Читать книгу Fußball Athletiktraining - Ryan Alexander - Страница 8
Kapitel 1 Körperliche Beanspruchung im Fußball
ОглавлениеStell dir folgende Situation vor: Du stehst als Außenbahnspieler im WMFinale, vor Zehntausenden Fans im Stadion und Millionen TV-Zuschauern. Es ist die 88. Spielminute, und du hast annähernd zehn Kilometer Laufstrecke hinter dir. Die Partie steht 0:0 unentschieden. Der Gegner hat einen Eckstoß herausgeholt. Du trabst zur Verteidigung des Freistoßes in den eigenen Strafraum zurück. Während des Auslaufens checkst du die Lage dort ab. Zwei gegnerische Verteidiger in der Nähe des Anstoßkreises und zwei weitere im oberen Teil des Strafraums stehen zum Abfangen eines Konters bereit. Deine Mannschaftskameraden teilen sich auf: Eine Viererkette im Strafraum vor dem Tor zur Zonenverteidigung, wobei die Abstände zwischen den Spielern etwa der Torbreite entsprechen. Drei groß gewachsene Teamkameraden, zwei aus der Innenverteidigung und einer aus der Offensive, rangeln als Manndecker mit den Offensivspielern des Gegners um die beste Position. Ein weiterer Mannschaftskamerad postiert sich außen knapp an der Strafraumgrenze, um einen Schussversuch aufs kurze Eck zu blockieren. Du sollst den Teamkollegen direkt am Pfosten bei der Abwehr von Bällen aufs kurze Eck oder schnell von außen ausgeführten Freistößen unterstützen. Der Gegner strebt einen Aufschlag des Balls im Strafraum an, denn der ausführende Spieler tritt ein paar Schritte zurück und hebt als Signal an seine Mitspieler eine Hand. Abgestützt am Pfosten und mit den Fersen auf der Torlinie stehend, beobachtest du die Szene.
Ein Blick zur Ecke. Der gegnerische Spieler wird gleich den Eckstoß ausführen. Die erhobene Hand fällt, und du siehst, wie sich deine drei zur Manndeckung abgestellten Mitspieler auf engstem Raum engagieren, um die gegnerischen Angreifer vom Tor fernzuhalten. Die beiden Gegner im oberen Teil des Strafraums wirken desinteressiert, bis der äußere Spieler plötzlich zum unbesetzten Bereich auf der gegenüberliegenden Seite sprintet. Vor dem Tor wartet die Viererkette gespannt, woher der Ball kommen wird. Dein Torwart ruft noch schnell Anweisungen. Dein Blick ist auf die Ecke gerichtet, um die Flugbahn des Balls zu verfolgen. Der Schuss zielt auf die gegenüberliegende Seite des Strafraums, auf einen Punkt jenseits der Höhe des langen Torecks. Die Spieler der Viererkette, die bisher zur Ecke ausgerichtet standen, wenden sich nahezu im Gleichschritt zur Feldseite um und laufen an. Die Manndecker kämpfen zäh weiter darum, ihre Stellung zwischen dem Gegner und dem Tor, das du mit verteidigst, zu halten. Der Gegenspieler am anderen Ende des Strafraums ist nach seinem Seitenwechsel bereit zur Ballannahme.
Plötzlich ist es still. Deine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf das unmittelbare Umfeld, während du dich seitlich vom Pfosten wegbewegst, doch stets nah an der Linie. Ein Mitspieler nahe am voraussichtlichen Aufschlagspunkt des Balls wendet sich mit einer Beckendrehung rasch dem gegnerischen Spieler zu, der den Ball annehmen wird. Er läuft los, um ihm den Schusswinkel zu verstellen, noch ehe der Ball nach der kontrollierten Annahme mit der Brust auf dem Rasen landet. Dein Torwart steht nun einsatzbereit, mit angewinkelten Knien und gesenktem Becken, die Hände vor dem Körper etwas außerhalb des Kastens vorgestreckt. Einen Sekundenbruchteil später bemerkst du, dass auch der zweite der beiden Gegner, die sich ursprünglich oben im Strafraum postiert hatten, unbehindert in Richtung des Torraums vor den von dir verteidigten Pfosten läuft. Deine Mitspieler, die den Bereich vor dem Tor zonenweise decken, haben sich zu sehr auf den langen Ball zur anderen Seite des Strafraums konzentriert. Die Manndecker stehen derzeit zu zentral, und die gegnerische Offensive schirmt sie geschickt von jener Stelle ab, die ihr Mannschaftskamerad gerade unbehindert anläuft. Solche Spielzüge kennst du aus der Taktikbesprechung und du reagierst. Der gegnerische Spieler, der den Ball angenommen hat, lässt den Ball einmal aufprallen und wird gleich zum Schuss ausholen. Einer deiner Mitspieler macht einen Ausfallschritt, um einen Abschluss zu verhindern. Der Gegner schlenzt im letzten Moment einen Flugball vor den aus seiner Sicht hinteren Torpfosten, direkt in den Laufweg des unbehindert heraneilenden gegnerischen Spielers.
Du startest von der Linie und hast den Ball im Blick, mit einer Ahnung, wo er landen wird. Der gegnerische Spieler verlangsamt seinen Lauf, um den ankommenden Ball perfekt getimt mit einem einzigen Schuss volley Richtung Tor zu befördern. Alle deine Mitspieler versuchen, ihre Laufrichtung zu korrigieren, aber sie werden auf jeden Fall zu spät kommen. Du hast den Torraum verlassen und hältst deine Schultern so, dass du der Flugbahn des Balls folgen kannst, während dein Becken horizontal auf den Punkt ausgerichtet ist, den der gegnerische Spieler anläuft. Dein Timing ist genau richtig. Während du den Schwung in der ursprünglichen Richtung beibehältst, drehst du deine Brust. Noch eine Schrittlänge, dann vollziehen deine Füße und dein Becken die Wende in einer gemeinsamen Bewegung mit. Du verlagerst dein Gewicht auf die Fußballen und springst so hoch wie möglich, um den Ball mit dem Kopf zu treffen. Wenn dir das gelingt, ist die Gefahr gebannt. Einer deiner Mannschaftskameraden kann den geköpften Ball in der Zone außerhalb des Strafraums annehmen, die der Gegner durch seinen Spielzug entblößt hat.
Beim Landen registrierst du, dass noch jemand von deinem Team den Strafraum verlässt und in Richtung Mittelfeld sprintet, um den von Anfang an dort postierten Mitspieler zu verstärken, der während der ganzen Aktion die beiden dort wartenden gegnerischen Abwehrspieler beobachtet hat. Jetzt liegt eine 2-gegen-2-Situation vor. Der Schwung deiner Aktion hat dich aus dem Strafraum getragen, und mit einem raschen Schulterblick erkennst du, dass du von allen auf dem Feld deinen beiden Mitspielern am nächsten bist. Jetzt ist ein 3-gegen-2 drin. Bis zum Mittelkreis ist alles frei. Dafür hast du trainiert, darauf haben dich deine Trainer vorbereitet. In solchen Momenten übernimmst du Verantwortung und wirst den athletischen Anforderungen des Spiels gerecht. Jetzt musst du fit genug sein, um den Lauf zu machen und die Gelegenheit zu ergreifen. Mit gesenktem Kopf sprintest du los, um deine Teamkameraden zu unterstützen, die den Ball bereits in die gegnerische Hälfte treiben.
Dieses extreme Beispiel besteht aus einer in ihre Einzelteile zerlegten Abfolge von Ereignissen, die die vielfältigen Herausforderungen während eines Fußballspiels illustriert. In diesem Buch kommt es uns auf genau solche Herausforderungen an. Ihnen müssen sich Trainer und Spieler im modernen Fußball bei der Jagd nach dem ultimativen Erfolg stellen, wenn es um die physische Vorbereitung auf Training und Wettkampf geht. »Wie trainiert man Fußballspieler am besten?« Würde man als Neuling im Profifußball hundert in einem Raum versammelten ehemaligen und aktiven Trainern und Spielern diese Frage stellen, kämen ganz sicher hundert individuelle Lösungsvorschläge heraus, jeweils beeinflusst von der Erfahrung, Kultur und Ausbildung jeder einzelnen Persönlichkeit.
Es gibt keinen Königsweg zur richtigen Methodik oder Philosophie für Fußballtrainer oder -spieler. Manche Profis befürworten ein traditionelles Konditionstraining ohne Ball, losgelöst vom eigentlichen Fußballtraining. Das beinhaltet lange Läufe mit mäßigem Tempo plus einer einzelnen Belastungsspitze oder hochintensives Intervalltraining mit einem Wechsel aus progressiver Belastung und Regenerationsphasen. Diese Philosophie kann auf jahrzehntelange Erfolge in Lateinamerika und bei traditionsreichen Vereinen in Westeuropa zurückblicken. Wieder andere beziehen den Ball umfassend in ihr Training ein, weil sie die spielerischen Fähigkeiten parallel zur körperlichen Entwicklung durch Wettkämpfe auf dem Kleinfeld und andere simulierte Spielsituationen einüben wollen. Das ist der »Totale Fußball« der Niederländer, mit bekannten Erfolgen auf Vereins- und internationaler Ebene. Wir wollen die beiden Philosophien nicht wertend einander gegenüberstellen. Unsere Absicht ist es, die Grundlage für ein strukturiertes Verständnis einer Vielzahl von Trainingsphilosophien zu schaffen, damit Spieler und Trainer selbst entscheiden können, was zu ihrem Wissensstand und der Kultur ihrer Mannschaft passt.
Im Hinblick darauf gibt es nur einen Ansatzpunkt für das Training mit Fußballern. Dieses Kapitel skizziert den aktuellen Stand der körperlichen Beanspruchung im Spiel anhand der verfügbaren Literatur und schafft damit die Voraussetzungen für das Verständnis der Programme und Übungen, die wir vorschlagen werden.
Im Allgemeinen setzt sich ein Fußballspiel aus abwechselnden Aktivitätsphasen mit ungleicher Belastung zusammen, verteilt auf etwa 90 Spielminuten. Der Großteil der Spielzeit vergeht mit Gehen, Traben oder Stehen bei niedriger Belastungsintensität, ungleichmäßig zwischen technischen Aktionen wie Pässen, Dribblings, Schüssen und Kopfbällen vorkommend. Die kritischen Momente, wie beschleunigtes Absetzen vom Gegner, um ein Tor zu erzielen, oder Blocken des Gegners, um einen Angriff zu verhindern oder abzuwehren, führen zum Erfolg in einem Spiel. Diese herausragenden Momente werden als Aktionen mit hoher Intensität bezeichnet, die etwa 10 bis 15 Prozent der absolvierten körperlichen Belastung ausmachen (Bradley et al. 2009): Beschleunigen, Abbremsen, Sprints, Richtungswechsel, Sprünge und andere explosive Aktionen, in denen Spieler schlagartig Kraft einsetzen müssen. Abhängig von der Position der Spieler auf dem Spielfeld wechseln die Anforderungen all dieser hochintensiven Aktionen über die gesamte Spieldauer und bestimmen die physiologische Belastung in einem Fußballspiel.
Die vorherrschende Rolle des Fußballs im Sport eröffnet der akademischen Forschung viele Betätigungsfelder, um die verschiedenen Aspekte sportlicher Leistung zu untersuchen. Diese Entwicklung ist für Trainer von Vorteil, stellt sie aber auch vor große Herausforderungen: Körperliche Anstrengung im Fußball weiterhin nach subjektiven Kriterien zu bewerten und zu beurteilen, reicht nicht mehr aus. Um Trainingsmethoden und Abläufe auf dem Weg zur optimalen körperlichen Vorbereitung zu verstehen, müssen wir ein grundlegendes Verständnis für die physiologischen Anforderungen entwickeln, auf die sich Athleten vor einem Wettkampf vorbereiten müssen.
Es gibt weder ein einheitliches Messsystem noch objektive Daten, um die körperlichen Anforderungen im Fußball auf jedem Spielniveau und obendrein geschlechtergerecht abzubilden. Diese Erkenntnis ist bei der Vorbereitung auf das Training von Fußballern aller Spielklassen von zentraler Bedeutung. Es bestehen signifikante Unterschiede bei den athletischen Anforderungen des Spiels, je nach Herkunftsregion, Spielstil, Position, Spielklasse und Geschlecht. Diese Unterschiede bestimmen darüber, welche Trainingsmethoden angemessen umgesetzt werden können. Wie sonst könnten wir einschätzen, ob unsere Vorgehensweise die physische Vorbereitung unterstützt, statt sie zu behindern?
Fußballspieler werden bereits so lange gecoacht, wie es offizielle Wettbewerbe gibt. Wo unsere Bemühungen im Spektrum körperlicher Vorbereitung auch angesiedelt sein mögen: Je umfassender unsere Kenntnisse des Wettbewerbs sind, auf den wir uns vorbereiten, desto wirksamer ist unsere Arbeit. Deshalb möchte ich zu Beginn zeigen, wie weit unser Verständnis von den körperlichen Anforderungen beim Fußball inzwischen gediehen ist.