Читать книгу Menschenseelen - S. N. Stone - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеJenna Drescher verließ völlig übermüdet das Institut. Sie hatte fast 36 Stunden ununterbrochen gearbeitet, ebenso wie ihre drei Kollegen, die sogar jetzt noch im Labor saßen.
Es war dunkel und die Beleuchtung an der Hintertür, durch die sie gerade ins Freie getreten war, funktionierte wieder einmal nicht. Sie fröstelte und zog sich ihre Jacke enger um den Körper, dann ging sie schnellen Schrittes durch das Tor zum Parkplatz, auf dem ihr Auto stand. Gedankenverloren holte sie den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Türschloss des alten, dunkelblauen 3er BMW. Ein heißes Bad, ein wenig Jazz, ein gutes Glas Rotwein und dann eine Mütze voll Schlaf, das war es, was sie brauchte, um die vielen Stunden Arbeit aus ihren Knochen zu vertreiben. Jen warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein.
Morgen musste sie unbedingt ihre Mutter anrufen, sie hatte ihr schon fünf Nachrichten auf dem Handy hinterlassen, aber Jen war nicht dazu gekommen, sie zurückzurufen. Sie schloss die Tür, steckte den Schlüssel in das Zündschloss und drehte ihn. Der Wagen sprang zögernd an. Sie schaltete das Licht ein. Selbst ihre Schwester hatte schon eine Nachricht geschickt, mit der Bitte sie solle sich doch endlich mal melden und mit ihr teilte sie sich sogar eine Wohnung. Jen löste die Handbremse, legte den Gang ein und gab langsam Gas. Morgen, wenn sie ausgeschlafen hatte, würde sie sich mit allen unterhalten.
Abrupt stieg sie auf die Bremse und der Wagen kam mit einem Ächzen, ruckartig zum Stehen. Oh Gott! Da stand ein Mann genau vor der Stoßstange ihres Autos! Im Scheinwerferlicht erkannte sie ein blasses Gesicht und für einen kurzen Augenblick schien sie in seinen Augen den Schmerz der Welt zu sehen. Sie hatte ihn angefahren! Jenna ging von der Kupplung und der Motor erstarb, sie hatte ihn abgewürgt. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. Sie schluckte schwer. Zitternd öffnete sie die Tür.
„Ach du meine Güte“, stammelt sie, während sie ausstieg, „es tut mir so leid, ich habe Sie nicht gesehen.“
Jenna ging auf wackligen Beinen zur Front ihres Fahrzeuges.
„Es tut mir so leid, ich hoffe Ihnen ...“
Der Mann stand in einem zerfetzten T-Shirt und Jeans vor ihr, keine Jacke, kein Mantel. In all dem Chaos, das in Jennas Gehirn herrschte, wunderte sie sich darüber. Es war Ende September und es war kühl, was veranlasste diesen Mann dazu hier, mit blutverschmiertem Shirt ohne Jacke vor ihr Auto zu laufen? Sie befand sich nun vor ihm und genau in diesem Moment brach er zusammen.
„Warum hast du nicht die Polizei gerufen?“, fragte Lukas ihr Humangenetiker, als er den Körper des bewusstlosen Mannes ächzend auf das Sofa im Aufenthaltsraum legte.
Jennas Stimme zitterte, als sie antwortete.
„Wenn ich nun Schuld an seinem Zustand bin?“
„Dann hättest du es erst recht machen müssen“, schimpfte er und besah sich den Mann. „Aber ich glaube, dass du das wohl kaum warst.“
Er hatte das Shirt, oder besser das, was davon noch übrig war, hochgeschoben und besah sich den Oberkörper.
„Ich werde Matti holen, der soll sich das ansehen.“
Lukas erhob sich und ging, dabei drehte er sich noch einmal um und runzelte die Stirn.
Während sie auf das älteste Mitglied ihres Teams wartete, Dr. Matthias Secher, Pathophysiologe, musterte Jenna den Mann: Etwa 1,85 m groß, schlank, gut durchtrainiert, perfekter Körperbau, perfekte Proportionen. Ihr Blick wanderte hoch zu seinem Gesicht. Er hatte Blutergüsse und eine Platzwunde und trotzdem: symmetrisch, feine Züge, perfekte Lippen, gerade Nase, die Augen geschlossen, aber alles im perfekten Abstand zueinander. Er hatte dunkle Haare, die Seiten ganz kurz, das Deckhaar etwas länger und feucht von Blut. Der Mann entsprach dem Idealbild. Lediglich sein schwer gehender Atem, das Blut und die Wunden und Blutergüsse zeugten davon, dass hier etwas nicht perfekt war.
Jenna schüttelte sich. Die Analyse kam ihr in dieser Situation selbst unangebracht vor, berufsgeschädigt, eindeutig!
Sven Schulte, Lukas Bruder und ihr Computergenie, kam herein und stellte sich mit verschränkten Armen neben sie und betrachtete den Mann.
„Na dem hast du ja ganz schön zugesetzt“, bemerkte er.
Bevor sie ihm sagen konnte, dass dies sicher nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Sprüche war, kam Lukas in Begleitung von Matti zurück. Ohne sich weiter um die anderen zu kümmern, hockt der sich neben den Verletzten und holte eine Schere aus der Tasche seines Kittels heraus. Er schnitt die Überreste des Shirts auf und zog sie beiseite. Dann verharrte er einen Augenblick.
„Jenna“, er griff hoch an ihren Ärmel und zog sie zu sich herunter, „sieh dir das an.“
Er deutete auf den Oberkörper. Jenna folgte mit ihrem Blick seiner Geste. Ach du liebe Güte! Er hatte tiefe Schnittwunden, violette Blutergüsse überall und dann zeigte Matti auf die linke Schulter des Mannes. Jen spürte Svens Atem in ihrem Nacken, auch er hatte sich heruntergebeugt.
„Was hat man mit ihm gemacht?“, fragte er schockiert.
„Ich denke da wollte ihm jemand richtig wehtun, sieht aus wie eine Brandverletzung“, antwortete Matti.
Obwohl Jenna aufgrund ihres Jobs schon ziemlich viel gesehen hatte, verspürte sie bei dem Anblick ein unangenehmes Ziehen in ihrem Unterleib.
„Könnte es ein Unfall gewesen sein?“, fragte sie.
Matti zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, aber er muss unbedingt in ein Krankenhaus, hier krepiert er uns. Die Wunden müssen versorgt werden.“
Anstatt einen Notarztwagen zu rufen, hatten sie den Mann in das Auto der Brüder verfrachtet und waren zur Notaufnahme gefahren. Dort hatte man sich umgehend dem Schwerverletzten angenommen und die Polizei benachrichtigt. Lukas, Sven und sie selbst waren befragt worden.
Nun saß sie ganz alleine hier im Wartebereich. Die Polizei war wieder weg und sie hatte die Brüder nach Hause geschickt und auch sie hätte jetzt besser in ihrer Wohnung sein sollen. Aber irgendwie war Jen nicht in der Lage. Sie wollte in der Nähe des Mannes bleiben.
Eine weitere Stunde verging, in der nichts geschah. Die Müdigkeit, die sie aufgrund der ganzen Aufregung vergessen hatte, kehrte zurück. Jenna saß auf einer dieser Plastikbänke und ihre Glieder waren so schwer. Nun gut, sie würde sich ein Taxi nehmen und endlich heimfahren. Morgen würde sie zurückkommen und hoffen, dass man ihr Auskunft gab.
„Mein Gott wo warst du denn, warum hast du dich nicht gemeldet?“, wurde sie von ihrer Schwester begrüßt, die im Nachthemd und mit zerzausten Haaren die Tür aufgerissen hatte, noch bevor Jenna den Schlüssel hatte abziehen können.
„Hast du die ganze Zeit gearbeitet? Warum hast du nicht einmal angerufen? Ich habe mir Sorgen gemacht!“, schimpfte sie weiter, als Jen sich Jacke und Schuhe auszog.
„Ich muss ins Bett“, antwortete sie nur und ließ Laura mit offenem Mund stehen.