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Familienlügen an einem Sonntag – Frühling 1927
ОглавлениеDer Sonntag verspricht, ein Familientag zu werden. Aaron wird sich an der Ostsee in der Sonne aalen, denkt Herbert in Berlin, während er den Tag mit der Familie verbringen wird. Er schlendert in der Pyjamahose über den Flur mit seinen abgezogenen Dielen und den Teppichen darauf. Der Schlüssel wird ins Schloss gesteckt und noch ehe die Wohnungstür geöffnet wird, ist das Gekläffe des Hundes schon im ganzen Haus zu hören. Komisch, dass sich bisher noch nie einer der Nachbarn beschwert hat – Tante Klara ist wie immer zu warm angezogen, hängt ihren gefütterten Sommermantel auf, streift die Schnürschuhe von den Füßen. Sie hat Schrippen gekauft, wie jeden Sonntag, und setzt schon den Wasserkessel auf den Herd.
Zehn Minuten später sitzen die beiden am reichlich gedeckten Frühstückstisch, Herbert halbnackt. Noch immer kläfft der Hund. Tante Klara redet ununterbrochen. Sie steht auf, öffnet das Fenster, um Luft herein zu lassen, setzt sich, kleckst Marmelade auf ihre Schrippe, steht auf, dreht den Gasherd auf, stellt eine Pfanne darauf. Herbert braucht gar nicht zu erwähnen, dass sie dieses Mal kein Rührei für ihn bereiten muss. Sie kommt zurück zum Tisch, nimmt einen Schluck vom Kaffee, wendet sich gut gelaunt wieder dem Ei zu. Herbert rührt mit dem Löffel in seinem Kaffee, der Hund nervt ihn. Das Rührei wird auf seinen Teller gekippt. Zwei Eier, geschätzte 100 Gramm Butter, kein Wunder, dass ihm jeden Sonntagmorgen der Appetit vergeht. Sein Vater wird heute erscheinen, dieser Tag verspricht nichts Gutes. Tötungsarten für den Köter gehen ihm durch den Kopf, er würde human vorgehen, so ein Hund ist auch ein Lebewesen. Man könnte ihn sich überfressen lassen, bis er platzt – Herbert grinst.
»Nichts geht über einen gemütlichen Sonntagmorgen ...«, Klara, wieder am Tisch sitzend, »nicht wahr, mein Lieber?«. Herzhaft beißt sie ein weiteres Mal in ihre Schrippe. »Und, freust du dich, deinen Vater heute zu sehen?« Tante Klaras Gesicht strahlt, im Moment kann ihr keiner den Tag madigmachen. »Wie wollen wir den Tag verbringen? Hast du dir etwas überlegt? Natürlich gibt es am Abend Spargel, ausgelassene Butter ... oder lieber Sauce Hollandaise? Das wird ein Fest, nee wirklich, ich freu mich so!«
»Tantchen ... vielleicht können wir in den Botanischen Garten gehen. Mir reicht Butter auf dem Spargel, aber Vati will auch gefragt werden, wir werden nicht einfach über seinen Kopf hinweg entscheiden können. Du weißt ja, wie er am liebsten bequem auf dem Sofa sitzt und nichts weiter tut, als seine Bibel zu studieren.«
»Ach ja, der Eddy war schon immer ein bisschen sonderbar, immer saß er auf der Ofenbank, mit der Nase in der Bibel vertieft hat er die Welt um sich herum vergessen, während wir über die Felder liefen, die Äpfel von dem Bäumen pflückten, im See schwimmen gelernt haben. Und das Unterrichten an der Dorfschule, das kann doch einen Mann nicht ausfüllen, aus seinen Schülern kann sowieso nichts Vernünftiges werden ... Ich frage mich, warum er nicht zu uns nach Berlin gekommen ist? Ich habe das doch auch getan, und sieh, was aus mir geworden ist.«
Herbert enthält sich eines Kommentars, beißt in seine dick mit Butter und Marmelade bestrichene Schrippe. Tante Klara holt groß aus und niemand hält sie auf.
»Als deine Mutter gestorben war, boten wir ihm an, mit dir hier in Berlin zu leben, vorerst hätte ich mich um dich gekümmert, arbeiten brauchte ich ja nie, so wie es die Arbeiterfrauen müssen oder die jungen Frauen es auf einmal wollen. Frau Martern hat mir erzählt, dass ihre Nichte sogar Architektur studiert. Zeiten sind das heutzutage! Gott sei Dank hat der Gustav immer gut verdient.« Sie schaut sich im Esszimmer um, es scheint, als wolle sie den soeben ausgesprochenen Satz noch nachklingen hören. »Dein Vater hätte die Chance ergreifen sollen, hier ein neues Leben mit dir zu beginnen. Dein verstorbener Onkel kannte einflussreiche, wichtige Leute, er wäre als Fürsprecher aufgetreten, was meinst du, was alles möglich ist, wenn man Menschen kennt, aber der Eddy wollte ja unbedingt in diesem Nest bleiben. Ich glaube, für dich wäre es erst recht gut gewesen, bei einer liebenden Mutter aufzuwachsen. Wir hätten es uns gut gehen lassen, nicht wahr?«
»Du bist meine Tante.«
»Ach, du weißt doch, was ich meine. Ich denke oft daran zurück, wir besuchten euch, natürlich gab es nur trockenen Kuchen, von einer alten, kurzsichtigen, dicken Landfrau gebacken, der ständig die Nase lief. Wer weiß, was die alles in den Teig getan hat. Ich hab dich immer in meine Arme schließen müssen, du wolltest gar nicht, dass ich dich wieder loslasse.«
»Tatsächlich? Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Wirklich nicht? Und dann dieser Kirchenkram! Nein, mein Junge. Heiligabend, Ostern, Pfingsten, na gut, aber doch nicht jeden Sonntag in die Kirche latschen. In meinen Augen kann so etwas nur schädlich sein.«
»Ich hatte auch meine guten Zeiten in der Kirchengemeinde. Ich habe noch immer den Weihrauchgeruch in der Nase. Und du musst zugeben, die Katholiken halten einen ehrfürchtigen Gottesdienst. Nur glauben konnte ich ihnen irgendwann nicht mehr.« Herberts Gesicht scheint Erinnerungen wahrzunehmen.
»Dein Vater hat ein Recht, zu erfahren, wie es um dein Studium steht. Also, wirst du ihm reinen Wein einschenken?« Klara mustert ihn streng über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.
»Tantchen, das geht nicht, es ist zu früh. Vati wird mich enterben!«
»Wenn das alles ist, dann hast du ja nichts zu befürchten.«
Es hat geläutet.
Klara und Herbert sind überrascht, erheben sich. Der Hund hört endlich auf, nach der Wurst vom Tisch zu betteln. Die Beamtenwitwe schaut noch mal schnell in den Garderobenspiegel, bevor sie die Wohnungstür öffnet. Klaras Bruder betritt den Flur.
»War das eine Bahnfahrt, du glaubst gar nicht, wer sich alles auf den Weg in die Hauptstadt macht. Nun ja, wo ist mein Sohn?«
Klara hält ihrem Bruder die Wange hin.
»Vielleicht begrüßt du mich erst einmal, bevor du die Wohnung stürmst ... bist früh dran ... immerhin verpasst du doch sonst nie deinen Gottesdienst ...?« Sie flüstert ihm ans Ohr: »Er ist im Esszimmer ... beim Frühstück«, und dann wieder lauter, »zieh erst mal den Mantel aus ...«
»Nun...«, Eddy kommt Klaras Wunsch nach, hängt sein Mantel auf, dreht sich zu ihr um, »gestern war ich noch in der Dorfschule, heute Morgen im Gebet zu meinem Gott versunken ... du siehst, es ist alles im Lot«, dennoch straft er seine Schwester mit dem üblichen herablassenden Blick, sobald er sich auf den Arm genommen fühlt. Welten prallen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die resolute, praktisch denkende und handelnde Klara und Eddy, der schnell überforderte Dorfschullehrer, der an seinen unumstößlichen christlichen Werten festhält.
Die beiden laufen in die Küche, wo Herbert und sein Vater sich mit einer Umarmung begrüßen.
»Eddy, setz dich. Wir haben noch gar keine richtigen Pläne für den heutigen Tag geschmiedet, dein Sohn hat den Botanischen Garten vorgeschlagen, aber jetzt gibt es erst mal frischen Kaffee.«
»Junge, erzähl doch mal, wie es dir so ergangen ist. Ich weiß so wenig von dir.«
»Ach Vati, da gibt es nicht viel zu erzählen, immer das Gleiche.«
»Dass ich nicht lache: ›immer das Gleiche!‹. Und warum kommst du dann mitten in der Nacht nach Hause?«, fällt Klara in das Gespräch ein.
»Tantchen, du übertreibst ... ich konnte nicht schlafen und da bin ich halt noch mal runter.« Herbert ertappt sich dabei, dass er zu laut und zu aufgeregt reagiert. »Wie geht’s denn so in Hohenfinow?« Er muss das Thema wechseln: »Ist die Trude vom Hagener Hof immer noch scharf auf dich?«
»Herbert, mäßige dich, oder habe ich dich so erzogen?« Ein Vater-Satz, den Herbert immer wieder vor die Füße geworfen bekommt. »Also wirklich ... nach dem Tod deiner Mutter war jede Frau für mich tabu. Deine Wortwahl gibt mir eh zu denken.«
»Soso, und bevor sie das Zeitliche segnete, da warst du wohl kein Kind von Traurigkeit?« Die Schwester grinst.
»Klara, wie kannst du nur? Manchmal frage ich mich, ob Berlin für euch der richtige Ort ist. Nicht mal gedacht habe ich an andere Frauen.«
Klara schenkt Kaffee ein und setzt sich zu den Männern.
»Herbert, also?« Der Vater lässt nicht nach.
Herbert weiß, dass er früher oder später Farbe bekennen muss: »Die Arbeit im Antiquariat macht viel Spaß, ich komme mit vielen Menschen in Kontakt, so etwas kann man ja immer gebrauchen. Natürlich berate ich jeden Kunden individuell, es gibt oft anregende Gespräche, unsere Kundschaft ist sehr gebildet. Und weit fahren muss ich da auch nicht, ich kann dir den Laden ja mal zeigen, ist gleich um die Ecke. Herr Salomon ist sehr zufrieden mit mir.«
»Und das Studium, kommst du gut voran? In deinen Briefen berichtest du mir nie, wie es an der Universität so vor sich geht. Ein Vater will doch wissen, wie sich sein einziger Sohn macht. Theologie ist nicht irgendetwas, du wirst einmal sehr viel Verantwortung übernehmen müssen. Wie sind denn deine Professoren? Sind sie mit dir zufrieden? Vor allem, wenn du Predigten halten wirst, musst du vor den Kommunisten warnen. Kann ja politisch jeder denken, wie er will, aber ohne Gott und seine Herrlichkeit, da sehe ich schwarz.«
Herbert fühlt sich unwohl, nicht nur, weil er noch immer vorgibt, Theologie zu studieren, sondern auch, weil die Bewunderung für seinen verschrobenen Vater längst der Realität gewichen ist. Wie wird sein Vater reagieren, wenn er von seinen politischen Träumen erfährt? Natürlich muss er es ihm irgendwann erzählen, doch bitte noch nicht heute. Der Vater reißt ihn aus seinen Gedanken.
»Sag mal, was hältst du denn so von den Kommunisten? Haben die schon mal versucht, dich von ihren abstrusen Vorstellungen zu überzeugen?«
Herbert verschluckt sich an seinem heißen Kaffee.
»Jetzt reicht es aber mit den Diskussionen!« Zum Glück schaltet Klara sich ein. »Wie werden wir den Tag denn nun verbringen? Was haltet ihr davon, in den Zoo zu gehen, da kann man sich so schön entspannen und bekommt noch jede Menge zu sehen.«
Herbert lächelt seiner Tante dankbar zu.
»Sag mal, Herbert, wie verbringst du eigentlich deine Freizeit?« Eddy holt seine Bonbondose aus der Hosentasche und bietet seinem Sohn ein Lutschbonbon an. »Ich hoffe, du bleibst standhaft. Wer zu etwas Höherem auserkoren ist, so wie du es bist, und daran lasse ich keinen Zweifel aufkommen, der hat ein großartiges, gottgefälliges Leben vor sich und sollte voller Dankbarkeit niederknien und dem Herrn jederzeit zuhören und ihm folgen.« Sein Vater ist in seinem Redeschwall oft nicht zu stoppen, genau wie seine Schwester, was er natürlich weit von sich weisen würde. »Was ich sagen will, ist: Es gibt genug junge Frauen, die einem gestandenen Mann den Kopf verdrehen wollen. Heutzutage haben die ja schon merkwürdige Ideen. Die neueste Mode scheint auf einmal die Selbstbestimmung zu sein. Berufstätig sind sie, einige studieren sogar.« Er glaubt, ihn vor Protestanten, Nudisten, Juden, Frauen, sollten diese nicht als Nonnen ihr Leben verbringen wollen, Alkoholikern, Freidenkern, Gewerkschaftlern, Spiritisten, aber auch Bruderschaften warnen zu müssen. »Auf einer Litfaßsäule habe ich eine Plakatwerbung gesehen und dort rauchte ein blonder ›Vamp‹, so sagt man doch wohl.« Klara beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen. »Damit nicht genug, ich will gerade die Straße überqueren, da hupt eine Frau mit ganz kurzen Haaren im Automobil, sodass ich zur Seite springen musste. Ganz ehrlich, so etwas Verrücktes hat die Welt noch nicht gesehen.« Der Vater ist empört und schaut Herbert tief in die Augen: »Also, was sagst du dazu?«
»Ach Vati! Worüber du dir Gedanken machst?« Herbert sucht nach Auswegen, sucht nach Wörtern. »Neben meinem Studium und der Arbeit im Antiquariat bleibt mir doch gar keine Zeit für Frauen ...« Er muss noch mehr auf die Frauen eingehen. »Die Damen hier in Berlin sind halt so ... Bei der holden Weiblichkeit bleibe ich standhaft ... bisher hat mich noch keine rumkriegen können und das wird auch so bleiben.«
»Gehst du denn auch regelmäßig in die Kirche? Du weißt, wie wichtig das ist, um ein ehrfürchtiges christliches Leben zu führen. Ich will doch nur das Beste für dich.«
Herbert fühlt sich wie in einer Klosterzelle, deren Wände bedrohlich auf ihn zu kommen. Der Vater mit seinen gestrigen Ansichten lässt ihn wütend werden.
»Vati, ich bin nicht so ... so, wie du mich haben willst!« Bevor Herbert sich versieht, ist der Satz schon aus ihm heraus, er könnte sich auf die Zunge beißen. Dieses Mal hat er sich aus der Reserve locken lassen. Herbert atmet tief durch, sieht Klara an, sieht in ihrem besorgten Gesicht ihre Befürchtungen, dass er und sein Vater heute aneinandergeraten werden. Herbert hört sie sagen: »Also, seid ihr so weit? Die Sonne scheint, wir werden uns einen schönen Tag machen.«
»Was willst du mir sagen, Herbert? Raus mit der Sprache! Du weißt, ich bin tolerant.«
Das Wort »tolerant« hat Herberts Vater mit ekelverzerrtem Gesicht ausgespuckt. Tausend Speichelbläschen haben dieses Wort begleitet, treffen Herberts Gesicht. Er friert, eisig ist die Stimmung in dem behaglich eingerichteten Esszimmer. Aber dann steigt eine unglaubliche Hitze in ihm auf und löst den Gefrierzustand ab. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Was kann er tun, wie seinen Vater beruhigen und ihn auf andere Gedanken bringen, wissend, dass er nicht über sich und Aaron sprechen kann und dass für ihn nur das Studium der Zeitungswissenschaft infrage kommt? Wie soll er mit seinem Vater über seine politischen Überzeugungen reden?
Herberts Vater steht auf, sein Gesicht ist puterrot. Er presst die Hände zusammen, es scheint, als kämpfe er mit sich selbst. Explodieren oder implodieren steht zur Wahl, ist es zu verhindern? Herberts Vater bleibt unbewegt, seine Arme hängen inzwischen an ihm hinab, alles, was er sich für seinen Sohn erträumt hat, ist in wenigen Minuten weggebrochen. Herbert schaut seinem Vater ins schmerzverzerrte Gesicht. Dieses Gesicht wandelt sich zu einem glatten Antlitz, auf welchem man auszurutschen droht, sobald man sich dieser Fläche ausliefert. Vorsicht ist geboten.
»Herbert, ich glaube, wir müssen uns mal aussprechen, und zwar in aller Ruhe. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.«
Geflüstertes Heucheln zwingt zum genauen Hinhören. Nicht einmal der Hund wagt mehr zu bellen.
»Vati, nein, es ist alles in Ordnung, das ... das ist mir nur so rausgerutscht, ehrlich.«
»Herbert, bitte mach mich nicht wütend. Dein Studium ist nicht so selbstverständlich, wie du glaubst. Nur weil ich weit weg auf dem Dorf lebe, kannst du mich nicht hinters Licht führen. Ich bin kein Dorftrottel.«
Herbert ist sich seiner Abhängigkeit mehr als bewusst. Der monatliche Scheck erlaubt es ihm, nur ein paar Stunden in der Woche zu arbeiten, sodass genug Zeit für das Studium, für die Schauspielgruppe, und seit Neuestem, für Aaron und dessen verrückte Eskapaden bleibt. Herbert wird von verzerrten Bildern umnebelt, Aaron, der schönste Mann, der ihm je begegnet ist und der sich ausgerechnet für ihn interessiert, sein Lachen, sein Selbstbewusstsein. Valentin, Regisseur der Theatergruppe, Kommunist ohne Wenn und Aber, ein Vorbild, streng und doch gerecht. Seine Professoren, die Vorlesungen, das Wissen, dass jede Staatsform unbestechliche Reporter braucht, die sich nicht beirren lassen und sich nur der Wahrheit verpflichtet fühlen. Herbert fühlt sich umarmt, wie viel Liebe, Zuneigung, Interesse wird ihm entgegengebracht. Eine innere Ruhe erwächst auf einmal aus ihm heraus.
»Vati.« Er sucht nach den richtigen Worten, ist sich darüber im Klaren, dass er viel verliert, wenn er sich für die Wahrheit entscheidet. Wie wäre es mit ein bisschen Wahrheit? Seine Augen finden sich in denen von Tante Klara wieder, die ihm sagen, dass er hierbleiben kann, was auch geschieht.
»Ich studiere Zeitungswissenschaften. Es tut mir leid, aber ich habe gespürt, dass mein Interesse für etwas ganz Neues gewachsen ist. Als Reporter kann ich die neue Sache mit vorantreiben. Kommunisten kämpfen für eine große Veränderung in der Gesellschaft. Menschen hungern, sind arbeitslos, werden von Vermietern auf die Straße gesetzt. Glaubst du, da kann ich mein Leben demütig Gott widmen, meine Augen verschließen vor all der Not?« Bleib ruhig, ruft sich Herbert zur Ordnung, seine Stimme zittert, sein scheinbares Selbstbewusstsein ist ihm kurzzeitig abhandengekommen, muss noch mal hervorgekramt werden. »Wenn es losgeht, bin ich ganz vorne mit dabei!« Herbert hat sein Ideal herausgeschrien, mit kräftiger Stimme. Sein Herz rast, aber sein Kopf ist wie befreit. Jedes Wort, das seinem Mund entsprungen ist, ist wahr. Es sollte reichen, mehr will er nicht erzählen, nichts von seiner großen Liebe.
Eddy hört und will es nicht glauben, sieht dabei in das entschlossene Gesicht seines Sohnes, beinahe zwanzig Jahre laufen vor seinen inneren Augen ab. Er allein hat ihn aufgezogen, gegen alle Widrigkeiten. Er will es nicht und dennoch rutscht ihm die Hand aus. »Herbert verzeih«, will er sagen, doch die Worte bleiben im Hals stecken. Erschrocken zieht er die Hand zurück, die auf der Wange seines Jungen einen Abdruck hinterlässt hat.
Herbert hat nicht mit der Ohrfeige gerechnet. Sein Vater hatte ihn doch nie zuvor geschlagen. »Vati, es war dein Traum, den ich dir erfüllen sollte ... ich kann das nicht, es tut mir leid.«
Sie sehen sich an, fremd sind sie sich in diesem Moment, und wissen es, unausgesprochen. Liebe ist manchmal nicht genug.
»Du mit deiner Kirche ...!«, Herbert schlägt verbal um sich. »Ich scheiße auf das ganze Getue, ich will nichts mehr damit zu tun haben, nur dass du es weißt!«
»Junge, so kannst du nicht mit mir reden!« Eddy stürmt aus dem Esszimmer, nimmt seinen Mantel vom Garderobenhaken, schreit: »Deine Beleidigungen treffen mich nicht so sehr wie die Lügen, die du mir seit Langem in deinen Briefen an mich schreibst.«
Noch bevor die Wohnungstür zuschlägt, ruft Herbert ihm hinterher: »Frag doch den Thälmann, der könnte dir schon sagen, wie es um unsere Sache steht!«
Eddy hört den Satz an der Wohnungstür zerschellen. Er steht auf dem Hausflur, ist durchzogen von Traurigkeit. Er dreht sich um, will die Klingel betätigen, lässt es, weiß, dass jetzt kein Gespräch möglich ist.
Das Zuknallen der Tür lässt Klara zusammenzucken, sie seufzt, schaut auf den Hund in seinem Korb, welcher schon eine Weile nicht mehr gebellt hat, und die Ohren hängen lässt.
»Nun«, seufzt sie, »warum muss ich es so nebenbei erfahren, dass du nicht mehr Theologie studierst? Du kannst doch mit mir reden, ich habe dir doch noch nie den Kopf abgerissen.« Klara wirkt nachdenklich. »Natürlich kannst du so lange hier wohnen bleiben, wie du möchtest. Ist doch sowieso nur eine vorübergehende Phase bei dir mit den Kommunisten. Alle, die nach Berlin kommen, spielen erst einmal verrückt. Das ist das Tempo dieser Stadt, jeder Neue will da mithalten. Ich nenne es immer das ›Berlin-Delirium‹, irgendwann geht das von ganz allein vorbei.«