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Berlin-Dahlem – Herbst 1957

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Herberts kalte Füße stecken in dicken Socken. Schwarzer Tee, inzwischen kalt geworden, in der geöffneten Isolierkanne neben der Schreibmaschine. Der Aschenbecher ist am Überquellen, die Luft zum Zerschneiden dick. Das eingespannte Blatt Papier beinahe leer.

Auf dem Gang nähert sich ein federnder Schritt, die Tür öffnet sich, und Herberts Züge über der Schreibmaschine werden weicher, ohne dass er sich zu Aaron umwenden muss.

»Der Verlag wartet auf das Manuskript, mein Herz. Bist du denn noch nicht fertig?« Aaron tritt näher, schaut seinem Liebsten über die Schulter.

»Oh ja ... doch«, erwidert Herbert.

»Frau Schreiber lässt nicht locker, sie glaubt, dass deine Autobiografie reißenden Absatz finden würde ... aber was solltest du schon schreiben ...?«

Blicke treffen sich. Ein Blatt wird aus der Maschine gezogen. Der Autor seufzt. »Wochenlang habe ich dieses Manuskript nicht angefasst. Jede Zeile, die auf der alten Maschine gehämmert wurde, ist von mir.« Fäuste liegen angespannt neben der Schreibmaschine, Aarons Hände ruhen auf Herberts Schultern, wollen Herbert zur Ruhe bringen, doch dieser steigert sich in eine verzweifelte Wut hinein. »Es ist, als hätte jemand anderes diesen Scheiß geschrieben. Es erscheint mir fremd und gelogen, ohne jede Substanz. Warum bezahlen sie mich für diesen Mist so fürstlich?« Er schreit fast. »Sahnepudding, gestärkte Hausmädchenschürze im aufgewirbelten Mehlstaub eines Salzburger Vorstadtgartens. Damit der Kitsch nicht zu kurz kommt, werden auch noch Rosensträucher durch ein Tränenmeer gezogen ... Quatsch eben! Alle Welt will, dass ich meine Autobiografie schreibe! Ja natürlich, es füllt die Haushaltskasse noch ein bisschen mehr ... Sollte ich mich für dieses Projekt entscheiden, wird mir schon etwas einfallen ...«, lässt Herbert resignierend verlauten, seine Hände bedecken das Gesicht, Tränen werden zurückgehalten. Die Vergangenheit will sich wieder einmal seines Kopfes bemächtigen, er muss so viel Kraft aufwenden, um diese Vergangenheit nicht in sich aufsteigen zu lassen.

Aarons Hände verweilen wieder auf Herberts Schultern, sie wandern zum Nacken, Fingerspitzen versuchen aufzuweichen, was schon so lange verhärtet. Herbert legt seinen Kopf zurück.

»Ich brauche dich ...«, sagt er leise, er sagt nicht, dass er wieder mal zu seinen Beruhigungstabletten greifen musste, »... wie kann ich sein ... arbeiten, leben ohne dich?«

Der Regen hämmert unablässig.

»Wir haben so viel erreicht, das Haus, einen stattlichen Wagen, Personal. Finanziell geht es uns gut. Was brauchen wir mehr?« Herberts Stimme ist jetzt ganz sanft, ein Streicheln.

Aaron stellt sich an das Fenster, sein Blick wandert über den Rasen, hängt in den Tannenspitzen. Das kleine Häuschen am Ende des Grundstücks, kaum größer als eine Gartenlaube, offiziell Aarons Zuhause. Nur keinen Gerüchten Nahrung geben. Niemand, außer Eingeweihte, darf um ihre Beziehung wissen.

Abrupt dreht sich Aaron zu Herbert um. Sein leicht gebräuntes Gesicht verliert an Farbe. »Wir haben viel erreicht?« Spott liegt in seinen Worten, Wut raut seine Stimme auf. Wut, die nicht zugelassen wird, weil sie, wenn erst einmal losgetreten, aus Meißner Geschirr einen Polterabendhaufen machen würde.

»Du hast viel erreicht, sag nicht ›wir‹. Ich habe nur wenig Anteil, eben so viel, wie ein Angestellter imstande ist zu leisten. Was ist das schon?« Tränen liegen auf der Zunge.

Herbert hebt sich aus seinem Schreibtischstuhl, will den Mann, den er seit so vielen Jahren kennt und liebt, umarmen, will abwinken, schlichten, wie so oft schon. Seine Hände wollen Bauch streicheln, Oberarm umfassen, wollen Kopf auf seine Schulter legen.

»Nicht! Fass mich nicht an ... du machst es dir zu einfach!«

»Aaron! Was kann ich schon tun? Wir haben uns zu beugen, wir dürfen nicht so sein, wie wir sind.«

Schweigen ist laut, übertönt den Regen. Unfähigkeit umschließt zwei Menschen, lässt sie allein in ihren Gedanken, macht sie einsam. Herbert nimmt Aarons Hand, zieht ihn hinter sich her. Sie schleppen sich die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.

Aaron ziert sich. Ein alter, sich immer wiederholender Film spielt sich vor ihm ab. Klebstoff, der die beiden noch zusammenhält: Sex. Problemlöser für alle Fälle.

Aaron sieht den ein wenig kräftigeren Herbert aus lang vergangener Zeit vor sich, er vergleicht ihn mit dem heute über 50-Jährigen, schwenkt zu dem jungen Kerl zurück. Sein Kopf sorgt für Begehren.

Herbert öffnet die Schlafzimmertür, schiebt seinen Liebsten in den Raum. Haben sie nur noch Sex, um zu vertuschen, nicht reden zu müssen, sodass alles bleibt, wie es ist? Er kickt die Tür ins Schloss, zieht die Vorhänge zu. Aaron ist immer noch ein attraktiver Mann.

Er nimmt die weiche Decke zurück und legt sich auf das Bett, öffnet sein leinengestärktes Oberhemd. Reißverschlüsse werden geöffnet, an Unterhosen genestelt. Dunkelheit behält Gedanken für sich, übergeht Oberflächlichkeit, braucht keine Lügen zu heucheln. Hände graben sich in Körper, auf der Suche nach Erotik. Kein Radio spielt, kein Aftershave, das verwirrt. Zwei alternde Männer bemühen sich. Ihr Tun gleicht immer mehr einem Ringkampf. Machtkämpfe hinter Scheiben, die mehr als nur den Regen aushalten müssen.

Der frühe Abend wird zur verzweifelten Nacht.

Vor dreißig Jahren, im Berlin der Zwanzigerjahre, war ihre Liebe noch selbstverständlich.

Die Zeit ohne uns

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