Читать книгу ACT leicht gemacht - Хэррис Расс, Russ Harris, Расс Хэррис - Страница 10

Оглавление

2 Sich verstricken

WAS VERSTEHEN WIR UNTER »VERSTAND«?

Das ist zu schwer. Das kann ich nicht. Ich wünschte, es wäre ein Therapeut hier, der mir sagt, was ich tun soll. Vielleicht bin ich für diese Art von Arbeit ja gar nicht geeignet. Ich bin so blöd.

Spricht Ihr Verstand je so zu Ihnen? Meiner schon. Und der Verstand aller Therapeutinnen, die ich je gekannt habe, spricht genauso. Und was für andere wenig nützlichen Dinge macht Ihr Verstand? Vergleicht er Sie beispielsweise unbarmherzig mit anderen? Kritisiert er Ihre Bemühungen oder sagt Ihnen, dass Sie das, was Sie gern tun möchten, nicht tun können? Holt er unangenehme Erinnerungen aus der Vergangenheit hoch? Kritisiert er Ihr jetziges Leben und beschwört Lebensentwürfe herauf, mit denen Sie so viel glücklicher wären? Malt er angstvolle Szenarien über die Zukunft an die Wand und warnt Sie vor all dem, was schiefgehen könnte?

Falls ja, dann ist Ihr Verstand offensichtlich ganz normal. Nein, das ist kein Druckfehler. In der ACT gehen wir von der Annahme aus, dass die normalen psychischen Prozesse eines normalen menschlichen Verstandes leicht destruktiv werden und früher oder später psychisches Leiden verursachen. Und wir vermuten, dass die Ursache all dieses Leidens in der menschlichen Sprache selbst zu suchen ist.

Sprache und Verstand

Die menschliche Sprache ist ein hochkomplexes System von Symbolen, das Worte, Bilder, Geräusche, Mimik und Gesten umfasst. Wir Menschen nutzen Sprache auf zweierlei Weise: offen und verdeckt. Offen sind Sprechen, Mimik, Gesten, Schreiben, Malen, Bildhauerei, Singen, Tanzen, Schauspielerei und dergleichen. Verdeckt sind unter anderem sorgenvolles Denken, Vorstellen, Tagträumen, Planen, Visualisieren, Analysieren, Fantasieren.

Das Wort »Verstand« bezieht sich auf ein unglaublich komplexes System interaktiver kognitiver Prozesse, wie zum Beispiel Analysieren, Vergleichen, Bewerten, Planen, Erinnern, Visualisieren und vieles mehr. Allen diesen komplexen Prozessen liegt das ausgeklügelte System an Symbolen zugrunde, das wir menschliche Sprache nennen. In der ACT benutzen wir den Begriff »Verstand« daher als eine Umschreibung für »menschliche Sprache«.

Der Verstand ist ein zweischneidiges Schwert

Der menschliche Verstand ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der guten Seite hilft er uns, Abbildungen und Modelle der Welt zu entwerfen, Prognosen zu erstellen und die Zukunft zu planen, Wissen weiterzugeben, aus Erfahrungen zu lernen, sich Dinge vorzustellen und zu erschaffen, die es nie zuvor gegeben hat, Regeln aufzustellen, an denen wir uns orientieren können und die uns helfen, uns als Gemeinschaft weiterzuentwickeln, mit Menschen zu kommunizieren, die weit entfernt leben, und von Menschen zu lernen, die nicht mehr leben.

Auf der Schattenseite können wir den Geist dazu nutzen, zu lügen, zu manipulieren und zu täuschen, zu verleumden, zu beschimpfen und Unwissenheit zu verbreiten, Hass, Vorurteile und Gewalt zu schüren, Massenvernichtungswaffen herzustellen und die Umwelt zu verschmutzen, an schmerzlichen Erlebnissen aus der Vergangenheit festzuhalten und diese wieder und wieder zu »durchleben«, uns selbst Angst zu machen, indem wir uns eine unangenehme Zukunft vorstellen, uns und andere zu vergleichen, zu verurteilen, zu kritisieren und zu verachten und uns Regeln aufzuerlegen, die einschränkend oder destruktiv wirken können.

Diese »dunkle Seite« des Verstandes ist vollkommen normal und natürlich und eine Quelle von Leiden für einfach jede und jeden. Und wenn wir es wagen, die dunkle Seite zu erforschen (Sie merken, ich bin ein Fan von Krieg der Sterne), begegnen wir bald den heimlichen Geschwistern psychischen Leidens: kognitiver Fusion und Erlebnisvermeidung.

KOGNITIVE FUSION

Kognitive Fusion – normalerweise zu Fusion verkürzt – bedeutet im Grunde, dass unsere Kognitionen unser Verhalten (offen oder verborgen) auf eine Weise beherrschen, die selbstschädigend oder problematisch ist. Mit anderen Worten, unsere Kognitionen haben einen negativen Einfluss auf unsere Handlungen und auf unser Gewahrsein.

Schwierige Terminologie

In der ACT bezieht sich der Begriff »Kognition« auf alle Kategorien von Denken – einschließlich Überzeugungen und was man glaubt, Vorstellungen, innere Haltungen, Annahmen, Fantasien, Erinnerungen, Bilder und Schemata – sowie auf Aspekte von Gefühlen und Emotionen. Viele Therapiemodelle treffen eine künstliche Unterscheidung von Kognition und Emotion, als wären sie getrennte Entitäten. Aber wenn wir eine Emotion untersuchen – Traurigkeit, Wut, Schuldgefühle, Angst, Liebe, Freude, was auch immer –, finden wir, dass die Erfahrung in Kognition »gesättigt« ist; da gibt es einen Reichtum an Bildern, Gedanken, Vorstellungen, Bedeutungen, Eindrücken oder Erinnerungen in einer »Mischung« mit allen möglichen physischen Impulsen, dringenden Bedürfnissen und Sinnesempfindungen im Körper. Dies ist der Grund, weshalb Sie mich häufig von Fusion mit »Gedanken und Gefühlen« sprechen hören.

Gegenüber Klienten verwende ich den Begriff »Fusion« nur, wenn sie ihn vor der Therapie schon gekannt haben. Vor allem spreche ich davon, »in den Griff von etwas zu geraten« – ein nützlicher Ausdruck, der sowohl Fusion als auch Erlebnisvermeidung abdeckt. Wir können darüber sprechen, wie unsere Gedanken und Gefühle uns »in den Griff bekommen«: sie besetzen unsere Aufmerksamkeit, halten uns zum Narren und bringen uns von der Spur ab.

Zwei Hauptformen, wie sich Fusion zeigt

Kognitive Fusion zeigt sich auf zweierlei Weise:

1. Unsere Kognitionen dominieren auf problematische Weise unsere physischen Handlungen. Als Reaktion auf unsere Kognitionen sagen und tun wir Dinge, die für den Aufbau des Lebens, das wir leben möchten, ineffektiv sind. Zum Beispiel sage ich als Reaktion auf den Gedanken Niemand mag mich ein wichtiges Treffen mit Freundinnen ab.

2. Unsere Kognitionen dominieren auf problematische Weise unser Bewusstsein. Mit anderen Worten, wir werden in unsere Kognitionen »hineingezogen« oder »verlieren« uns in ihnen, sodass unser Bewusstsein reduziert ist, und wir nicht mehr auf eine zweckmäßige Weise aufmerksam sind. Zum Beispiel »verwickle« ich mich so sehr in Sorgen oder Grübeln, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit nicht bei den wichtigen Aufgaben bleiben kann, die ich bei der Arbeit erfüllen muss, und fange an, eine Menge Fehler zu machen.

Es herrscht in der ACT Einigkeit darüber, dass der Begriff »Fusion« nur verwendet werden sollte, wenn der Prozess zu problematischem, selbstschädigendem Verhalten führt. Mit anderen Worten, wenn unser offenes oder verborgenes Verhalten als Reaktion auf unsere Kognitionen in einem Ausmaß eng, rigide und unflexibel wird, das ineffektiv und selbstschädigend ist (z. B. das Leben auf lange Sicht schlechter macht, Gesundheit und Wohlbefinden schadet und uns von unseren Werten abbringt), würden wir den Begriff »Fusion« verwenden. Wenn das nicht der Fall ist, würden wir das nicht tun.

Wenn ich zum Beispiel auf eine Weise »in meinen Gedanken verloren« bin, die lebensfördernd ist – wie in Tagträumen, während ich im Urlaub am Strand liege, oder im richtigen Moment in Gedanken eine wichtige Rede probe – würden wir das eher »Versunkenheit« als Fusion nennen.

Ich werde Ihnen jetzt eine meiner Lieblingsmetaphern vorstellen, um kurz die Konzepte Fusion und Defusion zu vermitteln. Ich werde Sie die Übung Schritt für Schritt machen lassen, sodass Sie sie aus eigener Erfahrung kennenlernen können.

Metapher von den Händen als Gedanken und Gefühle

[Anmerkung: Lesen Sie diesen ersten Abschnitt und legen Sie das Buch dann weg, damit Sie beide Hände benutzen können. Machen Sie diese Übung, als wären Sie der Klient, der der Anleitung der Therapeutin folgt.]

Therapeutin: Stellen Sie sich einen Moment vor, Ihre Hände wären Ihre Gedanken und Gefühle. Schauen Sie sich um und stellen Sie sich vor, dass das, was Sie sehen, alles darstellt, was in Ihrem Leben wichtig ist. Dann halten Sie Ihre Hände zusammen, mit den Handflächen so nach oben, als wären sie die Seiten eines geöffneten Buches. Dann heben Sie die Hände langsam und gleichmäßig – nehmen Sie sich dafür etwa fünf Sekunden – in Richtung Ihres Gesichts. Machen Sie das, bis sie Ihre Augen bedecken. Nehmen Sie sich dann ein paar Sekunden Zeit, um die Welt um Sie herum (durch die Spalten zwischen den Fingern) zu betrachten, und beobachten Sie, wie sich dies auf Ihre Sicht der Welt auswirkt.

(Bitte machen Sie jetzt diesen Teil, bevor Sie weiterlesen.)

Therapeutin: Wie wäre es, den ganzen Tag mit den Händen in dieser Weise vor den Augen herumzulaufen? Wie stark würde Sie dies einschränken? Wie viel würde Ihnen entgehen? Wie stark würde es Ihre Fähigkeit einschränken, auf die Welt um Sie herum einzugehen? Das ist es, was ich mit »im Griff von etwas« meine: Wir werden so sehr in unsere Gedanken und Gefühle verstrickt, dass wir das Leben verpassen und nicht wirkungsvoll handeln können.

(Wenn Sie am Ende dieses Abschnitts angelangt sind, führen Sie diesen nächsten Teil der Übung durch.)

Therapeutin: Bedecken Sie bitte Ihre Augen mit den Händen, aber dieses Mal nehmen Sie sie sehr, sehr langsam von Ihrem Gesicht. Nehmen Sie wahr, wie viel leichter es ist, mit der Welt um Sie herum in Kontakt zu treten, je größer die Distanz zwischen den Händen und Ihrem Gesicht ist.

(Machen Sie das bitte, bevor Sie weiterlesen.)

Therapeutin: Dies ist das, was ich »aus dem Griff lösen« nenne. Wie viel leichter ist es nun, wirkungsvoll zu handeln? Wie viel mehr Informationen können Sie aufnehmen? Wie viel stärker sind Sie mit der Welt um sich herum verbunden?

Diese Metapher (Harris, 2011) veranschaulicht die zwei Hauptzwecke der Defusion: sich voll und ganz auf die Erfahrung einlassen und wirkungsvolles Handeln ermöglichen. (Eine kurze Bemerkung: Das Ziel der Defusion ist nicht, unerwünschte Gedanken und Gefühle loszuwerden oder zu bewirken, dass wir uns besser fühlen. Dazu kommt es häufig als ein Ergebnis von Defusion, aber wir werden später sehen, dass wir in der ACT das als Bonus oder Nebeneffekt, nicht als eigentlichen Zweck bzw. Ziel sehen.)

Eine kurze Zusammenfassung von Fusion versus Defusion

Wenn man mit einer Kognition verschmilzt, kann das so aussehen wie

• etwas, dem man gehorchen, nachgeben oder auf das hin man handeln muss;

• eine Gefahr, die man vermeiden oder die man loswerden muss;

• etwas sehr Wichtiges, das unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht.

Wenn wir uns aus dem Griff dieser Kognition lösen, können wir sie als das sehen, was sie ist: eine Gruppe von Wörtern oder Bildern »in unserem Kopf«. Wir können erkennen, dass sie

• nicht etwas ist, dem wir gehorchen, nachgeben oder auf die hin wir handeln müssen;

• definitiv keine Bedrohung für uns darstellt; und

• dass sie wichtig ist oder nicht: Wir können entscheiden, wie viel Aufmerksamkeit wir ihr schenken.

Nützlichkeit

Das gesamte ACT-Modell basiert auf dem Schlüsselkonzept der Nützlichkeit (workability). Prägen Sie sich diesen Begriff – Nützlichkeit – bitte gut ein. Sie liegt allen unseren Interventionen zugrunde. Um festzustellen, was funktioniert, stellen wir folgende Frage: »Trägt das, was Sie tun, zu einem reichen, erfüllten und sinnvollen Leben bei?« Lautet die Antwort Ja, »taugt« Ihr Handeln und muss nicht verändert werden. Lautet die Antwort Nein, funktioniert es nicht. In diesem Fall suchen wir nach Alternativen, die besser taugen.

In ACT geht es also nicht darum, ob ein Gedanke richtig oder falsch ist, sondern darum, ob er hilfreich (workable) ist. Mit anderen Worten: Wir wollen wissen, ob ein Gedanke unserer Klientin nützlich ist, ein reicheres, sinnvolleres und erfüllteres Leben zu leben. Dies lässt sich anhand folgender und ähnlicher Fragen feststellen: »Hilft es Ihnen, ein reicheres, sinnvolleres und erfüllteres Leben zu leben, wenn Sie Ihr Verhalten von diesem Gedanken bestimmen lassen?« oder »Hilft es Ihnen, der Mensch zu sein, der Sie sein möchten, und das zu tun, was Sie tun wollen, wenn Sie ganz fest an diesem Gedanken festhalten?«

Untersuchung von Nützlichkeit (workability) in einer Sitzung

Hier ist ein Transkript, das diesen Ansatz veranschaulicht:

Klient: Aber es ist wahr. Ich bin wirklich dick. Sehen Sie mich an. (Der Klient fasst zwei dicke Falten Fett an seinem Unterbauch und drückt sie zusammen, um zu unterstreichen, was er sagt.)

Therapeutin: Okay. Kann ich Ihnen etwas Wichtiges sagen? In diesem Raum werden wir nie diskutieren, ob Ihre Gedanken wahr oder falsch sind. Woran wir hier interessiert sind, ist, ob Ihre Gedanken nützlich oder hilfreich sind – ob sie Ihnen helfen, ein besseres Leben zu leben. Wenn Ihr Verstand Ihnen also sagt Ich bin dick, dann nehmen diese Gedanken Sie ganz in Beschlag, stimmt’s? Und wenn sie Sie einmal im Griff haben, was passiert dann?

Klient: Ich ekle mich vor mir selbst.

Therapeutin: Okay. Und was geschieht dann?

Klient: Dann werde ich depressiv.

Therapeutin: Die Wirkung verstärkt sich also ziemlich schnell. Alle diese schwierigen Gedanken und Gefühle steigen in Ihnen auf: Depression, Ekel, »Ich bin dick« und so weiter. Und wenn Sie davon nicht mehr loskommen, was machen Sie dann?

Klient: Was meinen Sie?

Therapeutin: Also, was würde ich sehen, wenn Sie alle diese schwierigen Gedanken und Gefühlen im Griff haben, und wenn ich ein Video von Ihnen sähe, wie Sie bei sich zu Hause sind? Was würde ich Sie tun sehen oder hören, das mir zeigen würde: »Aha! Dieses Zeug hat Stefan grade richtig im Griff«?

Klient: Ich würde wahrscheinlich vor dem Fernseher sitzen und Schokolade oder Pizza essen.

Therapeutin: Und das ist nicht das, was Sie gern tun würden.

Klient: Natürlich nicht! Ich versuche abzunehmen! Schauen Sie sich das an. (Er klopft auf seinen Unterbauch.) Es ist scheußlich.

Therapeutin: Wenn Sie also an dem Satz »Ich bin dick« hängen, dann machen Sie Dinge, die Sie von der Art Leben, das Sie leben wollen, wegbringen?

Klient: Ja, aber es ist wahr: Ich bin dick!

Therapeutin: Also, wie gesagt, bei dieser Art Therapie befassen wir uns nicht damit, ob ein Gedanke wahr oder falsch ist. Wir wollen nur wissen, hilft er Ihnen, auf das Leben zuzugehen, das Sie leben möchten? Mit anderen Worten, wenn diese Gedanken Sie im Griff haben, hilft das Ihnen dann, Sport zu treiben oder gut zu essen oder Zeit mit den Dingen zu verbringen, die das Leben reich und lohnend machen?

Klient: Nein. Natürlich nicht. Aber ich kann es nicht ändern!

Therapeutin: Das stimmt. Zu diesem Zeitpunkt können Sie es nicht ändern. Diese Gedanken und Gefühle tauchen auf und sie packen Sie sofort, bevor Sie es auch nur merken. Wie wäre es, wenn wir also etwas tun könnten, um das zu ändern? Möchten Sie eine neue Kompetenz erlernen? – eine Fähigkeit zum Lösen aus diesem Griff –, sodass Sie sich das nächste Mal, wenn Ihr Verstand Sie mit Gedanken wie »Ich bin dick« niedermacht, davon frei machen können?

Wenn wir vom Konzept der Nützlichkeit (workability) ausgehen, müssen wir das Verhalten eines Klienten weder als »gut« oder »schlecht« noch als »falsch« oder »richtig« bewerten. Stattdessen können wir urteilsfrei und mitfühlend fragen, ob es dazu beiträgt, das Leben zu leben, das sich der Klient wünscht. Dasselbe gilt für seine Gedanken. Wir müssen sie weder als irrational noch als dysfunktional oder negativ bezeichnen und brauchen nicht darüber zu diskutieren, ob sie wahr oder falsch sind. Wir können stattdessen einfach eine der folgenden Fragen stellen:

• Wie geht es auf lange Sicht, wenn Sie Ihr Leben von diesem Glauben /dieser Überzeugung /dieser Vorstellung /dieser Regel leiten oder diktieren lassen? Wenn Sie sie das, was Sie tun, bestimmen lassen?

• Hilft es Ihnen, die Dinge zu tun, die Sie tun möchten, wenn Sie in diese Gedanken ganz verstrickt sind, oder wenn sie Sie im Griff haben?

• Hilft es Ihnen, die Person zu sein, die Sie sein möchten, wenn Sie sich von diesen Gedanken leiten lassen?

In obigem Beispiel macht der Therapeut keinen Versuch, den Inhalt der Gedanken zu verändern. In der ACT wird der Inhalt eines Gedankens selten als problematisch angesehen. Problematisch ist gewöhnlich das Verschmelzen (Fusion) mit dem Gedanken. In zahlreichen Psychologiebüchern findet sich folgendes Zitat von William Shakespeare: »Denn es ist nichts entweder gut oder böse; das Denken macht es erst dazu.« In der ACT nehmen wir an dieser Stelle eine grundlegend andere Haltung ein: »Durch das Denken wird nichts gut oder schlecht, sondern das Verschmelzen mit Ihren Gedanken macht Probleme.«

Anders gewendet: Haben Sie bemerkt, wie die Therapeutin reagiert hat, als der Klient sagte: »Aber ich kann es nicht ändern!«? Unsere Klientinnen sagen häufig solche Dinge, besonders, wenn es um impulsives, abhängiges oder aggressives Verhalten geht. Und wenn sie das tun, sollten wir es anerkennen und etwa Folgendes sagen: »Das stimmt. In diesem Moment können Sie es nicht ändern. Diese Gedanken und Gefühle haben Sie sofort im Griff und zerren Sie hierhin und dahin wie eine Marionette.« Wir können dann die Frage stellen: »Würden Sie es denn gern ändern?« Wenn der Klient mit Ja antwortet, können wir ihn einladen, ein paar neue Kompetenzen zu lernen, wie am Ende des obigen Transkripts. (»Das ist alles gut und schön, Russ,« höre ich Sie sagen, »aber was, wenn die Klientin mit Nein antwortet oder sagt ›Das ist nicht möglich‹?« Wir kommen in späteren Kapiteln auf diese Fragen zurück.)

Nützlichkeit und der Punkt der Entscheidung

Wie Sie wissen (außer Sie haben Kapitel 1 übersprungen, in welchem Fall unsere besonders ausgebildeten Spürhunde Sie aufspüren und dann gnadenlos kitzeln werden, bis Sie versprechen, nie wieder ein Kapitel auszulassen), bin ich ein großer Fan des Punktes der Entscheidung. Einer der Gründe dafür ist, dass er es erleichtert, das Konzept der Nützlichkeit mit Klienten zu verwenden. Kommen wir noch einmal auf die oben wiedergegebene Sitzung zurück und schauen wir, wie sie verlaufen würde, wenn die Therapeutin zur Veranschaulichung den Punkt der Entscheidung verwenden würde. Wir gehen davon aus, dass der Therapeut den Punkt der Entscheidung schon eingeführt hat, wie er in Kapitel 1 besprochen wurde, und wir setzen etwa in der Mitte des Transkripts ein.

Klientin: Dann werde ich depressiv.

Therapeut: Okay. Es sieht also so aus, als würde das ganz schnell gehen. Wäre es okay, wenn ich etwas aufschreibe, damit wir es besser in den Griff bekommen? (Der Therapeut kann auf den von Hand gezeichneten Punkt der Entscheidung schreiben, oder, wenn er das vorzieht, ein ausgedrucktes Arbeitsblatt verwenden, wie auf den Abbildungen unten.) Sie haben also alle diese schwierigen Gedanken und Gefühle: »Ich bin dick«, Ekel, Depression und so weiter. (Während er dies sagt, schreibt der Therapeut Schlüsselworte unten an den Punkt der Entscheidung, wie die Abbildung zeigt.)


Therapeut: Und diese Dinge haben Sie sofort im Griff, richtig?

Klientin: Und wie!

Therapeut: Wenn ich ein Video von Ihnen zu Hause sähe, was würde ich Sie also tun sehen oder hören, das mir zeigen würde: »Aha! Dieses Zeug hat Stefanie grade richtig im Griff?«

Klientin: Ich würde wahrscheinlich vor dem Fernseher sitzen und Schokolade oder Pizza essen.

Therapeut: Okay. Und wäre das eine Hinbewegung oder eine Wegbewegung?

Klientin: Hmm, sagen Sie mir noch einmal, was diese Worte bedeuten?

Therapeut: Klar. Hinbewegungen sind Dinge, die wir tun und die uns helfen, die Art von Leben aufzubauen, das wir wollen: Dinge tun, die zweckmäßig sind, das Leben besser machen, so handeln wie der Mensch, der wir wirklich sein wollen. Dinge, die Sie zu tun beginnen oder die Sie mehr tun, wenn unsere Arbeit hier erfolgreich ist. Und Wegbewegungen sind das Gegenteil: all das, was wir tun, was uns von dem Leben wegbringt, das wir wollen; was uns weiter feststecken lässt oder unsere Probleme verschlimmert – womit Sie aufhören oder was Sie weniger tun, wenn unsere Arbeit hier erfolgreich ist.

Klientin: Verstehe. Es ist definitiv eine Wegbewegung.

Therapeutin: Okay, also schreibe ich das einfach hierhin. (Therapeutin schreibt dies auf das Diagramm, wie diese Abbildung zeigt.)


Therapeutin: Sind dies also die Art Dinge, die Sie zu tun neigen (zeigt auf die Wegbewegungen), wenn Sie im Griff dieser Gedanken und Gefühle sind (zeigt auf die Worte unter dem Diagramm)?

Der Rest des Transkripts wäre ziemlich dasselbe wie das Original und würde zu der Einladung führen, Kompetenzen im Befreien aus der Verwicklung in diese Gedanken und Gefühle zu erwerben (d. h. Kompetenzen, die auf den vier ACT-Achtsamkeitsprozessen beruhen: Akzeptanz, Defusion, flexible Aufmerksamkeit, Selbst-als-Kontext). Sie sehen, dass in den beiden Transkripten die Worte des Therapeuten fast identisch sind. Der Hauptunterschied besteht nicht in der Sprache der Therapeutin, sondern in ihrem Gebrauch des Punktes der Entscheidung als visueller Bezugspunkt, um die Hauptpunkte des Gesprächs zu verdeutlichen und zu verstärken. Sie sehen auch, dass Nützlichkeit in den Punkt der Entscheidung »eingebaut« ist; Wegbewegungen sind unzweckmäßige Verhaltensweisen, und Hinbewegungen sind zweckmäßig.

Gedanken und Gefühle sind nicht das Problem

Haben Sie gesehen, dass in diesen Transkripten der Therapeut nie Gedanken und Gefühle als Problem beschreibt? Die Haltung der ACT ist, dass Gedanken und Gefühle an sich nicht problematisch sind. Erst wenn wir auf sie auf eine rigide, unflexible Weise reagieren, wie mit Fusion und Vermeiden, haben sie problematische Wirkungen.

In einem Kontext von Fusion und exzessiver Erlebnisvermeidung werden Gedanken und Gefühle leicht pathologisch oder entstellen das Bild vom Leben. Aber wenn wir flexibel auf sie agieren – mit Defusion, Akzeptanz, flexibler Aufmerksamkeit oder Selbst als Kontext –, bekommen dieselben Gedanken und Gefühle in diesem neuen Kontext von Achtsamkeit eine andere Funktion. Natürlich können sie weiter schmerzhaft oder unangenehm sein, aber sie funktionieren nicht mehr auf eine Weise, die dem Wohlbefinden oder der Lebensqualität abträglich ist.

Der Therapeut ebnet der Klientin behutsam den Weg, damit sie diese radikal neue Sicht durch den konstruktiven Gebrauch des Wortes »im Griff« entdecken kann: »Wenn Sie also in den Griff dieser Gedanken und Gefühle geraten, fangen Sie an, XYZ zu machen.« Diese Ausdrucksweise legt für die spätere Arbeit ein gutes Fundament: In späteren Sitzungen wird der Klient die Erfahrung machen, dass er diese schwierigen Gedanken und Gefühle haben, aber achtsam auf sie reagieren kann und dadurch ihre Wirkung und ihren Einfluss reduziert, ohne zu versuchen, sie zu vermeiden oder loszuwerden.

Sechs Hauptkategorien der Fusion

Wenn wir wirklich wollten, könnten wir ein riesiges Sortiment verschiedener Kategorien von Fusion zusammenstellen. Aber nun ja, das Leben ist kurz, und es gibt wichtigere Dinge, für die wir unsere Zeit brauchen. Wir halten es also einfach: Im therapeutischen Zusammenhang halten wir nach sechs Hauptkategorien von Fusion Ausschau: Fusion mit der Vergangenheit, mit der Zukunft, mit dem Selbstkonzept, mit Gründen, mit Regeln und mit Wertungen. (Denken Sie daran, dass dies keine voneinander getrennten Kategorien sind; sie überschneiden sich und sind wechselseitig miteinander verbunden.)

Fusion mit der Vergangenheit. Damit sind alle Arten von Kognition gemeint, die sich auf die Vergangenheit beziehen:

• Grübeln, Bedauern und Hängen an schmerzlichen Erinnerungen (z. B. an Versagen oder Scheitern, Verletzungen und Verlust)

• Vorwürfe und Groll wegen vergangener Ereignisse

• Idealisieren der Vergangenheit: Mein Leben war wunderbar, bis XYZ passiert ist.

Fusion mit der Zukunft. Damit sind alle Arten von Kognition gemeint, die sich auf die Zukunft beziehen, darunter:

• Sich Sorgen machen, Ausmalen von Katastrophen

• Antizipieren des Schlimmsten, Hoffnungslosigkeit

• Antizipieren von Versagen oder Scheitern, Ablehnung, Verletzungen, Verlust usw.

Fusion mit dem Selbstkonzept. Dies bezieht sich auf alle Arten von selbst-deskriptiver und selbst-evaluativer Kognition, darunter:

• negativer Selbstbewertung: Ich bin schlecht, nicht liebenswert, wertlos, schmutzig, beschädigt, nichts, gebrochen.

• positiver Selbstbewertung: Ich habe immer recht, ich bin besser als du.

• übertriebene Identifikation mit einer Zuschreibung: Ich bin Borderline, ich bin depressiv, ich bin ein Alkoholiker.

Fusion mit Gründen. Menschen sind gut darin, »Gründe zu finden«: sie finden dafür Gründe, weshalb sie sich nicht verändern können, sich nicht verändern werden oder sich nicht einmal verändern sollten. Zu dieser Kategorie gehören alle Gründe wie diese: Ich kann X (eine wichtige Handlung) nicht tun, weil …

• ich zu Y bin (Y = deprimiert, müde, ängstlich usw.)

• Z passieren könnte (Z = schlechte Ergebnisse wie Versagen oder Scheitern, Ablehnung, sich lächerlich machen)

• es sinnlos ist, es zu schwer ist, es Angst macht

• ich B bin (B = Borderline, scheu, ein Loser oder andere Selbstkonzepte)

• C sagt, ich sollte es nicht machen (C = Eltern, die Religion, das Gesetz, kulturelle Vorgaben, Arbeitsplatz usw.).

Fusion mit Regeln. Unter diese Kategorie fallen alle »Regeln«, die ich in Bezug darauf befolge, wie ich, andere oder die Welt sein sollte. Regeln kann man an Worten wie »sollte«, »muss«, »richtig«, »falsch«, »fair«, »unfair« erkennen. Und häufig beschreiben sie Bedingungen wie kann nicht, außer; sollte nicht, außer; darf nicht, weil; muss dies tun, damit, werde nicht tolerieren oder weigere mich zuzulassen, dass. Hier ein paar Beispiele:

• Ich darf keine Fehler machen.

• Sie muss sich ändern, bevor ich es tue.

• Ich kann nicht zur Arbeit gehen, wenn ich mich so fühle.

Fusion mit Urteilen. Diese Kategorie bezieht sich auf jede Art von Bewertung oder Evaluation, positive wie negative, zum Beispiel Urteile über

• die Vergangenheit und Zukunft

• einen selbst und andere

• unsere eigenen Gedanken und Gefühle

• unseren Körper, unser Verhalten, unser Leben

• die Welt, Orte, Menschen, Objekte, Ereignisse und überhaupt von allem.

Diese sechs Kategorien der Fusion überschneiden sich und verweben sich leicht zu komplexen Narrativen wie diesem: Weil mir schlimme Dinge passiert sind (Vergangenheit), bin ich beschädigt (Selbstkonzept, Bewertung), was bedeutet, dass ich X nicht tun kann (einen Grund nennen) oder also werde ich niemals Y haben (Zukunft). Denken Sie daran, dass diese sechs Kategorien nicht das ganze Spektrum von Fusionen abdecken, sondern sie erklären die häufigsten Fälle, denen wir in der therapeutischen Praxis begegnen.

ERLEBNISVERMEIDUNG

Schauen wir uns jetzt den anderen Kernprozess an, durch den sich Menschen verwickeln: Erlebnisvermeidung. Dieser Begriff bezieht sich auf unser Verlangen, unerwünschte »private Erfahrungen« zu vermeiden oder loszuwerden, und auf alles, was wir versuchen, um das zu erreichen.

Schwierige Terminologie

Mit privater Erfahrung ist jede Erfahrung gemeint, die man hat und von der niemand weiß (außer man erzählt ihnen davon): Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Emotionen, Neigungen, Impulse, Wünsche und Sinnesempfindungen.

Alle Menschen vermeiden Erfahrung in gewissem Maß. Warum ist das so? Hier eine klassische ACT-Metapher, die man verwenden kann, um es Klienten zu erklären.

Die Problemlösemaschine

Therapeutin: Müssten wir eine Fähigkeit des menschlichen Verstandes nennen, die uns in die Lage versetzt hat, so erfinderisch zu sein, dass wir nicht nur das Erscheinungsbild unseres Planeten verändert haben, sondern ihn auch verlassen können, wäre es die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Problemlösung ist im Wesentlichen Folgendes: Ein Problem bedeutet etwas Unerwünschtes. Und eine Lösung bedeutet, das Problem zu vermeiden oder loszuwerden. In der physischen Welt funktioniert Problemlösung oft sehr gut. Ein Wolf vor der Tür? Werfen Sie Steine oder Speere nach ihm oder erschießen Sie ihn und Sie sind ihn los. Schnee, Regen, Hagel? Das Wetter können Sie zwar nicht loswerden, aber Sie können sich in einer Höhle, einem Haus oder einem Unterschlupf verkriechen bzw. geeignete Kleidung tragen. Trockener, ausgedörrter Boden? Sie können ihn bewässern und düngen und das Problem auf diese Weise loswerden. Sie können aber auch zu einem besser geeigneten Ort weiterziehen und somit das Problem umgehen.

Unser Verstand arbeitet wie eine Problemlösemaschine und er macht seine Aufgabe sehr gut. Da das Lösen von Problemen in der materiellen Welt so gut funktioniert, ist es nur natürlich, dass der Verstand mit unserer inneren Welt, der Welt der Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Empfindungen und Neigungen, genauso verfahren möchte. Aber leider funktioniert es oft nicht, wenn wir unerwünschte Gedanken oder Gefühle vermeiden oder loswerden möchten. Und wenn es funktioniert, ist es mit viel zusätzlichem Leid verbunden.

Wie Erlebnisvermeidung das Leiden vergrößert

Wir werden an späterer Stelle noch einmal auf die Metapher der Problemlösemaschine zurückkommen. Jetzt wollen wir uns zunächst der Frage widmen, wie Erlebnisvermeidung das Leid vergrößert. Suchtverhalten liefert dazu ein gutes Beispiel: Viele Süchte beginnen als ein Versuch, unerwünschte Gedanken und Gefühle wie Langeweile, Einsamkeit, Angst, Schuldgefühle, Wut oder Traurigkeit zu vermeiden oder loszuwerden. Glücksspiele, Drogen, Alkohol oder Zigaretten helfen zwar oft, sich vorübergehend von solchen Gefühlen zu befreien. Mit der Zeit bringen sie jedoch jede Menge Schmerz und Leid mit sich.

Je mehr Zeit und Energie wir aufwenden, um unerwünschte innere Erlebnisse zu vermeiden oder loszuwerden, desto mehr werden wir auf lange Sicht seelisch leiden. Angststörungen liefern hier ein gutes Beispiel. Das Erleben von Angst ist nicht das, was zu einer Angststörung führt. Immerhin ist Angst ein ganz normales Gefühl, das wir alle kennen. Angststörungen sind vor allem durch übermäßige Erlebnisvermeidung gekennzeichnet. Das Leben der Betroffenen wird von dem Versuch dominiert, Angst zu vermeiden oder loszuwerden. Angenommen, ich würde in sozialen Situationen Angst empfinden und daher soziale Kontakte meiden, um diesen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Jetzt habe ich eine »soziale Phobie«. Kurzfristig liegt der Nutzen auf der Hand – ich vermeide die angstvollen Gedanken und Gefühle – langfristig ist der Preis jedoch sehr hoch: Ich fühle mich isoliert und eingeschränkt und gerate in einen Teufelskreis.

Eine andere Lösung wäre, meine Ängste dadurch zu verringern, dass ich in die Rolle der »guten Zuhörerin« schlüpfe. Ich werde sehr empathisch und fürsorglich. Ich erfahre viel über die Gedanken, Gefühle und Wünsche der anderen, mit denen ich spreche, gebe aber wenig oder nichts über mich preis. Kurzfristig lässt sich damit meine Angst vor Verurteilung oder Ablehnung verringern, auf lange Sicht mangelt es meinen Beziehungen jedoch an Nähe, Offenheit und Authentizität.

Nehmen wir einmal an, ich würde Valium oder ein anderes Mittel, das meine Stimmung verändert, gegen meine Angst nehmen. Auch hier liegt der kurzfristige Nutzen wieder auf der Hand: weniger Angst. Langfristig bedeutet der Gebrauch von Benzodiazepinen, Antidepressiva, Marihuana oder Alkohol gegen meine Angst unter Umständen (a) psychische Abhängigkeit von der Substanz, (b) möglicherweise eine körperliche Abhängigkeit, (c) sonstige körperliche und emotionale Nebenwirkungen, (d) eine finanzielle Belastung und (e) keine Chance, zu lernen, effektiver mit der Angst umzugehen, wodurch sie entweder bestehen bleibt oder sich sogar noch verschlimmert.

Noch eine Möglichkeit, auf soziale Phobie zu reagieren, wäre, die Zähne zusammenzubeißen und trotz meiner Angst soziale Kontakte aufzunehmen, die Gefühle also auszuhalten, obwohl sie mich belasten. Aus der ACT-Perspektive wäre auch Letzteres Erlebnisvermeidung. Warum? Weil ich die Situation zwar nicht vermeide, aber dennoch gegen meine Gefühle ankämpfe und verzweifelt hoffe, dass sie weggehen. Damit halte ich sie aus, akzeptiere sie aber nicht.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz. Möchten Sie, dass die von Ihnen geliebten Menschen Ihre Gegenwart aushalten, hoffen, dass Sie bald wieder gehen, und immer wieder schauen, ob Sie schon weg sind? Oder ist es Ihnen lieber, wenn sie Sie voll und ganz so akzeptieren, wie Sie sind – mit Ihren Macken und Schwächen –, und bereit sind, Sie so lange um sich zu haben, wie Sie anwesend sein möchten?

Meine Angst aushalten, also die Zähne zusammenzubeißen und sie durchzustehen, erfordert große Anstrengung und viel Energie – und es macht es schwer, sich voll und ganz auf soziale Interaktionen einzulassen. Mir entgeht dadurch viel von der Freude und Erfüllung, die normalerweise mit sozialen Kontakten verbunden sind. Dies wiederum steigert meine Angst vor künftigen sozialen Ereignissen, da ich sie nicht genießen kann, ich mich fürchterlich fühle oder es so anstrengend ist.

Je mehr Bedeutung wir der Angstvermeidung zumessen, desto mehr Angst vor der Angst entwickeln wir leider auch. Ein solcher Teufelskreis steht im Zentrum sämtlicher Angststörungen. (Angst vor der Angst ist im Grunde das, was eine Panikattacke ausmacht.) Versuche, unerwünschte Gedanken und Gefühle zu vermeiden, können sie paradoxerweise häufig verstärken. Forschungen haben beispielsweise ergeben, dass die Unterdrückung unerwünschter Gedanken zu einem sogenannten Rückpralleffekt führen kann, durch den sich Intensität und Häufigkeit der unerwünschten Gedanken sogar noch erhöhen (Wenzlaff & Wegner, 2000). Anderen Studien ist zu entnehmen, dass der Versuch, eine Stimmung zu unterdrücken, diese durch eine Selbstverstärkungsschleife sogar noch intensivieren kann (Feldner, Zvolensky, Eifert & Spira, 2003; Wegner, Erber & Zanakos, 1993).

In zahlreichen Studien zeigte sich, dass eine stärkere Erlebnisvermeidung mit Angststörungen, übermäßig sorgenvollen Gedanken, Depressivität, verminderter Leistungsfähigkeit, stärkerem Substanzmissbrauch, geringerer Lebensqualität, hochriskantem Sexualverhalten, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, schwereren Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), Berufsunfähigkeit und insgesamt stärkeren psychopathologischen Symptomen in Verbindung gebracht werden. (Hayes et al., 2004).

Es ist daher kaum überraschend, dass eine wesentliche Komponente der meisten ACT-Protokolle darin besteht, den Klienten mit dem Preis und der Sinnlosigkeit von Erlebnisvermeidung in Kontakt zu bringen. Dies ist häufig ein wesentlicher erster Schritt, um den Weg für ein radikal anderes Vorgehen zu ebnen: Akzeptanz von Erfahrung. Wir wollen ein achtsames, werteorientiertes Leben ermöglichen, aber natürlich ohne zu Achtsamkeitsfaschisten zu werden.

Achtsamkeitsfaschisten

ACT-Therapeutinnen und -Berater sind keine »Achtsamkeitsfaschisten«. Wir bestehen nicht darauf, dass alle immer im Hier und Jetzt sein, Abstand zu ihren Gedanken halten und ihre Zustände immer akzeptieren müssen. Das wäre lächerlich. Erlebnisvermeidung ist nicht grundsätzlich »schlecht« oder »pathologisch«: Sie ist normal. Wir befassen uns lediglich dann mit ihr, wenn sie exzessiv, rigide oder unangemessen ist, – in einem Maß, das einem reichen, sinnvollen und erfüllten Leben im Weg steht.

Wenn wir in ACT-Lehrbüchern von Erlebnisvermeidung als problematisch oder pathologisch sprechen, meinen wir nicht jede Erlebnisvermeidung. Wir meinen exzessive, rigide, unangemessene Erlebnisvermeidung. Wenn wir von Zeit zu Zeit eine Aspirintablette gegen Kopfschmerzen nehmen, ist das Erlebnisvermeidung – aber es ist sinnvoll, da es langfristig zur Verbesserung unserer Lebensqualität beiträgt.

Wenn wir jeden Abend hauptsächlich deshalb ein Glas Rotwein trinken, weil wir angespannt und gestresst sind, ist auch dies Erfahrungsvermeidung; solange diese Angewohnheit jedoch keine Beschwerden verursacht, wird sie wahrscheinlich weder schädlich noch gefährlich sein und auch unser Leben nicht zerstören. Im Gegenteil, Rotwein ist sogar gut für unser Herz. Wenn wir jedoch jeden Abend zwei Flaschen trinken, ist das eine andere Sache.

Ein äußerst wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit Akzeptanz und Vermeiden

In der ACT plädieren wir nicht dafür, sämtliche Gedanken und Gefühle unter allen Umständen zu akzeptieren. Dies wäre nicht nur äußerst rigide, sondern auch ziemlich unnötig. In zwei Fällen empfiehlt die ACT jedoch Akzeptanz:

1. Wenn es nur eingeschränkt oder überhaupt nicht möglich ist, Gedanken und Gefühle zu vermeiden.

2. Wenn es zwar möglich ist, Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, die Lebensqualität dadurch jedoch auf lange Sicht eingeschränkt wird.

Ist Erlebnisvermeidung möglich und trägt sie zu einem Leben, das an Ihren Werten orientiert ist, bei, ist nichts dagegen einzuwenden. Bitte merken Sie sich daher diesen Punkt bitte gut. Viele ACT-Anfänger und -Anfängerinnen haben den Eindruck, dass jede Erlebnisvermeidung schlecht ist, oder dass Erlebnisvermeidung das Gegenteil eines Lebens ist, das an Ihren Werten orientiert ist. Das ist nicht so!

Wie Fusion zu Erlebnisvermeidung führt

Wenn Erlebnisvermeidung exzessiv wird, liegt das zum großen Teil an Fusion mit zwei Kategorien von Denken: Bewertungen und Regeln. Unser Verstand bewertet unsere schwierigen Gedanken und Gefühle als »schlecht« und formuliert die Regel: »Ich muss sie loswerden!« Häufig passiert das schneller, als das bewusste Denken hinterherkommt. Sobald schwierige Gedanken und Gefühle entstehen, fangen wir sofort an, zu versuchen, sie zu vermeiden oder loszuwerden. (Es könnte Ihnen also helfen, exzessive Erlebnisvermeidung als Nebenergebnis von Fusion mit dieser Regel zu verstehen: »Diese Gedanken und Gefühle sind schlecht, deshalb muss ich sie loswerden«.)

Kurz gefasst: Fusion ist der übergreifende pathologische Prozess in der ACT, und Erlebnisvermeidung ist eines der vielen Probleme, die Fusion verursachen kann. Wenn Sie also einen Fall beschreiben und herauszufinden versuchen: »Ist dies Fusion oder Erlebnisvermeidung?«, lautet die Antwort gewöhnlich: Es ist beides! So konsumiert zum Beispiel ein Klient Alkohol und ist dabei sowohl von dem Verlangen motiviert, Angst zu vermeiden (Erlebnisvermeidung), als auch von der Fusion mit »Ich brauche ein Bier«.

Diese Überschneidung von Prozessen ist der Grund, weshalb ich das Wort »verstrickt« (hooked) verwende, wenn ich sowohl Fusion als auch Vermeidung meine. Um dies zu verdeutlichen, beschreibe ich oft zwei verschiedene Modi, wie man verstrickt ist: den automatischen Modus und den Vermeidungsmodus.

Automatischer Modus bedeutet, dass wir in einem Zustand der Fusion automatisch unseren Gedanken und Gefühlen gehorchen. Wir machen das, was uns unsere Kognitionen vorgeben. Wir verschmelzen mit unseren von Ärger oder Wut bestimmten Kognitionen und wir handeln aggressiv. Wir verschmelzen mit unseren von Angst bestimmten Kognitionen und wir handeln ängstlich. Wir verschmelzen mit den kognitiven Elementen unserer Neigungen und heftigen Begierden und wir tun, was immer sie uns zu tun drängen – nehmen Drogen, rauchen, essen zu viel und so weiter.

Vermeidungsmodus bedeutet, dass wir in einem Zustand der Fusion alles tun, was wir können, um unerwünschte Gedanken und Gefühle zu vermeiden oder loszuwerden. Unser Verhalten ist von den Anstrengungen bestimmt, diese schwierigen inneren Erfahrungen zu vermeiden oder loszuwerden: mit anderen Worten von Erlebnisvermeidung.

Wenn wir im Griff von Gedanken und Gefühlen sind, können wir in den automatischen, in den Vermeidungsmodus oder üblicherweise in beide zugleich gehen.

DIE SECHS PATHOLOGISCHEN KERNPROZESSE PSYCHISCHER RIGIDITÄT

Die sechs pathologischen Kernprozesse wie in der folgenden Abbildung sind Fusion, Erlebnisvermeidung, unflexible Aufmerksamkeit, Werteferne, unzweckmäßiges Handeln und Fusion mit dem Selbstkonzept. Jeder einzelne oder alle diese Prozesse können zu psychischer Rigidität führen. Sie können diese sechs pathologischen Prozesse als die »Kehrseite« der therapeutischen Kernprozesse psychischer Flexibilität verstehen. Wenn wir sie besprechen, werde ich zur Veranschaulichung für jeden einzelnen Prozess Beispiele von Klientinnen mit einer klinischen Depression anführen.


Fusion

Wie Sie wissen, bedeutet Fusion, dass unsere Gedanken unser offenes Verhalten und unser Bewusstsein in einem problematischen Ausmaß dominieren. Im Zustand der Depression können Klienten mit allen möglichen Gedanken verschmelzen, die nicht gerade hilfreich sind: Ich bin schlecht, ich habe nichts anderes verdient. Ich kann es nicht ändern, ich war schon immer so. Das Leben ist beschissen. Es ist alles zu schwer. Therapie hilft nicht. Es wird nie besser. Wenn ich mich so fühle, schaffe ich es nicht aus dem Bett. Ich bin zu erschöpft, um irgendetwas zu tun. Sie verschmelzen überdies oft mit schmerzlichen Erinnerungen an Ablehnung, Enttäuschung, Versagen oder Missbrauch. (Eine extreme Fusion mit einer Erinnerung in der Form, dass sie Realität zu sein scheint, die hier und jetzt da ist, wird gewöhnlich als »Flashback« bezeichnet.) Bei einer klinischen Depression manifestiert sich Fusion oft in Form von sorgenvollen Gedanken, Grübeln, Herausfindenwollen, warum »ich so bin« oder einem nicht enden wollenden negativen Kommentar: Diese Party ist so furchtbar. Ich sollte nach Hause und ins Bett gehen. Was mache ich überhaupt hier? Alle anderen amüsieren sich blendend. Für mich interessiert sich hier niemand.

Erlebnisvermeidung

Erlebnisvermeidung – der andauernde Versuch, unerwünschte private Erlebnisse wie Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen loszuwerden, zu vermeiden oder vor ihnen zu fliehen – ist das genaue Gegenteil von Akzeptanz: Depressive Klientinnen versuchen gewöhnlich mit allen Kräften, schmerzliche Emotionen und Gefühle wie Ängste, Traurigkeit, Müdigkeit, Wut, Schuldgefühle, Einsamkeit, Teilnahmslosigkeit usw. zu vermeiden oder loszuwerden. Nehmen wir zum Beispiel sozialen Rückzug. Ihr Klient möchte zur Geburtstagsparty seines besten Freundes gehen, aber als das Treffen näher rückt, verschmilzt er mit Gedanken wie: Ich bin langweilig. Ich bin eine Last. Ich habe nichts zu sagen. Mir wird es nicht gefallen. Ich bin zu müde. Ich habe keine Lust, sowie mit Erinnerungen an Begegnungen, die unbefriedigend waren. Er hat Angstgefühle, die sogar noch stärker werden, je näher das Ereignis rückt, bis er ganz vom Gefühl der Angst erfasst ist. Und in diesem Moment empfindet er sofort Erleichterung: Alle unangenehmen Gedanken und Gefühle sind sofort verschwunden. Die Erleichterung hält natürlich nicht lange an. Etwas später ist er mit Selbsthass verschmolzen: Sieh an, was für ein Loser ich bin! Kann nicht einmal zur Party meiner besten Freundin gehen! Aber dieser kurze Schub von Erleichterung – dass er kurz seiner Angst entkommen ist – hat eine sehr verstärkende Wirkung, sodass die Gefahr eines künftigen sozialen Rückzugs steigt.

Fusion und Erlebnisvermeidung gehen gewöhnlich Hand in Hand. Unsere Klienten verschmelzen mit allen möglichen schmerzlichen Kognitionen (z. B. Grübeln, sorgenvollen Gedanken, entwertender Selbstkritik oder Erinnerungen an Versagen und Enttäuschung), während sie zugleich versuchen, sie zu vermeiden oder loszuwerden (z. B. durch Drogen, Alkohol, Zigaretten, Fernsehen oder übermäßig langes Schlafen).

Unflexible Aufmerksamkeit

Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment oder flexible Aufmerksamkeit bedeutet die Fähigkeit, vollen bewussten Kontakt mit Ihren inneren wie mit Ihren äußeren Welten aufzunehmen und Ihren Fokus zu verengen, zu verbreitern, zu verschieben oder zu halten, je nachdem, was am nützlichsten ist. Ihr Gegenteil, unflexible Aufmerksamkeit, bezieht sich auf eine Reihe von Defiziten in dieser Fähigkeit, besonders auf diese drei: Ablenkbarkeit, Distanzieren und Abkoppelung.

Ablenkbarkeit

Ablenkbarkeit bezieht sich auf die Schwierigkeit, mit der Aufmerksamkeit bei der aktuellen Aufgabe zu bleiben. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich leicht zu anderen Stimuli, die nicht relevant sind. Je abgelenkter wir während einer Aufgabe oder Aktivität sind, umso schwächer wird unsere Leistung sein und umso weniger wird uns die Aktivität befriedigen.

Distanzieren

Distanzieren bezieht sich auf die vielen verschiedenen Formen, wie wir bewusstes Interesse oder innere Beteiligung an unserem Erleben verlieren können: durch mechanisches Handeln, durch achtlos Handeln, durch automatisches Handeln wie mit Autopilot oder Handeln auf eine gelangweilte oder innerlich abwesende Weise.

Abkoppelung

Abkoppelung ist ein Begriff, den ich verwende, um einen Mangel an bewusstem Kontakt mit unseren eigenen Gedanken und Gefühlen zu beschreiben. Wenn wir nicht in der Lage sind wahrzunehmen, wie wir denken oder was wir fühlen, dann fehlt uns Selbstgewahrsein. Dann ist es viel schwerer, unser Verhalten auf eine geeignete Weise zu verändern. Wir neigen zu emotionaler Deregulation und impulsivem, reaktivem oder achtlosem Verhalten.

Üblicherweise sehen wir alle drei Formen unflexibler Aufmerksamkeit – Ablenkbarkeit, Distanzieren und Abkoppelung von Gedanken und Gefühlen – nicht nur bei Klientinnen mit einer Depression, sondern im Zusammenhang mit allen therapeutischen Themen.

Werteferne

Wenn unser Verhalten zunehmend durch die Fusion mit nicht hilfreichen Gedanken oder durch Versuche bestimmt wird, unangenehme private Erfahrungen zu vermeiden, verlieren wir den Kontakt zu unseren Werten oder wir vernachlässigen bzw. vergessen sie. Und wenn wir uns über unsere Werte nicht im Klaren und seelisch nicht in Kontakt mit ihnen sind, können sie uns nicht als Orientierungshilfe für unser Handeln dienen. Depressive Menschen zum Beispiel verlieren häufig die Verbindung zu ihren Werten rund um Fürsorglichkeit, Verbundenheit mit anderen, Beteiligung am Gemeinschaftsleben, Produktivität und Hilfsbereitschaft, Selbstfürsorge, Spaß am Spielen, Intimität, Zuverlässigkeit und so weiter.

Ein Ziel der ACT ist, das Verhalten zunehmend von Werten statt von Fusion bzw. Vermeidung leiten zu lassen. Nehmen Sie wahr, welchen Unterschied es ausmacht, aus welchem der drei folgenden Gründe Sie sich auf den Weg zur Arbeit begeben:

• Die Motivation ist die Fusion mit Überzeugungen wie: »Ich muss diesen Job machen. Für etwas anderes bin ich nicht geeignet.«

• Die Motivation ist Erlebnisvermeidung: arbeiten gehen, um sich »nicht wie ein Versager zu fühlen«, oder unangenehmen Gefühlen angesichts von Spannungen zu Hause zu entgehen.

• Die Motivation sind Werte wie Fürsorglichkeit, Verbundenheit und der Wert, der darin liegt, einen Beitrag zu leisten.

Welche Art von Motivation verleiht wohl am ehesten ein Gefühl von Vitalität und Funktionsfähigkeit?

Unzweckmäßiges Handeln

Der Ausdruck »unzweckmäßiges Handeln« (oder »Wegbewegungen«) beschreibt Verhaltensmuster, durch die wir uns von einem achtsamen, werteorientierten Leben entfernen. Solche Handlungen sind impulsiv, reaktiv oder automatisch und stehen damit im Gegensatz zu achtsamem, überlegtem und engagiertem Handeln. Unzweckmäßiges Handeln ist beständig von Fusion und Erlebnisvermeidung motiviert (statt von Werten) oder gerade dort von Handlungsvermeidung bzw. Handlungsverzögerung, wo effektives Handeln geboten wäre. Bekannte Beispiele für unzweckmäßiges Handeln in depressiven Phasen (und bei vielen anderen Störungen) sind unter anderem Medikamentenmissbrauch oder übermäßiger Alkoholkonsum, sozialer Rückzug, Aufgabe zuvor geliebter Tätigkeiten, Arbeitsvermeidung, übermäßiges Schlafen oder Fernsehen, übermäßiges Spielen (am Computer oder Glücksspiel) und Suizidversuche.

Fusion mit dem Selbstkonzept

Wir alle wissen eine Geschichte darüber zu erzählen, wer wir sind. Diese Geschichte ist komplex und vielschichtig. Sie enthält einige objektive Fakten wie Name, Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf und so weiter. Sie enthält darüber hinaus Beschreibungen und Bewertungen unserer Rollen, unsere Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. Nehmen wir unsere Geschichte leicht, kann sie uns helfen zu bestimmen, wer wir sind und was wir wollen.

Wenn wir aber mit unserem Selbstkonzept verschmelzen, scheint es so, als wären alle diese Gedanken, mit denen wir uns beschreiben, die Essenz dessen, wer wir sind. Wir verlieren die Fähigkeit, zurückzutreten und zu sehen, dass dieses Selbstkonzept nicht mehr oder weniger als eine komplexe kognitive Konstruktion ist, ein reiches Gewebe aus Worten und Bildern. (Viele Bücher über ACT bezeichnen so eine Fusion mit dem etwas verwirrenden Begriff »self-as-content« (»Selbst als Inhalt«) oder des »konzeptualisierten Selbst« (Wengenroth, 2017, 175).

In einer Depression verschmelzen Klienten im Allgemeinen mit einem sehr negativen Selbstkonzept: »Ich bin schlecht/wertlos/ein hoffnungsloser Fall/nicht liebenswert« und so weiter. Ein Selbstkonzept kann aber auch »positive« Elemente enthalten – zum Beispiel »Ich bin stark, Ich sollte nicht so reagieren oder Ich bin ein guter Mensch, warum passiert mir das?«.

FÜR WEN IST ACT GEEIGNET?

Therapeutinnen fragen mich häufig: »Für wen ist ACT geeignet?« Meine Antwort lautet: »Können Sie sich jemanden vorstellen, für den ACT nicht geeignet ist?« Wer würde nicht davon profitieren, psychisch präsenter zu sein, mehr mit seinen Werten in Kontakt zu sein? Dem unvermeidliche Schmerz des Lebens mehr Raum zu geben? Mehr Abstand zu nicht hilfreichen Gedanken, Überzeugungen und Erinnerungen haben zu können? Mehr in der Lage zu sein, angesichts von Dingen, die emotional unangenehm sind, effektiv zu handeln? Sich voller in dem zu engagieren, was man tut und jeden Moment seines Lebens mehr wertzuschätzen, gleich wie es einem geht? Psychische Flexibilität hat alle diese guten Wirkungen und mehr. ACT scheint daher praktisch für jeden Menschen relevant zu sein.

Bei Menschen, deren Fähigkeit zur Nutzung von Sprache aufgrund von Autismus, erworbener Hirnschäden oder sonstiger Behinderungen deutlich eingeschränkt ist, ist ACT unter Umständen jedoch nur von begrenztem Nutzen. Für solche Menschen bietet die RFT (Bezugsrahmentheorie) jedoch diverse hilfreiche Anwendungen.

ACT ist wissenschaftlich erforscht worden und hat sich unter anderem bei Depressionen, Ängsten, Zwangsstörungen, sozialer Phobie, generalisierter Angststörung, Schizophrenien, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Stress am Arbeitsplatz, chronischen Schmerzen, Drogenkonsum, psychischer Bewältigung einer Krebserkrankung, Epilepsie, Gewichtskontrolle, Raucherentwöhnung und Selbstmanagement bei Diabetes bewährt. (Bach & Hayes, 2002; Bond & Bunce, 2000; Branstetter, Wilson, Hildebrandt & Mutch, 2004; Brown et al., 2008; Dahl, Wilson & Nilsson, 2004; Dalrymple & Herbert, 2007; Gaudiano & Herbert, 2006; Gifford et al., 2004; Gratz & Gunderson, 2006; Gregg, Callaghan, Hayes & Glenn-Lawson, 2007; Hayes, Bissett et al., 2004; Hayes, Masuda et. al., 2004; Lundgren, Dahl, Yardi & Melin, 2008; Ossman, Wilson, Storaasli & McNeill, 2006; Tapper et al., 2009; Twohig, Hayes & Masuda, 2006; Zettle, 2003).

Aufgaben

Ich werde dieses Kapitel mit einer Übung in Fallkonzeptualisierung schließen, um Sie mit der Denkweise dieses Modells vertraut zu machen.

• Stellen Sie sich einen Ihrer Klienten vor und finden Sie Beispiele für die sechs pathologischen Kernprozesse, die in diesem Kapitel beschrieben werden. Sie sehen, dass sie sich alle überschneiden. Nutzen Sie dazu das als Zusätzliches Material erwähnte Arbeitsblatt.

• Wenn Sie mit einem Stichwort nichts anfangen können, gehen Sie einfach zum nächsten über. Und bedenken Sie, dass sich die einzelnen Prozesse erheblich überschneiden. Falls Sie sich also fragen, ob bei einem bestimmten Verhalten Fusion oder Vermeidung vorliegt, dann ist es wahrscheinlich beides. Halten Sie es in diesem Fall unter beiden Stichworten fest. Diese Übung dient lediglich dazu, Sie mit der Arbeit vertraut zu machen. An späterer Stelle in diesem Buch werde ich noch näher auf die Fallkonzeptualisierung eingehen. Fangen Sie jetzt einfach einmal an, um zu sehen, wie es läuft.

• Noch besser ist es, diese Übung anhand von zwei, drei Klientinnen vorzunehmen, da Übung bekanntlich den Meister macht.

• Wollen Sie diesen psychopathologischen Ansatz noch eingehender kennenlernen, bietet es sich an, zwei oder drei Störungen nach DSM-5 (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5) auszuwählen und herauszufinden, was Fusion, was Vermeidung und was unzweckmäßiges Handeln ist: Mit welcher Art kognitivem Inhalt verschmelzen Menschen mit diesen Störungen (im Hinblick auf Vergangenheit, Zukunft, Selbstkonzept, Gründe, Regeln und Wertungen)? Welche Gefühle, Neigungen, Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen wollen sie aktiv vermeiden oder nicht haben? Welche unzweckmäßigen Handlungsrichtungen schlagen sie gewöhnlich ein? Zu welchen Grundwerten haben sie die Verbindung verloren? Welche Form von Ablenkbarkeit, Distanzierung und Abkoppelung sind verbreitet?

• Führen Sie die Übung nicht zuletzt mit sich selbst durch. Wenn Sie ACT kennenlernen möchten, sind Sie die geeignetste Person zum Üben. Nehmen Sie sich also etwas Zeit, um dies ernsthaft herauszufinden: Identifizieren Sie Ihre eigenen Bereiche der Verschmelzung, der Vermeidung, unflexibler Aufmerksamkeit, von Werteferne und unzweckmäßigen Handelns. (Sie werden überrascht sein, was Sie entdecken.) Das Tolle ist, je mehr wir ACT auf unsere eigenen Themen anwenden, umso besser werden wir das mit unseren Klienten machen können. Und wenn wir sehen, dass es in unserem eigenen Leben funktioniert, gibt uns das nicht nur Zutrauen in das Modell, sondern auch Authentizität in unserer therapeutischen Arbeit.

WAS SIE MITNEHMEN KÖNNEN

Das ACT-Modell beruht auf dem Kernkonzept der Nützlichkeit: Funktioniert das, was Sie tun, um Ihr Leben reicher und erfüllter zu machen? Der übergreifende pathologische Prozess in ACT ist kognitive Fusion, die sich in sechs Hauptkategorien aufteilt: Vergangenheit, Zukunft, Selbstkonzept, Gründe, Regeln und Bewertungen. Fusion kann zu vielen Problemen führen, und eines der verbreitetsten ist Erlebnisvermeidung. Wenn wir beim Punkt der Entscheidung also den Begriff »verstrickt« verwenden, bezieht er sich sowohl auf Fusion als auch auf Erlebnisvermeidung.

Die pathologischen Kernprozesse kognitive Fusion, Erlebnisvermeidung, unflexible Aufmerksamkeit, Werteferne, unzweckmäßiges Handeln und Fusion mit dem Selbstkonzept kann man in gewissem Maß bei allen Menschen antreffen. Daher sieht sich ACT als ein Modell für die existenzielle Verfassung des Menschen.

ACT leicht gemacht

Подняться наверх