Читать книгу Wechselgeld für einen Kuss - Ruth Gogoll - Страница 4

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»Was für ein Mist!« Nicola suchte in den Tiefen ihrer Handtasche herum und wurde immer ungeduldiger. Und das hier an der ALDI-Kasse! Gerade eben hatte sie doch noch einen Zehner gehabt. Und mehr brauchte sie auch gar nicht. Nur diesen Zehner. Aber auf einmal war er verschwunden. Sie hatte ihn vorhin doch hier reingesteckt . . .

»Kommt da jetzt noch was, junge Frau?« Die Kassiererin schaute sie grimmig an. »Da warten nämlich noch mehr Leute.«

»Ja. Ja, ich weiß.« Unbehaglich fühlte Nicola Wärme in ihre Wangen steigen. Wie peinlich konnte es eigentlich noch werden?

»Kann ich Ihnen aushelfen?« Ein Arm schob sich an ihr vorbei und legte einen Fünfziger auf das Band, auf dem Nicolas wenige Einkäufe immer noch darauf harrten, bezahlt zu werden.

Bevor Nicola überhaupt etwas sagen konnte, hatte die Kassiererin sich den Schein schon gegrabscht und das Wechselgeld herausgegeben. Nicolas Einkäufe landeten mit fulminantem Schwung auf der anderen Seite des Bandes, in der Grube zum Einpacken.

»He, wie kommen Sie dazu –?« Nun endlich protestierte Nicola, aber als sie die Person, die ihr den Fünfziger geliehen hatte, anpflaumen wollte, blieb ihr die Luft weg. Wie sah die denn aus? Strahlende blaue Augen und darüber dunkle lockige Haare. Wie ein junger weiblicher George Clooney.

›George‹ bemerkte ihre Reaktion, und ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie können es mir ja zurückgeben«, sagte sie. »Aber hier bei ALDI fühle ich mich immer, als würde jemand mit einer Peitsche hinter mir stehen, weil man sich so beeilen muss. Ich hasse das.«

»Ja, ähm . . .« Nicola schluckte. »Ich auch.« Sie fühlte ein sanftes Kribbeln in sich. »Furchtbar. So viele Leute.«

»Tja.« ›George‹ grinste. »Wie wäre es denn, wenn wir irgendwo hingehen, wo weniger Leute sind?«

Das Kribbeln in Nicola verstärkte sich. Aber auf einmal kehrte ihre natürliche Mutwilligkeit zurück. »Schon meine Mami hat mir immer gesagt, ich soll nicht mit Fremden mitgehen«, erwiderte sie spitz.

»Dann stelle ich mich wohl besser vor, damit ich Ihnen nicht mehr fremd bin«, entgegnete ›George‹ lachend, während sie nebeneinander den ALDI verließen. »Lian Lorenz.« Sie machte eine leichte Verbeugung, als sie ihren Namen nannte.

Das beeindruckte Nicola aber in keiner Weise. Wofür hielt diese Lian – ungewöhnlicher Name irgendwie, was sollte der eigentlich bedeuten? – sich? »Und jetzt wollen Sie meinen?«, pflaumte sie sie deshalb erneut an.

»Wäre nett«, sagte Lian. »Aber Sie müssen nicht.«

Oh mein Gott. Diese blauen Augen. Wenn die nur nicht gewesen wären . . . »Nicola«, entgegnete sie. »Das muss reichen.«

Ein amüsiertes Schmunzeln spielte um Lians Lippen. »Reicht«, sagte sie. »Fürs Erste.«

»Was meinen Sie damit: fürs Erste?«, fauchte Nicola fast. Diese Frau brachte sie einfach dazu. Sie war unmöglich. Oder vielleicht ärgerte sie, Nicola, sich auch nur darüber, dass sie ihr laut pochendes Herz einfach nicht zur Ruhe zwingen konnte.

»Nun ja, Sie schulden mir«, Lian schaute auf den Zettel in ihrer Hand, »neun Euro dreiundachtzig. Wollen Sie die etwa nicht zurückzahlen?«

Jetzt hätte Nicola ihr endgültig ins Gesicht springen können. »Ach, deshalb haben Sie mir das Geld geliehen!«, blaffte sie Lian an. »Machen Sie das immer so? An der ALDI-Kasse warten, bis eine Frau kein Geld dabeihat und Sie galant einspringen können?« Das galant betonte sie so abschätzig, dass klar war, dass sie das Gegenteil meinte.

Erneut zuckten Lians Mundwinkel. »Ich bin eigentlich eher selten bei ALDI«, antwortete sie. »Das war mehr ein Zufall heute.«

»Schöner Zufall!« Nicola hievte die Tasche mit ihren Einkäufen in den Korb am Lenker ihres Fahrrads. »Sie können viel behaupten, wenn der Tag lang ist!« Aufgebracht öffnete sie das Schloss, zog es ab und warf es ebenfalls in den Korb.

Als sie schon aufsteigen wollte, fragte Lian mit einem süffisanten Unterton in der Stimme: »Und was ist jetzt mit meinen neun Euro dreiundachtzig?«

Verdammt! Nicola ärgerte sich erneut, dass sie das vor lauter Ärger schon fast vergessen hatte. Und noch mehr ärgerte sie sich, dass sie ihr Portemonnaie zu Hause vergessen hatte. Sonst hätte sie jetzt einfach irgendwo an einem Geldautomaten Geld ziehen können. »Ich kann Ihnen das Geld in einem Umschlag schicken, wenn Sie mir Ihre Adresse geben.« Hochmütig hob sie das Kinn, als wäre das eine Gnade, die sie dieser dahergelaufenen Frau erwies.

»Oh nein. Auf so etwas lasse ich mich nicht ein.« Lian Lorenz lachte. »Sie fahren doch jetzt bestimmt nach Hause. Und da Sie mit dem Fahrrad unterwegs sind, nehme ich einmal an, das ist hier in der Nähe. Also werde ich einfach mitkommen, und dort können Sie mir das Geld dann geben.« Sie lachte erneut und ließ Münzen in ihrer Hand klimpern. »Das Wechselgeld habe ich ja noch. Nur falls Sie es zu Hause nicht klein haben.«

Fast hätte Nicola ihre Kiefer durchgebissen, so presste sie sie aufeinander. »Wofür halten Sie sich eigentlich? Meinen Sie, ich lasse einfach so jede x-beliebige Fremde in meine Wohnung?«

»Sie müssen mich ja nicht reinlassen.« Lian grinste. »Ich warte gern vor der Tür, während Sie das Geld holen.«

Wenn sie jetzt nicht endgültig explodieren wollte, musste Nicola aufsteigen und losfahren. »Dann kommen Sie eben mit«, knurrte sie ungnädig. »Wie, ist mir egal.« Und schon stieß sie dermaßen in die Pedale, dass sie über den Parkplatz davonschoss.

Ob diese Lian irgendein Fahrzeug hatte oder ihr hinterherlaufen musste, das war ihr so was von völlig schnuppe. In der Tat hätte sie sie am liebsten neben oder hinter sich herkeuchen sehen, aber davon war nichts zu hören.

Ein Stück vom Parkplatz entfernt bemerkte sie plötzlich, dass ein Auto sehr nah an sie heranfuhr, neben sie, nicht an ihr vorbei.

»Sie sind schnell.« Lian lachte.

Unwillkürlich warf Nicola einen Blick neben sich. Ein Cabrio! Das war ja wohl kaum zu glauben! Und dann machte sie so einen Aufstand wegen neun Euro dreiundachtzig? Das konnten doch nur Peanuts für sie sein. »Nicht schnell genug«, gab sie mit zusammengepressten Lippen zurück.

»Aber, aber.« Erneut klang Lians Lachen aus den Tiefen der beigen Lederpolster. »Sie wollten doch nicht tatsächlich die Zeche prellen?«

Das Cabrio in british racing green war so niedrig, dass Nicola von oben wie in einen Brunnen hineinschauen konnte. Schickes Teil. Und irgendwie passte diese Lian auch dazu. Oder umgekehrt das Auto zu ihr.

Wieso kaufte die bei ALDI ein? Nicola hätte sie eher in einem Delikatessenladen gesehen.

»Davon war nie die Rede!« Warum habe ich meine Einkäufe nicht einfach dortgelassen? Schon wieder ärgerte Nicola sich. Das hier hätte sie sich gern erspart. Aber wer hatte das ahnen können? So schlimm hatte Lian-George gar nicht ausgesehen.

Sie bog in die nächste Seitenstraße ein, und Lian folgte ihr. Das zweite Haus auf der rechten Seite war das, in dem Nicolas Wohnung lag. Sie sprang vom Fahrrad, lehnte es an die Wand und nahm ihre Einkäufe aus dem Korb.

»Ich brauche mein Rad wohl nicht abzuschließen, bis ich zurückkomme«, warf sie beißend in das Cabrio hinein. »Sie sind ja da, um aufzupassen.«

Erneut lachte Lian, und es klang so amüsiert, dass das allein schon eine Beleidigung war. »Ich werde jeden Dieb mit wilden Dschungelschreien verscheuchen«, versprach sie völlig unernst.

Wahrscheinlich wird sie es ihm noch in die Hand drücken, weil sie das so lustig findet, dachte Nicola, aber sie wollte diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen, und deshalb sprang sie fast zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf.

In ihrer Wohnung angekommen stellte sie die Einkäufe auf den Küchentisch – und da lag ja auch ihr Portemonnaie. Wie praktisch. Sie rollte über sich selbst die Augen. Schnell nahm sie einen Zehner heraus und raste wieder zur Tür, die Treppe hinunter und zum Haus hinaus.

»Hier!« Ruckartig streckte sie den Schein mit einem steifen Arm in das Cabrio hinein und versuchte, den Blick in Lians amüsiertes Gesicht zu vermeiden. »Den Rest können Sie behalten!«

»Wie großzügig.« Lian grinste und nahm den Schein entgegen. »Ich will Sie aber auf keinen Fall übervorteilen.« Sie öffnete die Mittelkonsole und nahm das Wechselgeld heraus. »Ich habe es ja schon passend da.«

Unwillig warf Nicola den Kopf in den Nacken. »Benzingeld«, gab sie knapp zurück. »Weil Sie mir ja folgen mussten.« Sie verweigerte die Annahme des Wechselgelds, indem sie sich auf dem Absatz umdrehte und hocherhobenen Hauptes zum Haus zurückmarschierte. »Oh nein!« Entsetzt starrte sie auf die geschlossene Tür.

Und unvermeidlich – wie konnte es anders sein? – stand auch schon Lian neben ihr. »Schlüssel vergessen?«, fragte sie mit einem verdächtig süßen Tonfall in der Stimme.

»Nein, überhaupt nicht!« Gleich bekam Nicola endgültig einen Wutanfall. »Wie kommen Sie darauf?«

»Na ja, Sie stehen hier vor der Tür, Ihr Fahrrad steht noch hier, Sie schließen es nicht ab, schieben es nicht hinein und gehen selbst auch nicht rein«, bemerkte Lian trocken. »Da könnte man doch vermuten –«

»Haben Sie sonst nichts zu tun als zu vermuten, Sie . . . Sie Sherlock Holmes?«, schrie Nicola sie beinah an. Sie konnte sich gerade noch so beherrschen, dass ihre Stimme sich nicht überschlug. »Schwingen Sie sich doch endlich in Ihr schickes Halbauto und verschwinden Sie!«

»Sie finden es schick?« Völlig unbeeindruckt drehte Lian sich kurz zu ihrem Cabrio um, das da ganz unschuldig am Straßenrand stand. »Es gefällt Ihnen?«

»Was . . . hat . . . das . . . für . . . eine . . . Bedeutung?« Nicolas Nägel bohrten sich in ihre Handflächen, und sie bekam die Wörter kaum heraus. In ihrem Hals bildete sich ein furchtbarer Kloß. Wenn der Schrei herauskam, würde man sie gleich in die Psychiatrie einweisen. Der würde die ganze Straße erschüttern.

»Na ja, ich freue mich, wenn es Ihnen gefällt.« Lian grinste wieder. »Wenigstens etwas, das Ihnen an mir gefällt. Alles andere scheinen Sie ja nicht zu mögen.«

»Wundert Sie das?« Nicola atmete tief ein und aus, um sich wieder in den Griff zu bekommen.

Darauf antwortete Lian nicht, sondern ließ ihren Blick über die Fassade schweifen. »Kann Sie denn nicht irgendjemand reinlassen?«, erkundigte sie sich. »Das sind doch mehrere Wohnungen.«

»Hier unten zur Haustür schon.« Nicola versuchte, sich ganz normal zu verhalten, obwohl es ihr schwerfiel und einiges abverlangte. Aber vor dieser . . . Person wollte sie sich keine Blöße geben. Das hätte noch gefehlt! »Nur meine Wohnungstür . . .«

»Keine Nachbarin, die einen Schlüssel hat?«, fragte Lian pragmatisch.

»Leider nein.« Nicola zuckte die Schultern. »Ich wohne hier noch nicht so lange.«

Lian nickte. »Balkon?« Erneut schweifte ihr Blick über die Fassade, als würde sie nach einem solchen suchen, obwohl hier nichts davon zu sehen war. »Hat Ihre Wohnung einen?«

»J-Ja schon . . .« Erstaunt blickte Nicola sie an. »Aber die Wohnung ist im zweiten Stock. Da kann man nicht so einfach hochspringen.«

»Zeigen Sie mir Ihren Balkon?« Lian hob fragend die Augenbrauen und wies mit dem Arm um die Ecke. »Hinter dem Haus?«

»Das hat doch keinen Sinn.« Trotzig verschränkte Nicola die Arme. »Was nützt Ihnen ein Balkon im zweiten Stock? Sie wollen nur genau wissen, wo ich wohne.«

Lian trat einen Schritt vor und schaute auf das Klingelbrett. »Es gibt zwei Namen hier im zweiten Stock«, stellte sie fest. »Einer davon muss Ihrer sein. Also weiß ich doch im Prinzip schon, wo Sie wohnen.«

Dem konnte Nicola schlecht widersprechen. »Na gut, wenn Sie unbedingt wollen.« Sie seufzte. »Ist ja sowieso schon alles egal. Muss ich wieder den Schlüsseldienst holen. Und das wird teuer.«

»Wieder?«, hakte Lian schmunzelnd nach. »Sie haben sich hier schon einmal ausgesperrt?«

»Nicht hier.« Widerspenstig presste Nicola die Lippen zusammen. »Aber Schlüsseldienste sind überall teuer.«

»Dann wäre es vielleicht gut, wenn wir versuchen würden, diese Ausgabe zu vermeiden«, sagte Lian und ging mit nach oben gerichtetem Blick langsam um die Ecke herum, auf die sie zuvor gezeigt hatte.

Nicola sah sie hinterm Haus verschwinden und kam sich wie ein Kind vor, das jemand einfach so stehengelassen hatte. Was bildete sich diese komische Cabriofahrerin eigentlich ein? Sie fühlte sich gereizt und nervös und hätte am liebsten auf etwas eingeschlagen. Vielleicht stellte Lian sich ja zur Verfügung.

Entschlossen stapfte sie ihr hinterher, blieb vor der hinteren Fassade des Hauses stehen und wies mit einem Arm nach oben. »Da. Das ist mein Balkon.« Ihre Augen blitzten Lian an. »Nun haben Sie ihn gesehen und können hoffentlich abdampfen. Oder wollen Sie noch hierbleiben, bis der Schlüsseldienst kommt, weil Sie das so genießen?«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Lian, betrachtete die Balkone kurz, nahm Anlauf und sprang an das Geländer des Balkons im Erdgeschoss, hangelte sich hoch, stieg auf das Geländer, sprang noch einmal, hievte sich auf den Balkon im ersten Stock und wiederholte das dann für den zweiten.

Die Balkontür hatte Nicola zwar nicht offengelassen, aber das Küchenfenster, das ebenfalls auf den Balkon hinauszeigte.

»Ich steige durchs Fenster«, rief Lian ihr da auch schon vom Balkon herunter zu. »Gehen Sie zur Haustür!«

»Das hättest du mir nicht sagen müssen, das weiß ich selbst«, grummelte Nicola. »Besserwisserin.«

Aber sie ging nach vorn, und im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Lian stand vor ihr. »Bitte sehr«, flötete sie mit einem breiten Grinsen fast und hielt Nicola ihre Schlüssel hin. »Und jetzt nicht wieder verlieren.«

Sie lachte, ging an Nicola vorbei, schwang sich ohne die Türen zu öffnen in ihr Cabrio und glitt davon.

Wechselgeld für einen Kuss

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