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1.1Die Katharsis als Wirkprinzip des klassischen Psychodramas

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Reifungsprozesse vollziehen sich meist nicht in einem einzigen Schritt. Entsprechend kam auch das Psychodrama erst allmählich zu seiner Blüte. Bildeten die Spiele mit den Kindergruppen in den Parkanlagen Wiens die Saat, sollte es noch eine Weile dauern, bis sie gänzlich aufging. Denn zunächst hatte Moreno etwas anderes im Sinn, als vorrangig zu therapieren.

1921 eröffnete er ein privates Stegreiftheater in einer angemieteten Wohnung im obersten Stockwerk des Hauses Maysedergasse Nr. 2 im 1. Wiener Gemeindebezirk.7 Damit knüpfte er fürs Erste an eine damals in Wien schon lange bestehende Tradition an (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Laut Duden leitet sich »Stegreif« von dem althochdeutschen Wort für Steigbügel ab. »Aus dem Stegreif zu sprechen« bedeutete ursprünglich, das Wort an jemand anderen zu richten, ohne vom Pferd zu steigen. Boten machten dies zuweilen so, wenn sie Nachrichten überbrachten. Traf diese nämlich auf den Unmut der Empfänger, musste man nicht erst wieder aufsitzen, um sich aus dem Staub machen zu können. Seit dem 17. Jahrhundert wird der Ausdruck im übertragenen Sinne dafür verwendet, wenn ohne Vorbereitung oder längeres Nachdenken – quasi aus dem Stand – geredet wird. Entsprechend gibt es im Stegreiftheater auch keine genau vorgegebenen Rollen, sondern die Schauspieler improvisieren das Geschehen auf der Bühne weitgehend frei. Mit der Eröffnung eines eigenen Stegreiftheaters versuchte Moreno, es wieder in seine ursprüngliche Form zu überführen (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Denn dieses hatte im Laufe der Zeit, wie den Ausführungen der Ärztin und Psychodramatikerin Ulrike Fangauf in ihrem 1989 veröffentlichten Buchbeitrag Moreno und das Theater zu entnehmen ist, mehr und mehr an Spontaneität verloren (vgl. Fangauf 1989, S. 97 f.). Das zu ändern, war Moreno seinerzeit offenbar ein Anliegen. Mit der Ausschaltung des geschriebenen Stücks habe er sich, so Fangauf weiter, abermals auf der Grundlage der frühen Stegreifspiele befunden (vgl. Fangauf 1989, S. 98). Aber Moreno wäre nie und nimmer Moreno gewesen, hätte er nur zu einer alten Form zurückfinden wollen, ohne diese radikal weiterzuentwickeln. Nichts Geringeres als die Revolution des Theaters strebte er damals an (vgl. Moreno 1924, S. XIV; vgl. Moreno 1947, pp. 4–7, 51). Jeder – Schauspieler wie Zuschauer – sollte in seinem Stegreiftheater mitspielen, darin Akteur sein können (vgl. Moreno 1947, p. 84).

Moreno war mit dem hehren Vorsatz angetreten, das Stegreiftheater zu revolutionieren. Im Laufe der Zeit musste er allerdings feststellen, dass die Spontaneität und Kreativität der Teilnehmer nicht ausreichte, um eine ästhetisch befriedigende Vorstellung zu geben (vgl. Pörtner 1972, S. 119; vgl. Buer 1989, S. 16; vgl. Fangauf 1989, S. 104). Wie sehr Moreno sich auch bemühte, er konnte das Problem einfach nicht lösen, die ästhetische Qualität seines Stegreifspiels auf ein Niveau zu bringen, das die Anforderungen erfüllte, die an ein Kunstwerk üblicherweise gestellt werden (vgl. Fangauf 1989, S. 104). Doch, wie sagt schon Don Quixote in dem spanischen Roman von Miguel de Cervantes Saavedra? »Wo sich eine Tür schließt, geht eine andere auf.« (vgl. de Cervantes Saavedra 1867, S. 214). Eine Erfahrung, die auch Moreno machte. Denn in seinem Stegreiftheater sei ihm wieder klar geworden, welche therapeutischen Möglichkeiten im Ausspielen, im aktiven und strukturierten Ausleben von seelischen Konfliktsituation en liegen (vgl. Moreno 1988, S. 14) – etwas, das ihn schon die Kinderspiele in den Parkanlagen Wiens gelehrt hatten. Und das kam so oder – besser gesagt – durch sie …

Die Rede ist von Barbara, einer herausragenden Schauspielerin in seinem Stegreiftheater. Wie Moreno selbst berichtet (vgl. Moreno, 1946a, pp. 3–5; vgl. Moreno 1988, S. 14 f.), habe sie dort mit Vorliebe die Rolle der Unschuldigen, Heldin oder Geliebten verkörpert. Georg, ein junger Poet und Stückeschreiber, sei einer ihrer glühendsten Verehrer gewesen. Stets habe er bei ihren Aufführung en in der ersten Reihe gesessen. Beide hätten sich ineinander verliebt und geheiratet. Sie sei danach auch weiterhin die Hauptdarsteller in und er sozusagen der Hauptzuschauer von Morenos Stegreiftheater geblieben. Eines Tages habe sich Georg an ihn gewandt und ihm sein Leid geklagt. Er könne es einfach nicht mehr ertragen. Seine Frau, dieses süße, engelgleiche Wesen, das sie alle bewunderten, verhielte sich wie eine teuflische Kreatur, wenn sie mit ihm allein sei. Sie sage dann sehr Beleidigendes und wenn er daraufhin ärgerlich werde, schlage sie sogar mit ihren Fäusten auf ihn ein. Moreno habe daraufhin angeboten, dass er versuchen wolle, ihrem Problem Abhilfe zu schaffen. Sie sollten nur weiter, wie gewöhnlich, in sein Theater kommen. Als Barbara das nächste Mal wieder eine ihrer üblichen Rollen habe spielen wollen, sei sie von ihm gestoppt worden. Er habe ihr erklärt, dass sie zwar bisher ganz fabelhaft gewesen sei. Nun aber befürchte er, ihr Spiel könne fade werden. Sie dürfe sich nicht zu einseitig auf die Rolle verehrungswürdiger Frauengestalten festlegen. Die Zuschauer würden sie auch gern in Rollen sehen, in denen sie Menschen verkörpere, die schlimmer seien als sie selbst, die ihnen den Schmutz, die Rohheit der menschlichen Natur, ihre Obszönität, Dummheit und zynische Realität nahebrächten. Und er habe sie gefragt, ob sie versuchen wolle, solche Rollen zu spielen. Begeistert habe sie seinen Vorschlag aufgegriffen. Noch am selben Abend sei sie in die Rolle einer Straßendirne geschlüpft. Darin habe sie agiert, wie niemand es bis dahin von ihr erwartet hätte. Sie habe höllische Flüche ausgestoßen, ihr Gegenüber sogar wiederholt körperlich attackiert. Das wiederum sei daraufhin wild geworden, habe sie mit einem Messer über die Bühne gejagt und schließlich (im Spiel) ermordet. Fasziniert habe das Publikum die Geschehnisse miterlebt. Das Spiel sei ein großer Erfolg gewesen. Im Anschluss habe sich Barbara überschäumend vor Freude gezeigt. Sie und Georg seien begeistert nach Hause gegangen. Von da an sei sie vorzugsweise in derartigen Rollen aufgetreten. Sie habe rachsüchtige Ehefrauen, boshafte Geliebte, Barmädchen und Gangsterbräute verkörpert. Georg sei sofort klar gewesen, dass es sich hierbei um eine Art Therapie gehandelt habe. Täglich sei er zu ihm gekommen, um Bericht zu erstatten. Nach einigen Abenden habe er eine Veränderung feststellen können. Irgendetwas sei mit Barbara passiert. Sie bekomme zwar noch immer ihre Zorn ausbrüche, aber sie hätten an Intensität verloren. Sie seien auch von kürzerer Dauer, und manchmal beginne sie plötzlich zu lächeln, weil sie sich selbst an ähnliche Szenen erinnere, die sie auf der Bühne spiele. Und auch er lache mit ihr aus dem gleichen Grund. Es sei, als ob sie einander in einem psychologischen Spiegel sähen. Manchmal beginne sie sogar schon zu lachen, bevor sie ihren Anfall bekomme, weil sie genau wisse, wie es sich abspielen werde. Sie steigere sich zwar unter Umständen doch noch hinein, aber in viel schwächerer Form als früher.

Der Fall Barbara hatte Moreno erneut klargemacht, welche therapeutischen Möglichkeiten im Ausspielen, im aktiven und strukturierten Ausleben von seelischen Konfliktsituation en liegen. Denn was war geschehen? Moreno erklärt es selbst, indem er in seiner Fallschilderung unmittelbar fortfährt, dass es wie eine Katharsis gewesen sei (vgl. Moreno 1988, S. 15). Da ist sie wieder – die Katharsis. Rückblickend hatte Moreno sie schon als Wirkung seiner Spiele mit Kindern in den Gärten und Parkanlagen Wiens erkannt. Hier aber wird nun deutlich, was er unter ihr verstanden hat. Auf der Bühne des Stegreiftheaters konnte Barbara ihre seelischen Konfliktsituation en ausleben. Infolgedessen nahmen Intensität und Dauer ihrer Zornausbrüche ab.

Damit scheint Morenos Katharsis das gewesen zu sein, was damals auch zwei Wiener Ärzte unter ihr verstanden hatten. Zumindest einen von ihnen kannte er persönlich. Denn während seines Medizinstudiums hatte er dessen Vorlesung in Wien gehört.8 Sein Name war Sigmund Freud …

Hypnodrama in der Praxis

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