Читать книгу Wechselgeld für einen Kuss - Ruth Gogoll - Страница 8

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»Wer bist du, Lian?« Nicola sprach in den Nebel hinein, der ihre Gedanken immer noch umfing.

Wie immer lachte Lian nur amüsiert, als würde sie das alles nicht ernstnehmen, Nicola nicht und die ganze Welt nicht. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie zurück.

Das war eine Frage, die sich auch Nicola stellte. Hatte sie sich nicht vorgenommen, sich nicht so schnell wieder auf etwas einzulassen? Und dann kam Lian . . .

Nicola wusste, dass das genau ihr Fehler war, dass sie Frauen wie Lian attraktiv fand. Nun ja, das war sie, äußerlich, aber über ihre inneren Werte sagte das nichts aus. Hatte sie das nicht schon einmal schmerzvoll erfahren müssen?

Schmerzvoll. Schmerz. Schmerz.

Sie stöhnte auf. Ihr Kopf tat furchtbar weh, als ob ihn jemand mit einem Holzhammer traktiert hätte. War sie irgendwo gewesen, wo das hätte passieren können? Sie konnte sich nicht erinnern. An vieles konnte sie sich so gut erinnern. Warum jetzt ausgerechnet daran nicht? Die anderen Dinge, an die sie sich so gut erinnerte, hätte sie gern vergessen. Warum spielte einem das Gedächtnis immer solche Streiche?

Etwas Kaltes legte sich auf ihre Stirn. Gemurmelte Worte, die Nicola nicht verstehen konnte. »Wer ist da?«, fragte sie, aber sie wusste nicht, ob die Wörter überhaupt aus ihrem Mund herauskamen. Vielleicht hatte sie sie auch nur in ihrem Kopf ausgesprochen. In diesem hämmernden, hämmernden, quälenden Kopf. »Lian . . .«, hauchte sie. »Lian . . .«

»Was ist denn, Nicola? Was hast du gesagt?«

Zuerst erkannte Nicola die Stimme nicht, aber dann kam ein leichtes Wiedererkennen in ihren schmerzenden Gehörgängen an. »Marlies.« Ob das zu verstehen war, wusste sie nicht. Noch nicht einmal, ob sie das wollte. Es war alles so verschwommen.

Marlies setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm ihre Hand. »Du bist in deinem eigenen Bett«, sagte sie. »Wolltest du das wissen? Wo du bist?«

Der Versuch, nickend den Kopf zu bewegen, scheiterte. Sofort zeigten Schmerzen in all ihren Fasern wieder an, dass sie das nicht tun sollte.

»Du bist bald wieder gesund«, sagte Marlies. »Das Fieber geht jetzt runter.« Sie tauchte das Tuch, das auf Nicolas Stirn gelegen hatte, in eine Schüssel mit Wasser ein, die neben dem Bett stand, und legte es ihr kühl lindernd wieder auf die Stirn zurück, drückte es leicht an ihre Schläfen.

Sie lächelte, und langsam konnte Nicola das auch erkennen. Es schälte sich wie aus diesem Nebel, der ihren Kopf umgab, heraus.

Aber nicht genug. Sie hatte kaum erkannt, wo sie war und wer bei ihr war, als ein rasender Kopfschmerz sie überfiel und sie aufstöhnte. Sie fühlte sich furchtbar schwach, und wieder versank alles um sie herum im Nebel.

Die Zeit verging, weil sie merkte, wie es dunkel und wieder hell wurde, aber sie wusste nicht, welcher Tag es war. Die meiste Zeit bekam sie aber so gut wie gar nichts mit. Sie lag nur da und hatte das Gefühl, sie würde nie wieder aufstehen können.

Zwischendurch kam irgendwann eine Ärztin vorbei, die Marlies gerufen hatte. Sie gab Nicola eine Spritze, und danach begann es ihr tatsächlich besser zu gehen. Zudem flößte Marlies ihr mehrmals am Tag etwas ein, das gruselig schmeckte, Marlies aber für notwendig erklärte.

Endlich konnte Nicola sich wieder aufsetzen und ohne die Hilfe von Marlies auf die Toilette gehen. »Welcher Tag ist heute?«, fragte sie, als Marlies ihr eine Hühnersuppe brachte.

»Freitag«, sagte Marlies.

»Freitag?« Erschrocken riss Nicola die Augen auf. »Aber es war Dienstagabend, als ich –«

»Richtig.« Marlies nickte. »Du hast zwei Tage und drei Nächte fast durchgeschlafen.« Leicht tätschelte sie Nicolas Arm und setzte sich neben dem Bett auf einen Stuhl. »Aber das ist auch gut so. Schlaf ist die beste Medizin. Deine Chefin hat angerufen«, fuhr sie beiläufig fort. »Der habe ich gesagt, dass du krank bist, und die Ärztin hat ein Attest für dich ausgestellt.«

Nicola stöhnte auf. »Das wird sie nicht gern haben, meine Chefin. Ich habe ja erst vor kurzem bei ihr angefangen.«

»Ja, sie war nicht begeistert, als ich es ihr vorbeibrachte«, sagte Marlies. »Aber wenn du krank bist, bist du krank. Da kann man nichts machen.«

Nicola verzog das Gesicht. »Ich bin nicht sicher, ob sie das auch so sieht.«

»Deine Mutter hat auch angerufen«, sagte Marlies. Sie runzelte die Stirn. »Habt ihr euch irgendwie gekracht?«

Als Antwort versuchte Nicola, das Gesicht zu verziehen, aber das ging nicht so gut, deshalb ließ sie es wieder. »Was hat sie gesagt?«, fragte sie schicksalsergeben.

»Na ja, sie schien zu denken, dass ich«, Marlies lachte belustigt auf, »deine Freundin bin. Und zwar eine sehr enge Freundin. Als ob wir zusammenleben würden.« Amüsiert schüttelte sie den Kopf. »Als ich ihr dann sagte, dass ich einen Mann und drei Kinder habe, war sie ziemlich entsetzt, hatte ich den Eindruck.«

Jetzt hätte Nicola so gern gelacht. Aber sie musste sich zurückhalten, um die Buschtrommeln zwischen ihren Schläfen nicht wieder zum Dröhnen zu bringen. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Sie hätte allerdings nichts dagegen, wenn ich bereits drei Kinder hätte. Es war immer schon ihr Wunsch, möglichst viele Enkelkinder zu haben.«

»Oh, sie kann gern mal zum Kinderhüten vorbeikommen«, schmunzelte Marlies. »Falls sie nicht ausgelastet ist.«

»Tja . . .« Nicola holte tief Luft und seufzte. »Dazu ist sie jetzt leider zu weit entfernt. Das wäre dann doch eine Bahnfahrt von mehreren Stunden.«

»Also habt ihr euch gekracht«, schloss Marlies daraus und erhob die Aussage von einer Frage zu einer Feststellung.

»Nicht wirklich«, sagte Nicola. »Es ist nur nicht so leicht, mit meiner Mutter auszukommen. Sie hat ihre ganz speziellen Vorstellungen.«

»Die haben alle Mütter.« Marlies grinste fast. »Und da nehme ich mich nicht aus.«

»Ich sehe das ja auch ein.« Nicola ließ ihren Blick kurz an die Decke wandern. »Vermutlich wollen alle Mütter nur das Beste für ihre Kinder. Aber es ist so schwer herauszufinden, was das Beste ist.«

»Da waren deine Mutter und du verschiedener Meinung?«, fragte Marlies.

Nicola nickte. »Es hat sie wohl immer geärgert, dass ich eher mit meinem Vater einer Meinung war als mit ihr. Wir hatten immer hochfliegende Pläne, mein Vater und ich, und meine Mutter fand, wir wären Träumer. Wir sollten uns mehr auf die Realität konzentrieren.«

Sinnend wiegte Marlies den Kopf hin und her. »Es ist immer gut, sich auf Ziele zu konzentrieren, die man auch erreichen kann, das stimmt schon. Erspart einem viele Enttäuschungen.« Sie lachte. »Aber was wäre das Leben ohne Träume? Ohne das Greifen nach den Sternen?« Lässig zuckte sie die Schultern und gab auch gleich die Antwort auf ihre Frage. »Sterbenslangweilig.«

»Ich wollte Abitur machen, studieren«, sagte Nicola. »Aber meine Mutter fand, ich sollte lieber eine Lehre machen. Also habe ich eine Lehre gemacht.« Erneut blickte sie an die Decke. »Mit viel Einsatz habe ich mich trotzdem hochgearbeitet. Ich stand kurz vor einer Beförderung. Aber dann –« Sie brach ab. Daran wollte sie sich wirklich nicht erinnern.

»War das denn dein Traumberuf?« Marlies stand auf und ging zum Fenster, um hinauszuschauen.

»Mein Traumberuf?« Nicola lächelte wehmütig. »Nein, mein Traumberuf war das nicht.«

»Dann ist es ja vielleicht gut, dass du einen Schlussstrich gezogen hast. Dass du in eine andere Stadt gezogen bist und hier neu startest.«

»Ja, vielleicht ist es das«, murmelte Nicola. »Ein neuer Start.«

»Ah, da kommen die beiden Kleinen«, verkündete Marlies von ihrem Ausguck am Fenster her. »Da muss ich jetzt runter und mich ums Mittagessen kümmern.« Sie lachte wieder. »Die fressen mir immer die Haare vom Kopf, wenn sie aus der Schule kommen.« Mütterlich lächelnd kam sie zu Nicola ans Bett zurück. »Ich schaue später noch mal nach dir.«

»Danke, Marlies.« Nicola lächelte ebenfalls leicht. »Das musst du aber nicht. Mir geht es schon besser.«

»Aber nicht gut genug«, beschloss Marlies. »Ich bringe dir nachher etwas vom Mittagessen herauf.«

Nicola wies auf ihren Teller. »Aber ich habe doch gerade erst gegessen.«

»Mal sehen«, sagte Marlies, nahm den Teller und ging zur Diele hinüber. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und lächelte Nicola zuversichtlich an. »Alles wird gut«, sagte sie. »Wenn du wieder ganz gesund bist, sieht die Welt schon anders aus.«

Dann verschwand sie, und gleich darauf hörte Nicola die Wohnungstür ins Schloss fallen.

Eine ganze Weile lag Nicola nur so da, bis sie endlich den Versuch machte aufzustehen. Langsam tastete sie sich an der Wand entlang zur Toilette. Ohne Unterstützung war das immer noch schwierig.

Doch nicht nur deshalb stöhnte sie frustriert auf. Das konnte ja heiter werden, wenn sie den Job, den sie sich gerade erst mühsam erkämpft hatte, gleich wieder verlor. Sie war noch in der Probezeit, also konnte sie von einem Tag auf den anderen gekündigt werden. Es war schwierig genug gewesen, diesen Job zu ergattern, aber sie hatte gehofft, jetzt würde sich langsam mal wieder einiges beruhigen.

Ihre Mutter würde das natürlich als Beweis ansehen, dass Nicola sich jetzt endlich mal dem Kinderkriegen zuwenden sollte, da sie beruflich ja anscheinend höchstens ein Bein auf die Erde kriegte, aber niemals zwei, die ihr Standfestigkeit hätten verleihen können.

Das hätte ja alles sein können. Sie presste die Lippen zusammen. Wenn Chantalle nicht gekommen wäre. Nicola war so kurz davor gewesen, den Job als Einkäuferin zu bekommen, die nächste Stufe auf der Karriereleiter. So klein diese Karriere auch gewesen sein mochte, aber sie hatte hart dafür gearbeitet.

Chantalle. Tally. Klang so nett, die Verkleinerungsform. Aber das war irreführend. Tally war nicht nett. Oder nur so lange, bis sie bekommen hatte, was sie wollte. Und wehe, daran änderte sich etwas.

Das war das letzte Mal, hatte Nicola sich damals gesagt. Das letzte Mal, dass sie auf so eine Frau hereingefallen war. Nie wieder!

Und was ist mit Lian? fragte da etwas Vorwitziges in ihrem Kopf.

Was soll mit Lian sein? Ich kenne sie kaum.

Aber sie gefällt dir.

Darüber wollte Nicola lieber nicht nachdenken. Lian hatte genau diese überwältigende Art, dieses Selbstbewusstsein, dieses amüsierte Lächeln, an das sie sich von Tally noch so gut erinnerte. Wahrscheinlich war es genau diese Überlegenheit, die Nicola anzog. Sie hätte sich gern einmal fallengelassen, nicht immer nur gekämpft, sich in starke Arme gekuschelt und alle Verantwortung abgegeben. Aber wenn man das zuließ, endete es immer nur in einer Katastrophe.

Also ließ sie es nicht mehr zu. Sie hatte sich von Lian zum Abendessen einladen lassen, weil sie . . . nun ja . . . einsam war. Weil die Aufmerksamkeit und angenehme Unterhaltung, die Lian ihr geschenkt hatte, ihr gutgetan hatten. Weil sie das von ihren Sorgen abgelenkt hatte.

Zwar hatte sie sich darauf eingestellt gehabt, Lian zum Schluss noch abwehren zu müssen, aber als das nicht geschehen war, hatte sie sich doch gewundert. Das war definitiv nicht wie Tally.

Lian war deshalb ein Rätsel für sie, und sie hätte wirklich gern gewusst, wer sie war. Darüber hatten sie beim Abendessen nicht gesprochen. Es war, als hätte Lian das Thema mit Absicht vermieden. Sie hatte immer wieder nach Nicolas Lebensumständen gefragt und ihr zugehört, wenn sie davon erzählte, aber ihre eigenen waren im Dunkeln geblieben.

Was beschäftige ich mich überhaupt damit? Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es wehtun würde, hätte Nicola jetzt heftig den Kopf geschüttelt. Ich bin krank, ich verliere vielleicht meinen Job, kann meinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen und muss erst einmal sehen, dass ich das alles auf die Reihe kriege. Lian ist wirklich mein geringstes Problem.

Und verlieben wollte sie sich ja sowieso nie mehr. Das führte zu nichts als Unglück.

Nein, dieses Kapitel war für sie abgeschlossen.

Wechselgeld für einen Kuss

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