Читать книгу Wechselgeld für einen Kuss - Ruth Gogoll - Страница 7

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»Ihr Zucker, Frau Harnoncourt.« Es schien, als hätte Frau Schindler auf der Treppe auf sie gewartet, als Nicola von der Arbeit kam.

Sie lächelte müde. »Das wäre nicht so eilig gewesen.«

»Doch, doch.« Frau Schindler hielt die Tasse in die Höhe, die Nicola ihr gegeben hatte. »So etwas vergisst man leicht, wenn man zu lange wartet.«

Nicola schloss ihre Wohnungstür auf, hatte aber keine Hand mehr frei, die Tasse zu nehmen. Etwas umständlich versuchte sie, die Sachen, die sie trug, neu zu verteilen, da sagte Frau Schindler schon: »Kommen Sie. Ich helfe Ihnen«, nahm ihr eine Tüte ab und marschierte ihr wie selbstverständlich in die Wohnung voraus.

Und wenn ich jetzt nicht aufgeräumt hätte? dachte Nicola noch, aber es war zu spät, um Frau Schindler von irgendetwas abzuhalten, so oder so.

Glücklicherweise hatte Nicola zwar eine chaotische Ader, aber es störte sie, wenn Sachen herumlagen. Vor allem, seit sie nur noch einen einzigen Raum hatte. Das hatte ihren Ordnungssinn sehr beflügelt. Wenn es keine Schlafzimmertür oder Küchentür gab, die man einfach zumachen konnte . . .

Sie war sich sicher, dass Frau Schindler nur ihre Neugier befriedigen wollte. Auf jeden Fall war es klar, warum sie alles, was in diesem Haus vor sich ging, wusste. Sie hatte keinerlei Berührungsängste.

»So«, sagte sie jetzt mit einem so strahlenden Lächeln, als ob sie – im Gegensatz zu Nicola – einen herrlichen Tag gehabt hätte. »Das wär’s.« Sie hatte die Tüte auf dem Boden abgestellt und die Tasse mit dem Zucker nach einiger Überlegung neben die Veilchen, die in der kleinen Vase standen. »Die sind aber hübsch«, sagte sie. »Aus dem Garten?«

Wenn es einen Preis für eine erfolgreiche Überrumpelungstaktik gab, Frau Schindler hätte ihn bekommen. Nicola öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann wieder und erwiderte beim zweiten Versuch: »Ja, von meiner Mutter.« Ihre Mutter hätte sich sehr über diese Aussage gewundert, da sie sich schon seit einiger Zeit nicht gesehen hatten und sie auch gar keinen Garten besaß, aber sie war ja nicht da.

Statt sich wieder zu verabschieden, legte Frau Schindler etwas besorgt den Kopf zur Seite und sah Nicola an. »Sie sehen müde aus. Richtig erschöpft. Haben Sie überhaupt schon gegessen?«

Tatsächlich müde schüttelte Nicola den Kopf. »Nein, aber ich habe noch eine Tiefkühlpizza –«

Weiter kam sie nicht.

»Tiefkühlpizza!« Frau Schindler schlug nicht nur bildlich, sondern gleich richtig die Hände über dem Kopf zusammen. »Das kann man doch nicht essen!«

»Na ja, man kann schon . . .«, setzte Nicola an, aber wieder kam sie nicht weit.

»Nein, nein, nein!« Wild entschlossen schüttelte Frau Schindler den Kopf. Dann warf sie kurz forschend einen Blick auf Nicolas Tüten. »Ist da irgendetwas Gefrorenes drin oder etwas, das in den Kühlschrank muss?«

»Ähm, nein«, antwortete Nicola verwirrt.

»Dann kommen Sie mit zu mir«, beschloss Frau Schindler daraufhin, nahm sie am Arm und schob sie zu ihrer eigenen Wohnungstür hinaus. »Ich habe genug Essen für eine ganze Armee, meine Familie hat mich heute im Stich gelassen, weil mein Mann mit den Kindern zum Sport gegangen ist, und es ist noch so viel vom Abendessen übrig, dass ich Sie schmale Person davon sicherlich satt kriege.« Sie lachte ziemlich zufrieden. Es ging doch nichts über einen gut gefüllten Kühlschrank.

Obwohl Nicola sich darauf gefreut hatte, endlich die Beine hochlegen zu können, hatte sie Frau Schindlers Energie nichts entgegenzusetzen und ließ sich fast willenlos von ihr die Treppe hinunter in die Schindlersche Wohnung schieben.

»Übrigens, ich heiße Marlies«, verkündete sie fröhlich, als sie Nicola am Küchentisch auf einem Stuhl versorgt hatte. »Und wie heißt du?«

Kaum etwas von dem allen hatte Nicola so richtig mitbekommen, und sie war auch viel zu erschöpft, um darüber nachzudenken, dass Frau Schindler sie mit einem eleganten Schwung vom Sie ins Du befördert hatte, also antwortete sie fast mechanisch: »Nicola.«

»Schön, Nicola, dass wir uns mal ein bisschen näher kennenlernen.« Geschäftig holte Marlies Schindler Töpfe aus dem Kühlschrank, stellte sie auf den Herd und schaltete ihn an. Hier in dieser Wohnung, die auf der linken Seite des Treppenhauses lag, gab es mehrere Räume, nicht nur einen. Und selbstverständlich eine separate Küche. Die Einzimmerwohnungen waren alle auf der rechten Seite, wie Nicolas. »Du musst ja einen furchtbar anstrengenden Beruf haben, wenn du so fix und fertig nach Hause kommst.«

»Verkäuferin«, sagte Nicola. »Etwas anderes habe ich so schnell nicht bekommen.«

»Den ganzen Tag auf den Beinen, oh je«, bedauerte Marlies sie sofort. »Willst du die Beine hochlegen?« Sie zog einen zweiten Stuhl zu Nicola heran, wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern griff an ihre Knöchel und platzierte ihre Unterschenkel auf der Sitzfläche des Stuhls. Gleichzeitig schaffte sie es jedoch mühelos, einfach weiterzureden. »Du bist also gar nicht Verkäuferin von Beruf?«

»Doch, schon«, sagte Nicola. »Das habe ich ursprünglich mal gelernt, aber zuletzt habe ich im Büro gearbeitet.« Die Erinnerung daran ließ einen dunklen Schatten über ihr Gesicht huschen.

»Dann trink jetzt erst mal einen Kaffee.« Wie eine fliegende Kellnerin hatte Marlies schon eine Tasse vor Nicola platziert. »Ich trinke immer welchen nach dem Abendessen. Manche Leute können ja nicht schlafen, wenn sie abends noch Kaffee trinken, aber ich schlafe wie ein Murmeltier, selbst wenn ich kurz vor dem Zubettgehen noch Kaffee trinke. Macht mir gar nichts«, verkündete sie strahlend.

Nicola hatte große Probleme, sich überhaupt auf irgendetwas zu konzentrieren. Marlies brachte sie völlig durcheinander. Hatte sie sie jetzt etwas gefragt? Musste sie antworten?

»Milch und Zucker?«, fragte Marlies in diesem Augenblick, als hätte sie Nicolas Gedanken gelesen. »Hab ja wieder welchen.« Sie lachte.

»Milch«, sagte Nicola. »Kein Zucker.«

Und schon stand die Milch neben ihr. »Nimm dir, wie viel du magst«, bot Marlies an, ging wieder zum Herd und kümmerte sich um die Töpfe, in denen sie die Sachen, die sie zuvor im Kühlschrank aufgehoben hatte, nun aufwärmte.

Fast wie ein Roboter goss Nicola Milch in die Tasse, rührte um und nahm einen Schluck. »Puh, stark«, stellte sie fest und setzte die Tasse wieder auf den Unterteller zurück.

»Was nützt es, Kaffee zu trinken, wenn er nicht stark ist?«, lachte Marlies. »Dann ist es doch nur gefärbtes Wasser.«

Nicola nickte müde. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Natürlich habe ich recht.« Daran schien für Marlies kein Zweifel zu bestehen. Ein Teller landete vor Nicolas Nase. »So, musste ja nur aufgewärmt werden.« Endlich setzte Marlies sich Nicola gegenüber. Eine Kaffeetasse hatte bereits auf dem Tisch gestanden. Es sah so aus, als stände sie den ganzen Tag da und würde immer nur nachgefüllt. »Nun iss erst mal. Essen hält Leib und Seele zusammen.« Sie musterte Nicola kritisch. »Und du bist viel zu dünn.«

Gemessen an Marlies Schindlers etwas rundlichen Formen war Nicola das tatsächlich. Aber auch ansonsten. Sie hatte in letzter Zeit sehr abgenommen, obwohl sie noch nie dick gewesen war. Deshalb sah sie jetzt aus wie jemand, der fast schon übertrieben auf seine Figur achtete, auch wenn sie das noch nie getan hatte.

Um zu essen, musste Nicola die Beine zwar wieder von dem Stuhl nehmen, auf dem Marlies sie abgelegt hatte, aber sie merkte, dass selbst diese paar Minuten des Hochlegens ihr gutgetan hatten. Ihre Füße taten nicht mehr so weh. Und obwohl sie das nicht gedacht hätte, hatten die leckeren Düfte, die durch Marlies’ Küche zogen, doch ihren Appetit geweckt. Zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, sie wäre zu müde zum Essen. Wahrscheinlich wäre die Tiefkühlpizza auch heute im Kühlfach geblieben.

Aber nach dem Essen gestern . . . da hatte sie gedacht, sie müsste überhaupt nie wieder essen. Das war sehr üppig gewesen. Viel üppiger, als sie es sonst gewöhnt war. Lian hatte sich nicht lumpen lassen.

Lian . . . Fast hätte Nicola verwirrt den Kopf geschüttelt. Es war gestern Abend wirklich bei dem Essen geblieben. Lian hatte nicht einmal den Versuch gemacht, sie noch einmal zu küssen.

Sie wusste zwar nicht, wie sie darauf reagiert hätte, aber dass Lian sich wie der perfekte Gentleman verabschiedet hatte, ohne auch nur einen Versuch zu starten, noch einmal in Nicolas Wohnung zu kommen, brachte sie völlig aus dem Konzept. Sie hätte sich vorstellen können – und sie hatte sich fast schon darauf vorbereitet gehabt –, Lian einen Vortrag zu halten, dass sie keine Frau war, die mit jeder gleich am ersten Abend ins Bett hüpfte, aber dass das gar nicht nötig gewesen war, hatte sie doch etwas ratlos zurückgelassen.

»Schmeckt’s nicht?«, fragte Marlies auf Hausfrauenart enttäuscht. »Ich weiß, es ist nur Eintopf . . .«

»Nein, nein.« Schnell nahm Nicola den Löffel, den Marlies ihr hingelegt hatte, und begann zu essen. »Sehr lecker«, gab sie gleich darauf das erwartete Urteil ab, aber es stimmte auch. Marlies konnte wirklich gut kochen, sie musste nicht lügen.

»Wenn du das nicht magst, hätte ich auch noch Grießpudding.« Lachend wies Marlies auf den zweiten Topf. »Ich habe viel zu viel gemacht. Irgendwie habe ich es nicht so mit Mengen, obwohl ich das nach all den Jahren ja eigentlich wissen sollte. Ich habe immer Angst, ich kriege meine Rasselbande nicht satt.«

Mittlerweile hatte Nicola die Hälfte ihres Tellers geleert, und es schmeckte ihr immer besser. »Es ist schön, wenn man nach Hause kommt und nicht erst noch kochen muss«, sagte sie lächelnd. »Vor allem nach so einem anstrengenden Tag.«

»Das glaube ich dir.« Marlies schaute sie mitfühlend an. »Die Kunden sind manchmal schlimm, oder?« Sie lachte wieder. »Ich weiß, dass ich manchmal schlimm bin. Es gibt einfach viel zu viele Sachen zur Auswahl. Ich kann mich nie entscheiden. Und alles kaufen kann man ja nicht.«

Marlies brachte Nicola zum Lachen, und dafür war sie ihr genauso dankbar wie für das Essen.

»Na ja, manche können das«, sagte sie immer noch ein wenig lächelnd. »Ich arbeite in einer sehr exklusiven Boutique. Meistens kaufen die Leute da nicht mehr als ein Teil auf einmal. Allerdings gibt es auch welche«, sie seufzte, »die sich da austoben, als wären die Sachen im Sonderangebot auf einem Wühltisch.«

»So viel Geld möchte ich mal haben!« Marlies lachte.

»Ich auch.« Nicolas Gesichtsausdruck wurde etwas starr. »Aber man kann eben nicht alles haben.«

»Stimmt auch wieder.« Marlies sah so aus, als würde sie ernsthaft über dieses Rätsel nachdenken. Aber ein anderes beschäftigte sie anscheinend noch mehr. »War diese große Frau, die gestern die Fassade hochgeklettert ist, eine Kollegin von dir?«

Wenn Nicola nicht so müde gewesen wäre, hätte sie sich schon längst gewundert, wann diese Frage – oder eine andere in der Art – kommen würde. Vielleicht hatte Marlies sie auch hauptsächlich deshalb eingeladen. »Nein«, sagte sie. »Keine Kollegin. Nur eine . . . Bekannte.«

Sie musste wirklich darüber nachdenken. Was war Lian eigentlich? Sie hatten gestern einen richtig schönen Abend miteinander verbracht, wie Lian es versprochen hatte. Aber warum? Was bezweckte Lian damit?

»Na, du hast ja vielleicht Bekannte!«, lachte Marlies. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der einfach so eine Fassade raufklettern kann.«

»Ich auch nicht«, sagte Nicola. »Lian ist –« Sie brach ab.

»Lian?« Marlies runzelte die Stirn. »Ist das ihr Name? Habe ich noch nie gehört.«

Nicola zuckte die Schultern. »Es gibt ja immer so Moden . . . Vielleicht gab es da mal eine Phase. Wie Kevin bei den Jungs.«

»Nein, kann mich nicht erinnern«, sagte Marlies. »Wir haben ja öfter mal nach Kindernamen gesucht. Immerhin habe ich drei.« Sie lachte. »Was ist sie denn von Beruf?«, schoss sie gleich die nächste Frage ab und hob neugierig die Augenbrauen. »Hat das vielleicht irgendwas mit Bergklettern zu tun oder so?«

»So gut kenne ich sie nicht.« Wenn das so weiterging, konnte sie bei jeder Frage nur die Schultern zucken, dachte Nicola.

»Schlecht verdienen kann sie jedenfalls nicht«, meinte Marlies mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck, als ob sie jetzt in Gedanken alle gutbezahlten Berufe durchginge, um einen zu finden, der zu Lian passte. »Der Wagen, den sie fährt, ist nicht ganz billig.«

»Woher weißt du –?« Nicola unterbrach sich selbst. »Ach ja, natürlich.«

»Sie hat dich doch gestern Abend abgeholt«, gab Marlies da auch schon die Antwort. »Zuerst hatte ich ja nicht vorn rausgeguckt, hab sie erst gesehen, als sie hier hochgeklettert ist, aber als sie dann abends wiederkam . . . so schick angezogen . . .«

»Ja, wir sind essen gegangen.« So müde, wie sie war, war Nicola ein leichtes Opfer für so eine Befragung. »Aber ich habe sie erst gestern kennengelernt, und weil ich meinen Schlüssel in der Wohnung liegengelassen hatte, hat sie mir geholfen.« Sie verschwieg, dass das schon das zweite Mal gewesen war gestern, denn sie wollte sich bei Marlies nicht gleich als der Schussel vom Dienst einführen. »Deshalb kenne ich sie nicht besonders gut.«

»Du kannst einen Schlüssel bei mir lassen«, bot Marlies sofort an. »Falls das noch mal passiert. Ist doch immer wieder mal möglich.«

Nicola nickte erschöpft und legte ihren Löffel beiseite, weil ihr Teller nun leer war.

»Noch mehr Suppe?«, fragte Marlies. »Oder Grießpudding?«

»Nein, danke.« Auf einmal hatte Nicola das Gefühl, sie würde gleich vom Stuhl fallen. »Ich glaube, ich muss ins Bett.«

»Jetzt schon?«, fragte Marlies. »Ist es gestern Abend so spät geworden?«

»Gar nicht.« Selbst erstaunt schüttelte Nicola den Kopf. »Ich glaube, ich werde krank. Muss mir irgendwas eingefangen haben.«

Sie versuchte aufzustehen, plumpste aber gleich wieder auf den Stuhl zurück. Dann versuchte sie es ein zweites Mal, indem sie sich auf dem Tisch abstützte, und schaffte es gerade so, mit wackligen Knien stehenzubleiben.

»Das sieht nicht gut aus«, stellte Marlies mit fachkundig mütterlichem Blick fest. »Ich werde dir gleich einen Tee kochen. Aber zuerst mal bringe ich dich zurück.«

Nicola hatte dazu offensichtlich nichts mehr zu sagen, ließ sich willenlos von Marlies in ihre eigene Wohnung bringen und wie ein kleines Kind ins Bett packen.

»Tee kommt gleich!«, verkündete Marlies beim Hinausgehen. Sie hatte sich Nicolas Schlüssel schon geschnappt. »Und ein Wadenwickel könnte auch nicht schaden. Ich glaube, du hast Fieber.«

Das fehlt mir gerade noch, ging es Nicola in einem letzten nebelverhangenen Gedanken durch den Kopf, dann konnte sie gar nichts mehr denken, denn es wurde schwarz um sie.

Wechselgeld für einen Kuss

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