires ausgestattet suchen mit halb geöffneten Augen nach jungen Frauen oder noch jüngeren Knaben, welche ihre Begierden stillen könnten. Manch einer wird fündig. Hier muss niemand um den Preis feilschen. Die Herren wissen, was sich gehört, dennoch verhalten sie sich vorsichtig, denn Denunziation ist immer möglich, obwohl in diesem Haus so gut wie ausgeschlossen. Das Hotel ist berühmt für seine Diskretion.
Die schwere, in Bronze gefasste Milchglastür führt zur Bar. Aaron zieht seinen Mantel aus und ein Junge mit manikürten Nägeln ist zur Stelle, um ihn ihm abzunehmen. Mit einem angedeuteten Nicken setzt er sich auf einen mit braunem Leder bezogenen Barhocker. Der Barkeeper ist dezent geschminkt, seine atemberaubend schwarzen, dichten Wimpern bewegen sich im Zeitlupentempo, das weiße Oberhemd wirkt wie leicht über einen gut gebauten Körper geworfen, die graugestreifte Weste und die ausgezeichnet sitzende schwarze Hose bilden einen schönen Abschluss. Er serviert Aaron einen Dom Pérignon mit einem lächelnden Zwinkern. Kerzen brennen in Lüstern, Salzgebäck liegt in silbernen Schalen auf dem Tresen. Luxus in seiner schönsten Form umgibt den Gast.
Aaron gleitet neben Edgar, einem etwas behäbigen Mann in seinen Vierzigern. Die Anzugweste spannt leicht über seinem Bauch, aber für den neuesten Klatsch setzt sich Aaron trotzdem immer gerne zu ihm.
»Stell dir vor, Marlene war in Begleitung hier, sie wird leider immer dicker, irgendwann hört es auf, schön zu sein, aber auf mich hört ja keiner. Das Kleid, das sie trug, hättest du sehen sollen.« Edgar tupft sich mit einem lindgrünen Einstecktuch den Schweiß von der Stirn.
»Wie hieß er?« Aaron nippt an seinem langstieligen Glas.
»Oh, du verstehst nicht, es war kein Er.«
»Du meinst, sie ist doch ein Biest? Was Rudi wohl dazu sagt?«
»Wie immer nichts, soweit ich weiß, tröstet er sich natürlich mit einer Schauspielerin. Sie stammt aus Russland. Tamara so heißt sie kümmert sich offiziell um das Kind. Du siehst, alles ist ganz normal. Möchtest du noch einen Dom? Wann wollen wir uns eigentlich mal wieder näherkommen?«
Edgar hat so viel Erotik, wie es ihm möglich war, in seine Stimme gelegt und hofft auf ein Aufwärmen der vergangenen Affäre.
»Ja, setz es auf die 27, und bitte, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Ich muss gleich hoch, mein Kunde wartet.«
Aaron schlendert zum Empfang.
»Guten Abend!«
»Generaldirektor Köhler erwartet mich. Würden Sie mich bitte anmelden?«
»Sehr gerne, wen darf ich melden?«
»Einfach nur Aaron, dann weiß der Herr schon Bescheid.«
Die Aufzugtüren öffnen sich wie von Geisterhand. Ein neuer Liftboy mit linkischem Lächeln begrüßt den Gast. Die beiden schauen sich stumm an. Schnell sind sie in der zweiten Etage angekommen, geräuschlos wird die Tür vom Aufzug geöffnet. Suite 27. Die Tür ist nur angelehnt, auf einem zierlichen Stuhl sitzt ein übergewichtiger Mann, der nur Unterwäsche trägt. Die beiden verlieren keine Worte. Die Einzelheiten sind vor Urzeiten besprochen worden, es ist immer der gleiche Ablauf. Die Reituniform liegt im Bad auf einem Hocker, darauf wiederum liegt die Gerte. Die schwarzen, blank geputzten Lederstiefel stehen neben dem Hocker. Das Geld steckt im Zahnputzbecher. Geräusche aus dem Schlafzimmer deuten darauf hin, dass der Kunde sich eine Zigarette anzündet. Mit einem Peitschenhieb in die Luft betritt Aaron das Schlafzimmer der geräumigen, im englischen Stil gehaltenen Suite. Der Kunde zuckt zusammen.
»Habe ich dir erlaubt zu rauchen?«
Dem Nackten wird die Zigarette aus dem Mund geschlagen. Hastig wird die angebrannte Kippe vom Kunden entsorgt.
»Nicht nur, dass der große Junge ungehorsam war, er hat wohl auch seine Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht!«
Aaron blättert in einem Schulheft, zählt Fehler auf, kritisiert das Gekritzel. Mit einem roten Stift werden die falsch geschriebenen Worte unterstrichen.
»Ich wollte es ja, aber ich bin doch ein dummer Junge, außerdem hatte ich noch andere Aufgaben zu erledigen ...«
»Halt den Mund!«
Der Kunde kniet vor dem Bett, sein Oberkörper liegt bewegungslos auf den weichen Daunen. Die Reitgerte wird durch die Luft gezogen. Ein Schrei wird noch in den Kissen erstickt, aber je öfter die Gerte trifft, umso verzweifelter sucht der Schmerz, sich lautstark zu äußern.
Nach getaner Arbeit liegt der Kunde regungslos auf dem Bett, er jammert, doch Aaron hat sich schon wieder umgezogen. Die beiden vereinbaren einen neuen Termin, der in den jeweiligen Kalender eingetragen wird. Ein letzter ungnädiger Blick. Sein Kunde lässt sich auf den Fußboden gleiten, kauert in Embryohaltung auf dem Teppich, rappelt sich auf und kniet demütig mit gesenktem Kopf zu Aarons Füßen. Erst wenn der Herr das Zimmer verlassen hat, darf das devote Objekt aufstehen.
Aaron stößt die Kneipentür auf, lässt sich zwei mit Bier gefüllte Krüge geben. Vorsichtig balanciert er damit die vier Treppen des Hinterhauses herauf.
»Mutti, bist du noch wach? Schau mal, ich hab was Leckeres mitgebracht.«
Seine Mutter sitzt auf dem alten Sofa und stopft die Socken seiner Geschwister. Alt ist sie und grauhaarig, kaum mehr als einen Meter sechzig groß. Ihre Augen muss sie anstrengen, um den Faden durch das Nadelöhr zu bekommen. Sieben Kindern hat sie das Leben geschenkt, eine Totgeburt war dabei, zwei sind im Kindbett gestorben. Ihr Mann ist bei Bauarbeiten vom Gerüst gefallen. Die Frage, ob seine Mutter je schön war, kann Aaron gar nicht beantworten, ihre Haare sind dünn, zu einem kleinen Knoten im Nacken zusammengezwirbelt und sie trägt alte, abgewetzte Kleider. Die Nägel ihrer Finger sind vom vielen Putzen schmutzig und brüchig. Zärtlichkeit empfindet er für sie selten.
»Hier, nimm einen Schluck, wir haben zu feiern. Die besten Dekorateure haben eine Prämie bekommen und ich gehöre natürlich dazu. Wir mussten ein Schaufenster zu einem bestimmten Thema dekorieren. Meine Aufgabe war ›Sonnenuntergang am Meer‹.«
»Ach Junge, wo treibst du dich nur immer herum, erzählst Geschichten, machst die Nacht zum Tag. Du streunst herum und lässt mich im Ungewissen. Nie weiß ich, ob ich mir Sorgen machen muss oder ob ich mich beruhigt zurücklehnen kann.«
»Aber Muttchen, es ist alles in Ordnung. Schau mich an! Sieht so ein Herumstreuner aus?«
»Die Annerose fragt immer nach dir, du weißt schon, die Tochter von der Lehmann aus dem Vorderhaus. Also, die arbeitet bei der Post an der Kasse. Nicht schlecht, oder? Kannst du nicht mal mit ihr zum Tanzen gehen? Die ist doch was Reelles.«
Aaron zieht seine Mutter vom Sofa, tanzt mit ihr über den Holzdielenboden und singt:
»Am Abend möcht’ ich mit meinem Liebsten segeln gehen, sofern die Winde weh’n.«
Er schmettert laut, will nichts von Annerose hören, will nur eines, kann nichts sagen.
»Mutti, lass uns trinken, so jung wie heute kommen wir nicht mehr zusammen.«
»Der Krause hat wieder geklingelt, wegen der Miete, erhöht hat er sie auch noch. Was soll ich dem nur sagen? Es reicht doch vorn und hinten nicht. Scheißsystem, wenn die Kommunisten dran wären, dann sähe vieles anders aus, das kannst du mir glauben. Demokratie! Wenn ich das schon höre!«
»Mutti, hör auf, ich hab keine Lust, über Politik zu quatschen. Ist doch alles in Ordnung. Hier ...«, Aaron drückt ein Bündel Geldscheine in ihre Hände, »damit kannst du die Miete bezahlen.«
»Junge, du sollst doch nicht immer ... Hast du genug gegessen oder es wieder mal vergessen? Du fällst noch mal vom Fleisch ... komm, ich mach dir eine Stulle, Schmalz magst du doch gerne.« Frau Rosenbaum holt ein Brot aus dem Brotkasten, schneidet eine dicke Scheibe vom Laib.
»Mutti, ich werde aus dir nicht schlau. Jüdische Kommunistin, wie passt das zusammen?« Aaron hat sich an den Küchentisch gesetzt, schaut seiner Mutter zu, wie sie die Stulle mit Schmalz bestreicht.
»Und du, Junge, was bist du eigentlich? Arbeitest im KaDeWe. Dein Vater hätte das verurteilt.«
Aaron bekommt die Stulle auf den Tisch geknallt. »Maurermeister war er, wie schön das klingt.«
Frau Rosenberg setzt sich zu Aaron, sie schauen sich an. Aaron weiß, wie sehr seine Mutter den Vater vermisst. Sie wirkt zart, zerbrechlich, wenn sie in Gedanken bei ihm ist, so wie jetzt.
Abrupt ändert sich ihr Gesichtsausdruck, die harten Züge treten wieder hervor. »Aber nein, mein Sohn ist ja was Besseres, will sich nicht die Hände schmutzig machen, ist ja auch peinlich, wenn ich gefragt werde: Was macht eigentlich dein Ältester? Nee, wirklich, Aaron, schön ist das nicht.«
Sie macht eine Handbewegung, als wolle sie eine Fliege vor ihrem Gesicht vertreiben. Aaron beißt herzhaft in seine Schmalzstulle, beide wissen, dass er sich nicht zum Kommunisten eignet.
»Mutti, jetzt hat es endlich geklappt, ich wurde als Statist bei der Ufa aufgenommen. Ich habe aber auch nicht lockergelassen, also haben die von mir eine Karteikarte angelegt. Die wollen, dass ich den südländischen Typ verkörpere.« Aaron lächelt, zeigt seine weißen Zähne, als würde er für eine Zahnpasta Reklame machen. »Irgendwann ziehen wir in eine große Wohnung mit eigenem Bad, und lassen das Hinterhaus und Außenklo hinter uns. Gib zu, das würde dir auch gefallen.«
»Du kommst mit den immer gleichen Flausen im Kopf an, wie oft soll ich mir diese Litanei noch anhören? Geh jetzt schlafen. Morgen gibt es Bouletten mit Kartoffelsalat, außerdem müssen noch Kohlen hochgeholt werden.«
Der Sonntag zeigt sich von seiner schönsten Seite. Und auch Aaron selbst fühlt sich schön in seiner neuen Garderobe, die ihn weltmännisch aussehen lässt. Er trägt den angesagten American-Street-Style. Ein weißes Hemd mit einer braun-gelb diagonal gestreiften Krawatte, darüber eine graue Weste, das passende Sakko ist selbstverständlich. Eine weiße Kniebundhose, lange weiße Strümpfe, und dazu hochwertige Lederschuhe mit einer dunkel abgesetzten Kappe vollenden das Bild. Die Sonne wärmt, ohne zu brennen, der Ku’damm ist belebt wie immer, doch weder das Knattern der Autos noch das Getrappel der Pferdedroschken stören. All dies wird zur grotesken Hintergrundmusik in einem neuen Stück von Aaron Rosenbaum. Oh nein, diesmal ist es keine Fantasie. Er ist viel zu früh dran, schiebt sein Rad über den Bürgersteig. Wie werden sie den Tag verbringen? Was er wohl beruflich macht, werden sie sich unterhalten können? Man kann sich ja nicht gleich auf das Wesentliche stürzen. Seine Jacke ist ein bisschen zu groß, leicht abgewetzt, die Haare etwas lang. Aaron weiß, dass Herbert für den Massengeschmack zu kräftig ist, doch genau das zieht ihn an. Er will sich geborgen fühlen in starken Armen. Sein Herz schlägt schneller. Endlich mal von einem gehalten werden und nicht immer nur bedienen müssen. Noch eine Wurst und ein Bier. Vor der Wurstbude stellt er sein Rad ab.
»Bitte eine im Darm und ein Pils.«
Die Wurst knackt beim Reinbeißen, heiße Wassertropfen entweichen dem Darm. Das Bier löscht den Durst.
Er hat die Wohnung gar nicht schnell genug verlassen können. Der Dreikäsehoch stellte sich ihm in den Weg. »Ari, nimm mich mit, bitte!« Mit einem »Ich bring dir etwas Süßes mit« bahnte er sich den Weg aus der Wohnung. Der Kleine hatte den Vati nie kennengelernt. Aaron versucht, ein bisschen Vorbild für die Geschwister zu sein, merkt aber, dass er dazu kaum taugt. Kleine Wünsche kann er erfüllen. Mutti fragt schon lange nicht mehr nach, woher das Geld wohl kommen mag. Halb drei, nein, er will auf keinen Fall vor der verabredeten Zeit da sein, wie sähe das denn aus? An eine Litfaßsäule gelehnt auf sein Rendezvous warten? Unmöglich. Vor dem KaDeWe Schaufensterpuppen in grellen Farben. Spiegel reflektieren, Menschen flanieren, die Zeit steht still. Die Uhr der Gedächtniskirche lacht ihn aus. Die Zeitungsjungen glauben, Wichtiges vermelden zu müssen. Einsamkeit in ihm, und das hier, auf dem Ku’damm. Nie hatte er einen festen Freund, kaum einer hielt es bei ihm für längere Zeit aus, zu verrückt, auch zu sprunghaft war er, forderte Toleranz. Viele waren überfordert mit seiner Art, sich selbstbewusst zu präsentieren. Sein Leben ist ein Abenteuer, und er genießt es in vollen Zügen. Einer wie er kann nie genug bekommen. Ihm wird viel geboten, doch er will immer mehr und noch mehr, pickt sich die Rosinen aus. Liebhaber, Kunden, Anzüge, teure Seidenhemden, elegante Handschuhe, Manschettenknöpfe, Fahrrad, Budapester Schuhe, einen Siegelring, goldene Armbanduhr, Firlefanz und was es sonst noch so gibt. Seine Liste ist lang, ein Auto steht auch noch drauf. Die Zeiger der Uhren um ihn herum schieben ihn in Seitenstraßen, lassen ihn schleichen, im Kreis gehen, rückwärts trippeln, Fratzen ziehen, auf die Straße spucken.
Endlich Viertel vier. Er sollte ihn noch länger warten lassen, kann es aber selbst kaum mehr aushalten. Da steht er, an eine Hauswand gelehnt. Aarons Herz rast, seine rechte Hand in der Hosentasche ist schweißnass. Hinlaufen möchte er, sich in seine Arme werfen, von ihm hochgehoben werden. Nichts dergleichen geschieht. Angewurzelt bleibt er vor ihm stehen. Schüchternheit durchzieht jede Faser seines Körpers. Hoffen, dass er sie ihm nimmt. Nach Worten suchen, den trockenen Hals verfluchen. Seine schöne, tiefe Stimme hören: »Ich dachte, Sie kommen gar nicht mehr.« Ein unsicheres Lächeln sehen, fühlen, dass er sich auf ihn freut.
Die beiden betreten das Café, es ist mäßig besucht. Pärchen und einzelne Herren sitzen auf grün gepolsterten Stühlen. Das gedimmte Licht schmeichelt, lässt niemanden lächerlich erscheinen. Ein Mann am Klavier spielt amerikanische Schlager. Kellner sind bemüht, die Gäste zufriedenzustellen. Aaron ist bekannt hier. »Hallo, junger Mann«, begrüßt der Kellner ihn und schenkt seinem Begleiter ein Lächeln. Die Bestellung wird aufgenommen. Zwei Kännchen Kaffee, ein Weinbrand und ein Eierlikör, zwei Erdbeerkuchen mit Sahne werden serviert. Sie unterhalten sich ohne peinliches Schweigen. Herbert erzählt von seinem Studium, davon, dass er mit viel Eifer Russisch lernt, von der Agitproptruppe »Rotes Sprachrohr«.
»Du musst dir das so vorstellen: Wir sind keine der üblichen Theatergruppen, unsere Maxime heißt: ›Theater für Arbeiter‹, bei uns steht die politische Überzeugung im Vordergrund. Außerdem versuchen wir uns auch in anderen Formen, zum Beispiel Pantomime, Gedichte, Lieder und Sprechchöre. So kann man nämlich Menschen besser erreichen, auch jene, die zu den Zurückhaltenden gehören. Wir müssen alle Arbeiter mobilisieren, damit sich etwas ändert, weißt du?«
Herberts Augen funkeln vor Begeisterung und Aaron ist ganz gefesselt von seinen Ausführungen, hängt an seinen Lippen. Der Kaffee wird kalt. Likör und Weinbrand werden nachbestellt, unter dem Tisch streifen sich ihre Knie. Erste Küsse werden ausgetauscht. Die beiden schauen sich tief in die Augen. Ihre Hände greifen ineinander. Hier müssen Männer, die sich begehren, nichts befürchten. Aaron löst sich aus Herberts Händen und greift in sein Zigarettenetui, Herbert zaubert in Windeseile Streichhölzer aus seiner Hosentasche und entzündet eines davon. Aaron zieht an seiner Zigarette und bläst mit dem blauen Dunst das Zündholz aus. Die beiden Gesichter nähern sich an, sie sind sich so nah, dass sie einander riechen können. Herbert nimmt Aaron die Zigarette aus der Hand, drückt sie aus, will küssen, ohne zu denken. Aaron schaut der Zigarette hinterher, schaut hoch, betrachtet das Gesicht von einem wunderschönen Mann, wie gerne würde er denken: von meinem Mann, es sagen, fühlen bis in alle Ewigkeit. Und wieder treffen sich weiche, zarte, fordernde Lippen. Es ist, als müsste Aaron Luft holen, um einen klaren Kopf zu bekommen und erzählt Herbert einen Traum von ihm.
»Ich bin bei der Ufa Statist, man könnte sagen, wir sind Kollegen.«
Herbert runzelt die Stirn, »Na, ich glaub’, das kann man nicht unbedingt vergleichen ...«, lacht dann, holt tief Luft, als würde er im nächsten Moment die Kerzen einer Geburtstagstorte ausblasen wollen. Er ist aufgeregt, reibt sich die Hände unter dem Tisch an den Hosenbeinen trocken.
Aaron ist ganz hingerissen von dem schönen Hünen, und legt seine Hände auf den Tisch, sodass Herbert seine hineinlegen kann, dabei rollt Aaron verschmitzt die Augen und lächelt sein Gegenüber an: »Also gut ... Ich wohne im Wedding, habe drei jüngere Geschwister, rauche amerikanische Zigaretten, interessiere mich für Automobile, und für einen großen blonden jungen Mann ...«, lächelt Aaron, »so ... das reicht für den Anfang. Natürlich möchte ich auch von dir alles wissen.« Die beiden strecken ihre Köpfe, küssen sich lange und zärtlich dabei.
»Ich bin Rucksack-Berliner ...«, Herbert in Aufregung, »und komme aus Hohenfinow, das Kaff liegt etwa 60 Kilometer nordöstlich von Berlin entfernt ... dass ich in Berlin besser aufgehoben bin, kannst du dir sicher denken.« Er lächelt, schaut Aaron tief in die Augen, »und ich denke dabei nicht nur an mein Studium ...« Der Satz wird mit einem zärtlichen Kuss beendet.
Der Kellner wird herbeigewunken, die Rechnung beglichen. Der Alkohol ist den beiden zu Kopf gestiegen. Albernheit macht sich breit, sie kichern, schauen sich unentwegt an.
Draußen steht das Fahrrad zwischen zwei sich begehrenden Körpern.
»Wohin?«
»Wannsee?«
Aaron drückt Herbert das Rad in die Hände, dieser übernimmt, setzt sich auf den Sattel und fährt eiernd los. Aaron springt auf den Gepäckträger, beinahe wären sie mit dem Rad umgekippt.
Der See liegt ruhig. Familien verbringen ihren freien Sonntag hier, denken dabei nicht an das Morgen. Der Alltag ist weit weg, nur der Moment zählt. Zwei junge Männer in einem Ruderboot, Herbert hält die Ruder. Aaron sitzt ihm gegenüber. Solange die beiden sich in Sichtweise der Ausflügler befinden, halten sie sich zurück.
Die Zeit vergeht, ohne dass sie das Boot verlassen wollen. Sie liegen unbequem in einer Nussschale. Hemden sind längst ausgezogen, Haut berührt sich. Lippen, Zunge, Hände sind neugierig, erregt. Stöhnen wird unterdrückt. Leidenschaft überflutet die beiden. Schweißperlen rinnen von der Stirn, Rücken, Brust und Hände sind schweißnass. Hosen kleben am Hintern, an den Beinen.
»Noch nicht alles am ersten Tag«, bittet Herbert. Wie soll er sagen, dass er erst zweimal so weit gegangen ist? Wird Aaron verstehen, dass er Zeit braucht, weil es dieses Mal so ganz anders ist als mit den anderen beiden? Da war nichts mit pochendem Herzen. Aaron scheint so erfahren, weiß sicherlich alles über die große Liebe zwischen zwei Männern.
»Was ist los, mein Herz? Wo bist du in Gedanken? Ich merke doch, dass dich etwas beschäftigt.«
»Ich will das nicht hier in aller Öffentlichkeit. Das sollte doch nur uns beiden gehören.«
Ein Lächeln breitet sich auf Aarons Gesicht aus, er nimmt Herbert in die Arme, weiche, volle Lippen küssen sich.
»Lass uns zurückrudern.«
Die zwei machen sich auf den Weg, Aarons Hand liegt auf Herberts Schulter. Unentwegt schauen sie sich an, bleiben zwischendurch stehen, um sich hinter einem Baum zu küssen.
»Wo musst du hin, mit welcher Linie fährst du?«, fragt Aaron.
»Mit dem 77er, nach Charlottenburg. Ich wohne bei meiner Tante Klara.«
»In Ordnung, dann fahren wir zur nächsten Haltestelle. Der Bus kommt in zwanzig Minuten. Es bleibt noch ein wenig Zeit.«
»Wann sehen wir uns wieder, Aaron?«
»Tja, leider bin ich immer so beschäftigt mit meinen Berufen. Lass mal überlegen, Donnerstag kannst du mich abholen, ja?«
»Was meinst du mit Berufen? Statist kann man ja nur mehr als Hobby bezeichnen«, neckt Herbert.
»Liebesdienste und so ... also nichts Besonderes, bringt aber gutes Geld.«
Herbert glaubt, nicht richtig zu hören. Sein Magen verknotet sich. Einfach mal einen verführen, der nicht mit viel Erfahrung protzen kann, weil die Gefühle an erster Stelle stehen? Hat er Syphilis? Was für eine Rolle spiele ich? Fragen durchbohren seinem Kopf. »Los, verschwinde, du hattest deinen Spaß, nun geh schon und lach dich kaputt. Scheißstricher!«
Aaron reibt sich die Wange, hat nicht erwartet, eine gescheuert zu bekommen. Die schallende Backpfeife hat gesessen, hinterlässt deutliche Spuren. Herbert steigen Tränen in die Augen. Vorsichtig tritt Aaron auf ihn zu, möchte ihn ungeschickt in die Arme nehmen, doch Herbert stößt ihn weg.
»Bitte, du musst das akzeptieren ... Außerdem bin ich kein Stricher, ich steh nicht auf dem Alexanderplatz, wo sich Jungs für ein paar Mark fünfzig anbieten oder in einschlägigen Lokalen auf Freier warten. Ich habe Stammkunden, die wissen, was sich gehört, und sich nicht lumpen lassen. Ich brauche Geld, sehr viel Geld. Oder glaubst du, ich will als Trine enden, die im KaDeWe die Fenster dekoriert? Nein, bestimmt nicht. Ich habe großartige Wünsche, möchte das Schauspielern lernen, vielleicht irgendwann mal eine eigene schöne Wohnung, ein kleines, spritziges Auto besitzen. Von mir aus verachte mich, aber in einem musst du mir recht geben: Als Malocher oder kleiner Angestellter kann man in Deutschland nichts werden. Und glaube mir«, Aarons Stimme wird ganz leise, »mit dir, das ist etwas ganz Besonderes, das kann man gar nicht vergleichen. Ich möchte dich wirklich kennen lernen, alles von dir erfahren. Du hast doch auch Träume, oder?« Aarons Stimme zittert. Er macht einen Schritt auf Herbert zu, will seine Hand nehmen, sie halten, greift ins Leere.
»Ich weiß nicht, ob ich das möchte.«
Der Bus kommt, die Zeit drängt, Herbert steigt ein. Aaron steht regungslos auf dem Bürgersteig, schaut dem Bus hinterher.
Haltestelle Lietzenburger. Herbert steigt aus. Die Luft ist warm, für Verliebte geeignet, um sich an einem schönen Platz auf einer Parkbank aneinander zu kuscheln und von einer aufregenden Zukunft zu träumen, das Drumherum zu vergessen.
Seit Stunden läuft er ziellos durch die dunklen Straßen. Gaslampen säumen die Gehsteige, schenken gelbes Licht, werden zu Scheinwerfern, doch er spielt in keinem Film eine Rolle. Das Geschehene spukt in seinem Kopf, sodass er keinen klaren Gedanken fassen kann. So viel er auch hin und her überlegt, er kommt zu keinem Entschluss. Wie denn auch, er hat ja seinen Kopf verloren, an einen liebenswert-verrückten Kerl, den er vor einigen Tagen noch gar nicht kannte. Und jetzt springt er ihm in seinem blöden Hirn herum. Ich muss ihn einfach aus meinem bedepperten Kopf verstoßen, denkt er. Was ist schon groß passiert? Er ist dabei, sich zu verlieben, so heftig wie nie zuvor. Ein Gefühl wächst in ihm, das er nur vom Hörensagen kennt. Er hat in Romanen davon gelesen, doch war dort alles viel romantischer und von Prostitution war in den Büchern keine Rede. Auf dem Boot vibrierte sein verschwitzter Körper von der Fußsohle bis zur Haarspitze, sein Puls raste. Der schöne Mann reagierte auf sein Verlangen. Herbert ist sich sicher, früher oder später hätte er sich ihm hingegeben, mit Haut und Haaren. Tränen laufen über seine Wangen, er fühlt sich betrogen. Die von der Partei sprechen davon, dass Frauen gezwungen werden, sich zu prostituieren, um protzende Kapitalisten zu befriedigen, außerdem wird ihnen das wenige Geld auch noch von gewalttätigen Zuhältern abgenommen. Und Aaron macht das sogar freiwillig, ist vielleicht mit Spaß bei der Sache, ihm ist alles zuzutrauen, und das aus niederen Bewegungsgründen heraus.
Es ist drei Uhr nachts, als Herbert endlich in seinem Bett liegt. Bin ich eigentlich viel besser?, fragt er sich. Ich bin Kommunist und wohne bei meiner Tante, einer höheren Beamtenwitwe, die mich finanziell unterstützt und einkleidet, zusätzlich kommt auch noch monatlich Vatis Scheck dazu. Ein toller Kommunist bin ich. Er findet keinen Schlaf, wälzt sich hin und her. In seinem dunklen Zimmer springen ihm alte, dicke Männer ins Gesicht, machen sich über Aaron her, dieser lässt so manches über sich ergehen. Weder das Schließen der Augen noch das Anknipsen seiner Nachttischlampe können die Bilder verdrängen, er fühlt sich ausgeliefert. Der Morgen graut, die Vorstellungen der Nacht sind noch immer in Herberts Kopf, er will sie loswerden, sie weigern sich, zu verschwinden, schlimmer noch, sie scheinen ihn auszulachen, seine Augenlider erschweren sich ... Bohnenkaffeeduft weckt ihn.
Tante Klara pfeift in der Küche nach einer Melodie, die aus einem knarzenden Radio erklingt, der Dackel kläfft, gewöhnliche Töne um Herbert, der heute im Bett bleiben möchte, sich am liebsten besaufen würde. Sie ruft ihn aus seinem warmen Bett. Natürlich hat sie schon frische Schrippen gekauft, den Hund an seinem Stammbaum das große oder auch kleine Geschäft verrichten lassen. Herbert hält sich die Ohren zu. Sie kann ohne Punkt und Komma reden. Er schiebt endlich die Bettdecke beiseite, quält sich aus dem Bett, er will die Träume der Nacht vergessen. Und obgleich ihn seine Tante mit ihrer guten Laune verrückt macht, hilft sie ihm, für einen Moment nicht denken zu müssen.
»Guten Morgen, Tantchen«, grunzt er misslaunig. Schrippen sind mit Butter bestrichen und mit Marmelade bekleckst, Kaffee wird eingeschenkt, Sahne dazugetan. »Tantchen, du sollst das doch nicht machen, außerdem muss ich gleich zur Vorlesung, bin eh schon spät dran.«
Beine gehen Wege, die bekannt sind, das Herz schlägt bis zum Hals.
Seit zwei Jahren lebt er nun schon in dieser verrückten Stadt, wie lange hat er davon geträumt, jemandem so nah zu sein wie gestern, um dann alle Ängste über den Haufen werfen zu können? Blumen? Nein, das ist nun wirklich zu kitschig. Wittenbergplatz. Die Vorlesung läuft auch ohne ihn. Ich vergesse einfach, dass er sich verkauft, tue so, als hätte ich es nie gehört. Komme angelaufen wie ein räudiger kleiner Köter mit heraushängender Zunge, laufe ihm hinterher. Gedanken springen, bringen Unordnung in seinen ansonsten so geordneten Kopf, aber was macht es schon? Es ist sowieso alles durcheinander, Mitglied der DKP, er, der Sohn eines Dorfschullehrers. Landei, nie weiter als bis zum Horizont geschaut, keine Fragen gestellt. In Berlin angefangen, sich umzuschauen, staunend diese pulsierende Stadt in sich aufgenommen. Von Thälmann gehört, seinen Berlinbesuch herbeisehnend, vom Roten Sprachrohr gelesen. Kommunist mit Leib und Seele geworden. Parolen geschrien, sich nicht zu schade gewesen, in Armenküchen Suppe auszuteilen. Bei einem kommunistischen Blatt ein Volontariat gemacht.
Herbert steht vor dem KaDeWe. Hier und jetzt kann er entscheiden, wie es weitergehen soll, denn er weiß nur zu genau, dass er Aaron nicht mit seinen Moralvorstellungen ändern kann. Hin und her gezogen fühlt er sich, er hat den Kopf verloren, kann, will ohne diesen verrückten, zärtlichen, schönen Mann nicht mehr sein, auch wenn es bedeutetet, dass er sich verkauft. Er betritt den Luxusladen zum zweiten Mal und will es den Kunden gleichtun, versucht, das Flanieren zu kopieren, möchte unauffällig wirken, einfach zur Masse gehören, nimmt Rolltreppen hoch und runter. Er sehnt sich Aaron so sehr herbei, er wird sich erklären. Was soll er erklären? Aaron ist nicht im Warenhaus. Jede Abteilung hat er detektivisch durchforstet, in Umkleidekabinen gelugt, noch nicht aus der Kabine geräumte Hosen gesehen, Hemden auf Bügeln. Wo kann er sein? Hat er frei, ist er kurz rausgegangen, um etwas zu besorgen? Quatsch, hier gibt es doch alles, aber zu welchem Preis? Herbert öffnet eine Tür. »Nur für Personal« steht in großen Lettern auf einer grauen Feuerschutztür. Das Treppenhaus offenbart sich, weiße Pfeile auf grünem Hintergrund zeigen sowohl nach unten als auch nach oben. Lagerräume sind immer im Keller. Es ist kaum auszuhalten. Ich werde Aaron finden. Verraucht ist die Wut, Verzweiflung gewichen. Hochmut kommt vor dem Fall. Nicht enden wollende Gänge, einem Labyrinth ähnlichen Geflecht fühlt er sich ausgeliefert. »Dekoration« steht über einer breiten Tür. Herbert legt seine Hand auf die Klinke, die Tür lässt sich schwer öffnen, er muss sich dagegenstemmen. Der Schlager »In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee« ertönt vom Grammophon, dringt durch den Türspalt, kitzelt im Ohr.
Ein riesiger Tisch mitten im Raum, Regale bis zur Decke, gefüllt mit Stoffballen, Preistafeln lehnen an grober Wand. Die Schaufensterpuppen nackt, hinten links Schneemänner, Osterhasen, Weihnachtsmänner, Rehkitze hinten rechts. Ist hier also sein Reich? Ein großer, bunter Raum, gerade richtig für einen verrückten Jungen.
Schöner Po, Hände stützen auf diesem Tisch den Oberkörper ab, Kopf geneigt mit Blick auf Zeichnungen. Zigarette hinter das rechte Ohr geklemmt, hinter dem anderen Ohr steckt ein Bleistift.
»Aaron!«
Schweigen. Der Hals ist zu porös, um klare Töne wohlklingend auszusprechen. Der schlanke Körper richtet sich auf und wendet sich um. Schönheit macht das Lager zum Salon.
»Mein Herz, du? Ich dachte nicht ...«
Sie laufen aufeinander zu, Herbert hebt Aaron hoch, wirbelt mit ihm durch das Lager, lässt ihn hinunter. Küsse, so viele, dass sie nicht zu zählen sind. Aaron dreht sich aus Herberts Umarmung, um die schwere Tür abzuschließen.
»Ich hab die ganze Zeit an dich denken müssen. Vor noch nicht allzu langer Zeit konnte ich mir nicht einmal eingestehen, dass ich je einen Mann wirklich mit allen Konsequenzen lieben könnte.«
Schweigen erfüllt den Raum. Aaron lässt das Gesagte auf sich wirken, er nimmt Herberts Hände, schaut ihm in die Augen.
Herbert senkt den Kopf. »Ich meine – schau mich an – so sieht Herr Unterdurchschnitt aus.« Er zeigt mit herunterfallenden Armen auf sich. Er trägt ein Hemd, darüber einen leichten Pullunder, eine Kniebundhose, grobe Schnürschuhe. Ausstaffiert von seiner Tante, und im Vergleich zu Aaron fühlt er sich doch nur als der Junge, der vom Land in der aufregenden Metropole gelandet ist. »Exklusivität sieht anders aus.«
Aaron umarmt Herbert.
»Du bist ein Dummkopf! Glaube mir, ich habe einen Blick für beste Qualität und du brauchst dich wirklich nicht zu verstecken.«
Sie ziehen sich einander schnell aus, schauen sich dabei verliebt und neugierig an. Ihre Blicke gehen hinunter, pure Erregung zeichnet sich für beide. Herbert fühlt Beklemmung in sich aufsteigen. Nackt zu sein erfordert seinen ganzen Mut, jedoch ist ein Zurück keine Option. Er will den Mann hautnah erleben. Aaron genießt den Blick auf den schüchternen Herbert, der versucht seine Erregung zu verdecken. Aaron nimmt Herberts Hände in seine, zieht ihn an sich heran. Sie küssen sich. Herbert lehnt sich an seinen schlanken Körper, die Hände lösen sich voneinander. Herbert umfasst Aarons Hüften. Dieser windet sich hinaus, kniet sich auf den zu harten Boden, um Herberts Glied mit dem Mund zu umschließen. Das Stöhnen wird lauter. Aaron erhebt sich. Der Tisch dient als Liebeslager. Stecknadeln, Zeichnungen, Zirkel, Maßbänder, Stoffstreifen, Pappkartons, Skizzen fliegen auf den Betonboden. Die beiden jungen Männer verschmelzen auf der Tischplatte, sie streicheln sich, schauen einander immer wieder verliebt an. Lippen sind auf Wanderschaft, die Zunge spürt der salzigen Haut nach. Herberts Atem stockt, er kann nicht genug bekommen. Seine Erregung füllt den Raum aus, längst ist die Unsicherheit verflogen, er will nur noch lieben. Aaron genießt Herberts Zärtlichkeiten. Seine Fingernägel hinterlassen leichte Kratzspuren auf dem Rücken seines Liebsten. Beide umschließen jeweils mit einer Hand das erigierte Glied des anderen. Aus einem sanften Umfassen wird ein kräftiges Auf- und Abbewegen der Hände. Und immer wieder küssen sie sich. Herbert will an diesem Tag Aaron besitzen, er will in ihn eindringen, will seine Männlichkeit entladen, pulsierend, laut stöhnend will er kommen. Er hebt Aarons Beine an, zärtlich wird der erregte, angefeuchtete Penis eingeführt. Die beiden schauen sich an, wissen, dass sie das Schönste auf der Welt miteinander teilen. Aaron stöhnt leicht auf, ist ausgefüllt, kein Schmerz, nur Lust und Verlangen, sie lassen sich aufeinander ein, finden ihren Rhythmus. Kurz darauf entladendes Schreien, Stöhnen, Aaron und Herbert kommen beinahe zeitgleich. Ihre Liebesgeräusche bleiben im dicken Gemäuer hängen. Nackt betrachten sich die beiden, ihre Hände streicheln zärtlich die noch immer erregte Haut des anderen. Lachen befreit, wird unterbrochen von Küssen, die kein Ende nehmen wollen.
Die Zeit rückt voran, sie sollten vernünftig sein, sich anziehen, sich verabschieden, sie zögern die Trennung hinaus. Herbert ist auf seinem Ellenbogen gestützt, zärtlich streichelt er Aarons behaarte Brust, die Finger wandern über einen ermatteten Körper, die Augen folgen der Hand, diese berührt flüchtig den beschnittenen Penis. Herbert schaut Aaron fragend an, dieser schließt seine Augen. »Jude eben«, flüstert er unbekümmert.
»Wenn das mein alter Herr wüsste ... oh-oh!«, erwidert Herbert, »aber natürlich darf er gar nichts wissen von dem, was wir hier tun«. Er legt sich auf Aaron, verweilt und küsst ihn, dann krabbelt er vom Tisch und seufzt beglückt. Aaron folgt ihm, schaut auf den breiten Rücken, betrachtet die etwas schmalere Taille, den prachtvollen Po, er ist hingerissen von dem, was er sieht. »Ich muss zur Universität, eine Klausur schreiben. Wann sehe ich dich wieder? Ich brauche dich jeden Tag!« Sanft löst Herbert sich aus Aarons Armen.
»Mein Herz, Freitagabend können wir uns sehen, du holst mich nach meinem Feierabend ab, ja?«
»Aaron, erzähle mir niemals mehr von deinen Kunden und nimm auch nicht mehr das Wort ›Liebesdienst‹ in den Mund, es schmerzt zu sehr. Ich will glauben, dass ich der Einzige bin, den du liebst.«
»Aber das bist du doch, glaube mir.«
Sie ziehen sich schweigend an, Herbert ist in Gedanken schon an der Universität. Wird er seine Eifersucht bezwingen können, wird er ihn anschauen können, ohne an die Freier denken zu müssen, die sich Aaron bemächtigen? Aaron steht hinter Herbert, legt seine Hände auf dessen Hüften, küsst den Nacken. Herbert lehnt sich zurück, will nicht denken, nur diesen einen Moment genießen, hört leise an seinem Ohr: »Ich liebe dich jetzt schon.«